Sommer enden

©Barbara Hofer-Kröner

Sommer enden

Nie werde ich das Schauspiel vergessen, dass der Vertreibung des Jungtieres vorausging. Es war schon später Vormittag und es war mir noch nicht gelungen mich dem Alltagsgeschehen zu stellen, jenem Trott, dem ich so gerne zu entrinnen suchte. In eher nutzlose Gedanken versunken, vernahm ich vertraute Töne. Schreie und grelle Pfiffe. Ich lief hinaus und beobachtete den Himmel. Es dauerte eine Weile, bis ich in ungewöhnlicher Flughöhe den ersten Adler entdeckte. Bald darauf sah ich das zweite, schliesslich das dritte Tier. Ich beobachtete das seltsam aufgeregt erscheinende Treiben. Sie kreisten, überwanden enorme Höhenunterschiede, entfernten sich voneinander, flogen aufeinander zu. Während sich das Weibchen ein wenig vom Geschehen entfernte, verfolgte das Männchen das Jungtier, ohne jedoch gefährlich nahe zu kommen. Das ging so eine Weile, bis sich der Verfolgte im Gehölz eines absterbenden Baumes niederliess. Die Alten umkreisten den Baum lange, stiessen schrille Pfiffe aus und flogen schliesslich davon.

Wie oft schon hatte ich diese Tiere gemeinsam fliegen sehen? Ein wenig gedankenverloren betrachtete ich die sonnenbeschienenen Berge und Wälder. Trotz dunkelblauen Himmels und nahezu hochsommerlicher Temperatur wusste ich, dass dies das Ende des Sommers war. Die Farben hatten sich kaum merklich verändert. Die Sonnenstrahlen verliehen der Landschaft einen leicht rötlichbraunen Schimmer. Das war der Tag, an dem der junge Adler den elterlichen Horst, das vertraute Revier verliess. Ich sah nicht, wie er seine Schwingen ausbreitete, sah nur die verlassenen Zweige im dürren Geäst des sterbenden Baumes.

Schon einmal hatte ich das Ende eines Sommers so klar und so deutlich gespürt. Wir fuhren in den frühen Morgenstunden los. Aus den Bergen in die Stadt. Es versprach warm zu werden an diesem Tag und so wählte ich leichte, sommerliche Kleidung, nahm auch weiter nichts Wärmendes mit, zumal die Zeit drängte. Als wir ihr Zimmer betraten war mir nicht bewusst, dass ein Abschied bevorstand. Sie sprach, erkannte uns alle, wechselte mühelos ins Französische, wenn sie das Wort an ihre Freundin richtete. Und dann war da ja noch der Wille. So ungeheuer stark. Von den Unsicherheiten erfuhr ich erst später. Ich musste ein wenig lächeln, als die Schwestern uns baten, ihre Lippen mit Wein zu benetzen, jenem Wein, den sie so gerne in Maßen genoss. Es dauerte lange, bis ich das rührende Ansinnen der Schwestern verstand. Langsam, ganz langsam begriff ich, dass sie stirbt.

Es wird Abend. Sie kämpft. Ein Kampf, den wir nicht mitkämpfen können, wir können nur beistehen. Da ist auch noch das Kind. Das kam, ganz anders als ich, um Abschied zu nehmen. Das Kind, das schon vor Tagen sagte: „Die Nana stirbt.“ Sitzt vor der Türe seit Stunden, weiss, was passieren wird. Und ist so ruhig und verständig. Wir beschliessen, dass ich die Nacht bleibe. Das Kind nimmt Abschied. Sehr bewusst.

Wir fahren in die Stadt, anders als in den Bergen ist es in der Stadt auch noch am Abend warm. Die Menschen bummeln durch die Gassen, geniessen dies sichtlich. Wir sitzen draussen, essen in der Abendsonne. Ein originelles Lokal. Fast will Urlaubsstimmung aufkommen. Unwirklich erscheint mir dieser Spätsommerabend in der Stadt. Flüchtig streift mich der Gedanke: Für einen solchen Abend hätte ich andere Kleider gewählt.

Eine halbe Stunde später sitze ich am Bett der Sterbenden. Ein zusätzliches Bett lehne ich ab, denn ich will wachen in dieser Nacht. Es ist still geworden im Haus. Die Türe zum Gang ist geschlossen und so ist das einzig vernehmbare Geräusch ihr Atmen. Dieses Atmen kommt, stockt, setzt aus, setzt wieder ein. Die Zeit vergeht unendlich langsam. Sie wacht auf, lächelt. Der Kampf geht weiter. Einmal sagt sie: „Aufhören können, einfach aufhören können“. Ich verlasse kurz den Raum. Sie lächelt noch einmal. Dann verliert sie das Bewusstsein und kämpft weiter und ich höre wieder auf das Atmen, halte ihre Stirne, ihre Hand. Irgendwann merke ich, dass es an mir ist, loszulassen. Ich setze mich in einen Sessel und schaue einfach so auf den Boden. Denke wohl nichts. Ein paar Minuten vielleicht. Höchstens. Ich nehme die Stille um mich herum wahr, eine friedvolle Stille, die nur noch von meinen eigenen Atemzügen durchbrochen wird.

Ich bleibe noch eine Weile, trinke ein Bier auf dem Gang und stelle überrascht fest, dass dieses Sterben mich an die Geburt meiner Kinder erinnert. Während ich auf ein Taxi warte, atme ich tief durch und mit jedem Atemzug spüre ich Leben in mir. Ich schaue mich verwundert um. In dieser Nacht tobt ein Sturm über der Stadt. Nichts mehr erinnert an den spätsommerlichen Abend. Blätter wirbeln durch die Luft. Viele Blätter, denn es ist ein heftiger Sturm. Ich friere nicht. Aber ich spüre: Dieser Sommer ist vorüber, unwiederbringlich vorbei.


© Barbara Hofer-Kröner, Schweiz 2009
 
21.1.1961 - 23.1.2022

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