Prag(ue)
Kleinseitner Friedhof, Prag
Der zweitälteste Friedhof der Stadt Prag - namens - "Kleinseitner" liegt in Smíchov (Prag 5). Er wurde - um 1680 - während der großen Pestepidemie angelegt. Während der in den Jahren 1713, 1714 folgenden Pestepidemie, wurde - anstatt der ursprünglichen kleine Spitalskapelle - eine neue Kapelle der Heiligen Dreifaltigkeit gewidmet. 1724 wurde die Kapelle zur Friedhofskirche umgebaut, wohl nach dem Plan von Kilian Ignaz Dientzenhofer aus dem Jahr 1723.
Unter Kaiser Josef II. wurde in der ganzen Monarchie die Bestattung in Kirchen und in zentral gelegenen Friedhöfen verboten, letztere wurden an den Stadtrand verlegt. 1786 wurde der Kleinseitner Friedhof als Begräbnisstätte für die am linken Moldau-Ufer gelegenen Stadtteile: Kleinseite, Hradschin, Prager Burg, Smíchov und Košiř eingeweiht. Damals lag dieses Areal außerhalb der Stadt Prag: es bestand aus Feldern, Weinbergen und Weingütern wie jenen der Familien Betramka oder Klamovka.
Die Vorstadt Smíchov mit bedeutenden Industriebetrieben wie Porghes-Textilien und Ringhoffer-Waggonproduktion entwickelte sich zu einem Wirtschaftsstandort. Bedingt durch den Bevölkerungszuwachs wurde 1862 das Friedhofsareal erweitert. Die wachsende Vorstadt grenzte unmittelbar an den Friedhof an, der 1885 geschlossen wurde. Zukünftig diente der Friedhof Malvazinky als Begräbnisstätte.
1910 sah ein neuer Stadt-Erschließungsplan die Liquidierung des geschlossenen Friedhofs vor. Der damals neu gegründete Klub "Altes Prag" unterstützt von Persönlichkeiten aus der tschechischen Kulturszene (darunter die Schriftsteller Jakub Arbes, Alois Jirásek und der Maler Max Švabinský) retteten das Bestehen des Friedhofs.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die viel befahrene Pilsner-Straße erweitert. Die Gräber an der Nordseite des Friedhofs wurden aufgelöst, teilweise wurden Tote exhumiert und an anderer Stelle begraben. Vor und im Zweiten Weltkrieg galt der Friedhof als Symbol der tschechischen Kultur im 19. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sein Weiterbestehen wiederum in Frage gestellt. Erneut gelang es durch Bürgerengagement den verbliebenen Teil des Friedhofs unter Denkmalschutz zu stellen. Von 1951 - 1953, während einer weiteren Erweiterung der Pilsner-Straße, wurden die Toten im Nordteil des Friedhofs exhuminiert. Kunsthistorisch wertvolle Denkmäler wurden abgetragen und in der Nähe des Denkmals von Leopold Leonhard Thun-Hohenstein errichtet. Im Mozartjahr 1956 hat man an der Südseite des Friedhofs ein Denkmal für die Prager Mozartfreunde Franz Xaver und Josefine Duschek errichtet.
Wegen fortschreitender Verwüstungen in den 50er Jahren wurde der Friedhof für die Öffentlichkeit geschlossen. Für die Freigabe des Friedhofs wurde 2011 der Verein zur Rettung des Kleinseitner Friedhofs gegründet. Dank des großen Arbeitseinsatzes von Freiwilligen wurde der, die Grabmäler überwuchernde Bewuchs entfernt, Wege und Grabstätten gereinigt, kranke Bäume gefällt. Der Kleinseitner Friedhof (Malostranský hřbitov) gleicht einer Freichlichtgalerie bedeutender Bildhauer - vom Anfang bis Mitte des 19. Jahrhunderts - der Familie Platzer, Josef Malínsky, Josef und Emmanuel Max, Václav Práchner, F. Linn, F. Pischelt, J.L. Kranner die viele ihrer Skulpturen auf den Gräbern signiert haben.
Die Öffnungszeiten und Termine sind der Webseite des Vereins zu entnehmen.
Prag, Juni 2022, Milena Findeis
Kleinseitner Friedhof - Malostranský hřbitov
Joseph Roth
Wenn ich keine Sehnsucht nach Paris hätte, so hätte ich Sehnsucht nach Prag. Es ist eine Stadt, in der ich niemals zu Hause war und in der ich jeden Augenblick zu Hause sein kann. Man braucht in Prag nicht “verwurzelt” zu sein. Es ist eine Heimat für Heimatlose. Sie hat keine Sentimentalität.
Aber ich lebe seit fünf Jahren in Berlin. Ich sitze da wie im Wartesaal eines großen Bahnhofs und warte auf den Zug. Um mir das Geld für die Fahrkarte zu verdienen, handle ich inzwischen mit Büchern und Zeitungsartikeln. Es ereignet sich viel in diesem Bahnhof, man kann schreiben, man sieht allerhand fremde Völkerstämme, Arier, Professoren und deutschnationale Juden, Generäle von Bahnhofskommando und gefallene Soldaten. Eine Familie erwartet eine Tante aus Dresden mit Militärmusik, man spielt “Deutschland über alles”, und die Gepäckträger entblößen ihre Schultern von der Traglast, und alle müssen aufstehen, auch wenn sie dabei sind, ein Wiener Schnitzel aus der Tunke zu heben.
Am Tage wandere ich durch den Bahnhof Berlin, die eiligen Reisenden stoßen mich, den Beamten bin ich im Weg, der Polizeipräsident mit der roten Mütze erteilt mir Verbote, der Schaffner ertappt mich bei ihrer Übertretung, die ebenfalls verboten ist. Des Nachts schlafe ich in leeren Wartesälen, die mit Frühstück zu vermieten sind und denen sich Klaviere mit Hirschgeweihen befinden. Vom Standesamt erhalte ich die Erlaubnis zum Empfang nächtlicher Besuche, am Abend lasse ich mich trauen, des Morgens scheiden. Denn man achtet hier auf die Moral. In der Früh weckt mich die Witwe eines höheren Offiziers, die den Wartesaal instand hält und Mieter mit solider Konfession bevorzugt. Sie trägt ein Hakenkreuz am Adamsapfel.
Hierauf begebe ich mich in die Abteilung für Herren, erhalte Instruktionen vom Verwalter, der ein Eisernes Kreuz trägt und mit seinen Besuchern Gelenksübungen macht. Der Vormittag findet mich in einer Fütterungsstelle, da stehen wir alle mit Eßnapf und Trinkeimer und bedienen die Kellner, die hier polizeilichen Charakter haben. Jede Unhöflichkeit einem Kellner gegenüber wird als Amtsehrenbeleidigung geahndet.
Am Nachmittag schreibe ich an einem Stollwerck-Automat: Ich werfe einen Münze in den Spalt,und unten fällt ein Einfall heraus, wenn man kräftig zieht. Manchmal ist der Automat verstopft. Dann müssen die Schriftsteller Konventionalstrafen bezahlen. Um mir die Zeit zu vertreiben, gehe ich in die Polizeistation und schreibe Meldezettel. Dadurch [macht] man sich in Berlin beliebt.
Am Abend sitze ich im Kino. Man gibt den Kolossal-Monumental-Film der Decla-Bioscop: “Deutsche, trinkt deutsches Bier!” mit Massenszenen von Lubitsch und Henny Porten als deutscher Heldenmutter, und die Kapelle spielt den Fridericus-Rex-Marsch. Ein paar Wartesäle sind als Kaffeehäuser aufgemacht, sie dürfen ohne Perronkarten nicht betreten werden; man muß sie vom Portier knipsen lassen.
Es ist mir gelungen, hier etwas Geld zu verdienen, mit dem ich mir verschiedene Sekkaturen leisten kann, den in Ankauf von Briefmarken, die Bezahlung der Einkommensteuer und den Genuß des Kaffees. Ich bin auf dem Bahnhof geradezu heimisch. Die tiefe Kniebeuge ist mir wegen des guten Verhaltens erlassen. Ich mache nur noch Saltutierübungen.
Dennoch habe ich, wie gesagt, Heimweh nach Prag, und im Paß ein tschechoslowakisches Jahresvisum. In Paris möchte ich die Sonntage verbringen und die Wochentage in Prag. Hier sind die abstrakten Kosmopoliten, in denen die Welt als Wille lebendig ist und die den Willen zur Welt nicht brauchen. Sie haben alle Schmerzen gelitten, alle Freuden genossen, und weil sie nichts mehr überraschen kann, suchen sie keine Überraschungen. Sie sind Skeptiker, aber sie lieben ihr Leben, das Leben in Prag. Alle Stimmen der Geister, die in der Welt verstreut sind, gelangen konzentrisch nach Prag, denn alle Geister in der Welt stammen aus dieser Stadt, oder es war ein Irrtum der Schöpfung. Wenn sie sentimental in Paris, pathetisch in Berlin sachlich und roh in Amerika geworden sind, flugs kehren sie nach Prag heim, in den Schoß der mütterlichen Skepsis und lassen sich auslachen, bis sie gesund werden.
Ich muß es auch rhythmischen Gründen wiederholen, obwohl ich nicht zweifle, daß man es mir glauben wird: Wenn ich nicht so viel Sehnsucht nach Paris hätte - ich hätte Heimweh nach Prag.
Prager Tagblatt, 25.12.1924
Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag, S.133 - S. 135
The Life of Milena Jesenská
Photo: Milena Jesenská, Kouřímská 6, Prague Vinohrady
Peter Demetz
To judge from an increasing number of biographies, anthologies, and learned essays, Milena Jesenská was the most famous Czech woman of the twentieth century, and analogies to Frida Kahlo, though with a few modifications, are entirely farfetched. The question remains whether her brief affair with Franz Kafka in 1919-20, at a time when she was married and he engaged to Julie Wohryzek, deserves more attention than what she achieved later in life as a political writer and courageous conspirator against the occupying German powers in Prague. Legends abound, including a few feminist ones, and it seems almost impossible to delineate her character, because as her biographer Marta Marková-Kotyková suggets, she changed so often and eradicated all traces of what gone on before, including husbands, partners, and lovers, famous or not.
Milena was born on August 10, 1896, daughter of a young and impecunious physician who had married a shy rich girl from a good middle-class family; he patriotically described himself as a descendant of Dr. Jan Jesenius, the rector of Prague University who has decapitated with other Protestants in 1621 after the battle of the White Mountain, won by Catholic powers. Milena belonged to the elite. She entered the Minerva Gymnasium, established to further the academic education of young women (another minervist was Alice Masaryk, daughter of the sociologist who became president of the First Republic), and while Milena’s father made a quick career as a professor of stomologz at the faculty clinics, she had sufficient time (though loyally caring for her ailing mother, who died in 1916) to write for the school paper, to cultivate crushes on her admirable class teacher Albína and a few other young and older men, preferably artists, and to provoke Prague’s stolid citizens by promenading with her friends Staša and Jarmila, pretending to be lesbians à trois wearing flowing robes, no corsets, and rarely stockings. What was worse, Milena did not care for the ever-important ethnic delineations of Prague life, and infuriating her nationalist father, she began to hang around the café Arco, close to the Hybernská railway station, where young German Jewish intellectuals and writers gathered to gossip about their ideas and manuscripts.
Though Milena did not speak much German, she felt intensely taken with the articulate Ernst Pollak, a bank clerk seriously interested in recent philosophy. (Kafka made only rare appearances at the Arco.) After an abortion she was sent by her father to a psychiatric institution to keep her away from mischief and her Jewish lover. But when she was allowed to marry Pollak, though she had to leave Prague immediately for exile in Vienna, where he obtained another banking position as a foreign-language correspondent.
Her Vienna years with Pollak, from 1918 to 1924, were an almost unmitigated disaster, because he continued his many affairs and spent much time at the cafés Central and Herrenhof with the most important Viennese intellectuals of the moment. Milena was distraught and, rather helplessly confronting the Viennese idiom, looked “like seven volumes of Dostoyevsky,” as Franz Blei remarked. But she wanted to assert herself, planned to give Czech lessons, and began to write, in Czech, for Prague newspapers. Her first article, about hungry and cold Vienna, was published on December 30, 1919 in the Tribuna; in the 1920s she made regular contributions to Národní listy and the liberal Lidové noviny. She was not exactly pleased when Kafka, intending a compliment, told her how close her text was to the wording of the original.
After writing long and irresolute letters to each other, Milena and Kafka were happy together in Vienna or a few days between July 29 and August 4, 1920, roaming the woods and basking in the sun, then miserable on August 14, in a shabby little hotel at Gmünd, on the Austrian-Czech border. She had been touched by the tender sympathy and compassion of his letters, and he, after his calamity with Felice Bauer and again on the rebound, engaged to another woman, was intrigued and repulsed by the corporeality of love. (He had fewer hesitations with prostitutes.) Milena was wondrously alive, like a raging “fire”, Kafka told his friend Max Brod; but he was disgusted by his own body, not just because he was sick, and felt unable to escape the abrupt recurrence of happiness and horror. After the hapless tryst at Gmünd, both Milena, who continued to love Ernst Pollak, and Kafka knew they were not made for each other, much as it might have seemed that way earlier, yet it was Milena to whom he handed over his diaries of the preceding years, clearly a sign of inordinate trust.
In 1924 Milena left her apartment on the Lerchenfelderstrasse in Vienna and Ernst Pollak (who later acquired a doctorate of philosophy and in his London exile married a woman of high birth), and together with Ernst’s close friend Franx Xaver Count Schaffgotsch, who had returned from a Russian POW camp1, went to a place near Dresden to join a colony of independent left-wing intellectuals, but not for long. After leaving the “red Count”, she finally returned to Prague and assiduously worked for the middle-class Národní listy and the editorial offices of a popular illustrated weekly, mostly writing about fashion as an expression of style and character, interior architecture, and living progressively.
She moved easily among the avant-garde, married Jaromír Krejcar, a young architect of bold functionalist ideas, and bore him a daughter, whom she liked to call Honza, as if she had been a boy. Her life was far from easy, because she suffered from inflammation of the joints, spent months in the hospital, and an inevitable operation left her right knee immobilized and, worse, made her increasingly dependent on painkilling drugs. By 1928-29 she was ready to join the Communist Party line. In 1934 her second husband departed for the Soviet Union, where he hoped to build some of his modernist projects (he was thoroughly disappointed), but after the Moscow show trials in 1936, Milena herself could no longer accept what the Soviet political functionaries werde demanding. Krejcar returned from Russia with another woman, and Milena wanted to start all over again.
By then she had come truly into her own. She was now forty years old, mother of a growing daughter, and physically handicapped because of her intractable knee. She resolved to break with her past, to help other people, and to confront squarely the danger increasingly threatening The Czechoslovak Republic. She continued to attract intelligent men of the left, and in a radical decision, she freed herself from her drug dependence, though not of her habit of dragging her daughter to a daily movie because she could not live without a regular dose of the cinema, and began to write for the liberal weekly Přítomnost (The Present) and its friendly editor in chief, Ferdinand Peroutka, whom she had once despised as an enemy of the people. When Peroutka was arrested in the spring of 1939, she immediately stepped into his place, editing the weekly until it had to cease publication. Then, being supported by the young poet Lumír Čivrný, Honza’s teacher and Milena’s lover, she wrote for the illegal newspaper V boj (Into the Fight!), published by the resistance organization of the Czech Army (In Defense of the Nation), run by intrepid officers, and helped distribute it in Prague.
That was not all. Together with Count Joachim Zedwitz, a German medical student in Prague who owned a sporty small Aerocar and cut an appropriate figure in leather coat with a little swastika attached, she selflessly helped people escape via the Polish border: Communists, liberals, Trotskyites, Jews, Czechs, Germans. She was arrested by the Gestapo on November 1, 1939, and sent to the centration camp of Bergen-Belsen in July 1940. Life in the camp, if it could be called such, was made particularly difficult for Milena because many of her Czech fellow prisoners were organized Communists who strongly believed in the future mission of the Soviet Union and who despised her as hateful “Trotskyite” who had betrayed the movement and written for the liberals. Among these women was Gusta Fučíková, especially inimical to Milena because she suspected her of having had an affair with her martyred husband, later a Communist Party saint. Milena arrived at Bergen-Belsen racked by arthritic pains and was ordered to work in the medical department guarding the records of women infected by venereal disease and particularly endangered by medical experiments. At least she was protected — by an older Viennese Social Democrat in the camp administration — and enjoyed a sudden friendship with Margarete Buber-Neumann, whom the NKVD2 had handed over to the Gestapo in the days of the Hitler-Stalin pact because she was the widow of a leading German Communist functionary arrested and shot in his Moscow exile.
Milena's state of health deteriorated. She was diagnosed with an inflammation of the kidneys, and after one had been removed, received an inordinate number of blood transfusions, and died on May 17, 1944. She never knew that Count Zedwitz, who himself had been imprisoned for fifteen months, tried with the help of a Berlin lawyer to bring about her release; the Berlin office was destroyed by Allied bombers and the lawyer killed; nothing came of his desperate attempt to help.
In an early essay for the liberal Přítomnost, Jesenská seized on the chance to speak openly about the CP, which had quietly disappeared from the public scene after the Czech government had prohibited its activities on October 20, 1938. Undoubtedly she revealed something of her own experience when she wrote that to be a party member always created “difficulties” and “risks” because the party, in spite of or because of its revolutionary claims, had little influence on practical social legislation, usually initiated by the Social Democrats, the CP’s prime enemies. In 1933 the Communist Party had abruptly changed its policies, proclaiming that it was necessary above all to fight Fascism together with liberals and Social Democrats, but the change, totally in the service of the Sovien Union, had come too fast, and the “mind of the worker was not so fickle”. In changing, the party had lost its inner democracy and thereafter could do nothing but demand “blind faith” and “complete obedience”, which did not exactly combine with “independent political thinking”. Where thought did not flourish, she added, poems did not flourish either.
In other Přítomnost essays, Jesenská constantly and resolutely challenged her countrymen, who were drifting to a new nationalism of the right, with her combative ideas, which closely reflected T. G. Masaryk’s legacy. She reported with horror what happened to Jews in Vienna after the Anschluss and could not help noticing that many refugees from Austria and the Sudeten, Jews and non-Jews, were streaming into Prague: “people … without documents, on foot, with empty hands. Wandering among us is the reflection of many hundreds of appalling human fates, hundred of thousands of painful partings, suicides and injustices.”
Almost alone among her unwilling fellow citizens, she tried to understand why the republic had lost so many friends among working class German Socialists, and her arguments came close to those of the philosopher Emanuel Rádl, who believed that the economic crisis hit the Sudeten regions more heavily because of insufficient attention given to them by the central offices in Prague, that while “people in the country were unemployed for three years”, as Jesenská worte, in the Sudeten regions “it was six years”. With these refugees in mind, Jesenská pleaded for an international solution to the problem caused by the Munich declarations signed by France and Britain; when confronted with the well-meaning admonitions of a friend that it was her duty to be “first and foremost a Czech” at the present moment, she came, in an essay of May 10, 1939, to the thoughtful conclusion that it was more important to be “a decent person”; being Czech did not mean anything in itself as long as it “was not bout to particular qualities” and the “highest moral standards”.
On February 12, 1994, the Medal of the Righteous Among the Nations was posthumously awarded to Milena Jesenská by the Jerusalem Commission, and it was resolved that her name be “forever engraved on the Honor Wall in the garden of the Righteous”, at Yad Vasem.
Page 128—133, Prague in Danger
The years of German occupation, 1939-45
PETER DEMETZ,
Sterling Professor Ermeriuts of Germanic Language and Literature at Yale University, was bonr in Prague in 1922 and immigrated to the United States in 1948.
Farrar, Straus and Giroux, New York, 2008
1 A prisoner-of-war camp (often abbreviated as POW camp) is a site for the containment of enemy fighters captured by a belligerent power in time of war.
2 Наро́дный комиссариа́т вну́тренних дел: Naródnyy komissariát vnútrennikh del; Russian pronunciation: [nɐˈrod.nɨj kə.mʲɪ.sə.rʲɪˈat ˈvnut.rʲɪ.nʲɪx̬ dʲel]), abbreviated NKVD (НКВД was the interior ministry of the Soviet Union.
Milena Jesenská Hommage
Jiří Gruša
Die Schöne und der dumme Hans
Manche meinen, dass Kafkas Stil in großem Maße auf dem wörtlichen Verständnis von Redewendungen basiere. Ich will diese Interpretation nicht überstrapazieren, doch “die böhmischen Dörfer” als Sinnbild der Greifbarkeit und Unbegreiflichkeit zugleich waren im Jahr 1918 – und eben im Böhmischen – ein existenzielles Thema. Sie wollten nicht einmal “böhmisch” sein, sondern tschechisch.
Juden und Deutsche bekommen von verschiedenen Seiten zu spüren, dass sie unerwünscht sind. “Der Venkov hat recht”, schreibt Kafka an Milena, “auswandern, auswandern!” Während er sich von Milena löst, Prag zu verlassen sucht und der Schwindsucht (souchotě) anheimfällt, arbeitet er am Schloss. Die Hauptfigur, ein Landvermesser, gerät in ein unerträgliches Dazwischen. Das Schloss als Sitz einer undefinierten Macht ist unnahbar, das Dorf, in dem er zu warten hat, unheimlich. Die Frauen sind entweder zu direkt oder zu zweideutig. Der Landvermesser stirbt an Erschöpfung.
Doch in den Tagen mit Milena spürte Kafka, dass dieses “tschechische Dorf” nicht nur der Ort des Profanen ist, sondern auch die Stätte, wo sich das Karussell von Scham und Schuld, das jüdisch patriarchalische Dilemma, viel langsamer dreht … wenn überhaupt. Den Vater hält man hier einfach (erinnern Sie sich an Švanda?) für den Sohn einer sicherlich noch denkwürdigeren Mutter. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir jemals eine Hexe verbrannt hätten. Und unser Sagengut (aber bitte nicht das Linda’sche), beginnt es nicht mit einer Seherin? Wir probten zwar gegen Libussa einen Aufstand: “Wehe uns Männern, die ein Weib verjochet, langes Haar und kurzes Sinnen”, das Ergebnis jedoch war mager. Noch immer scheint die Außenwelt, die literarische besonders, von unseren Frauen beeindruckter zu sein als von uns, den Tschechenmannen.
Und war es nicht die “Mutter M”, die erreicht hatte, dass Kafka endlich “wie ein Säugling” schlief. Nicht “wie ein Dudelsack”, wie es seit Jahrzehnten in den Briefen an Milena steht, gutmütig, aber falsch von Brod übersetzt. Denn in dem Schreiben an ihn, das Brod der Ausgabe beigefügt hat, sprach sie bestimmt über dudek und nicht über dudy. Und dudek ist ein Wiedehopf, oder, wie in diesem Zusammenhang, ein Säugling, der gestillt, zufrieden schläft. Dudat ist auch saugen.
Mit Recht reihte Kafka Milena in diese Tradition. Der “herrlichen, unterdrückten”, die sich “unterdrücken lässt”. Und instinktsicher wehrte er sich dagegen, mehr als eine Liebe auf Distanz zu versuchen. Aber die Früchte seiner Nähe zu Milena, Das Schloss und die Brief sowie Milenas mutiger Lebensweg bleiben. Sie sind das Exemplum der tschchisch-deutsch-jüdischen Liaison allem zu Trotz.
Drehen Sie sich jetzt um – denn Sie sind noch immer am unteren Ende des Wenzelsplatzes –, und folgen Sie Milena zu ihrer Wohnung auf dem Malteserplatz. Dies war ihr Weg, nachdem sie Wien verlassen hatte. Der Schönen gelang es endlich, den Bann des “magischen Basiliskus” zu brechen.
Von Polak belächelt, von Kafka ermutigt, etablierte sie sich in Prag als Übersetzerin und Life-Style-Journalistin. Sie zog in die Nummer 13, das Haus in der Nachbarschaft der Sieben Teufel. Bald munkelten die Kleinseitner, die Nymphen und Satyren vom Deckengemälde nebenan seien zu Milena gezogen, denn ihre Gäste galten als extravagant. Milena aber beschloss, nicht nur einfach, sondern auch glücklich zu leben. Und mit der zweiten Maxime hatte sie Erfolg. Die Heimatstadt kam ihr zwar bieder vor (“Ach, meinen Tschechen ragt das Stroh aus den Schuhen!”), aber das wollte sie ändern. Und Prag war optimistisch, aufnahmebereit und schön. Ähnlich Milena, die, schlank und tadellos gekleidet, ihren “herrlichen Körper” zur Schau trug. Man hat sie nicht nur bewundert. Wir sind in Prag, hier wird tüchtig verleumdet – auf die freundlichste Weise. Milena störte das nicht. Entschlossen zum Glücklichsein, lüftete sie den Provinzmief raus. Sie verteidigte Juden und lud große Deutsche ein, Werfel, Schwitters und Broch, Laban oder Feuerstein erschienen bei ihr. Die neue Sachlichkeit faszinierte sie, das Bauhaus, die Surrealisten, Majakowski.
Der Weg zur Einfachheit war steil und fröhlich. Sie lebte, sie tanzte sich in die Stadt hinein. Endlich glich der Malteserplatz den besten Tagen in der Wiener Lerchenstraße.
Und endlich tauchte auch wieder ein Mann auf, den sie verehren konnte. Er war jung, begabt, schwor auf das “Bauhaus” und sollte bald selber Häuser bauen. Auch er sehnte sich nach Einfachheit. War schlicht und spontan. Einmal im Kaffeehaus, fiel den beiden ein ein, dass es genau zu diesem Zeitpunkt schön sein müsste, an dem Štrba-See in der Hohen Tatra zu plaudern. Und sie riefen ein Taxi.
Milena heiratete erneut und Der Weg zur Einfachheit erscheint als Buch, dem Vater, dem “teuren Papa”, gewidmet. Sie will ein Kind und eine Welt, gerecht wie Jaromír, der Gatte. Der hat Visionen: Die Armen werden reich und wir, die Schöpfer der Einfachheit – nicht ärmer. Milena bestärkt, ja beflügelt ihn. Die Dinge entwickeln sich gut, Krejcar darf bauen und errichtet ein Haus, erlesen und einfach – als Wahrzeichen der Zeit, die das Schlichte predigt, als hätte sie gespürt, dass das Chaos, der Urstoff aller Komplikationen, sie bald verschlingen wird.
Natürlich verlassen die Krejcars die Kleinseite und ziehen in die Spálená, wo sich das Musterwerk - Jaromírs Olympik - erhebt. Hier sind der Mann und die Leistung unübersehbar, der Anspruch, noch Größeres zu bauen, wird nur bekräftigt.
Die Samstage "Chez Madeleine", Milenas Feste der Findigkeit und Ungezwungenheit, sind hier noch begehrter. Es kommen Genies, Genossen und manche Ganoven der Nachkriegszeit. Die Zukunft wird erörtert, sowjetisch erfasst. Denn wo sonst könnte man noch bessere, noch schlichtere Häuser bauen als im Land der Räte, wo sich das Volk erhob und eine Welt schuf, in der “der Morgen bereits das Gestern meint …” So schnell, so atemberaubend schreitet dort der Fortschritt voran! Verglichen mit dem tschechischen Schneckentempo spürt man in Moskau den Puls des Wandels. Dahin! Dahin!
Milena ermutigt Krejcar, lächelt, erwartet ein Kind von ihm - und große Werke. Alle um sie herum sind Menschen von Format, sie wollen Prag zur Drehscheibe Europas machen, und die Stadt scheint sich nach diesem Wunsch zu drehen.
Es ist Frühling im Jahre 1928, und nicht einmal Vít Nezval, der spätere Dichter der Stalin-und-Frieden-Gesänge, nun aber Milenas Astrologe, ahnt Böses. Auch nicht als Surrealist und Autor magischer Texte, der er zu bleiben hofft. “Du bist Löwin”, flüstert er ihr zu, “das heißt Stärke, Stärke!” Sie fühlt sich stark, fährt in die Berge – und bricht sich beim Skifahren das Bein.
Massive Gelenkschmerzen gesellen sich dazu. Man verstreut die Nachricht, Milena, spontan wie sie ist, habe im kalten Wasser gebadet. Die Wahrheit jedoch hat diesmal einen Artikel, einen vielleicht zu bestimmten: Der eigene Mann hat sie infiziert.
Gonorrhoische Infektion. Sie kämpft um das Leben ihres Kindes und um das eigene. Die Sterne stehen schlecht. Dieses eine Jahr macht sie zur Matrone, sie hinkt am Stock, gewöhnt sich an Morphium gegen die Schmerzen. Ihr Eheglück wird zum Wahn. Krejcar pilgert nach Moskau zu neuen Bauten. Aber der rote Stern steht ebenfalls nicht günstig. Alle Genossen sollen jetzt Bolschewisten werden, frei von der Last der Kosmopoliten, die sich komischerweise immer als Juden erweisen. Die Proletarier aber sind gesund, schlicht und kaukasisch munter wie der große Stalin.
Auch Milena, deren Tschechisch Kafka bewunderte, soll sich jetzt diesen törichten Jargon zulegen, mit dem sich die Freunde von gestern bekämpfen und dessen Monotonie die Lust am Morden nicht mehr verbergen kann. Nein, diese Art, Dinge einfach zu machen, meinte sie nicht. Sie schweigt nicht, und die Säuberer merken es sich. Einmal an der Macht, werden sie dafür strafen und töten. Da wird Milena schon unerreichbar sein, die Asche im See bei Ravensbrück werden sie kein zweites Mal auflösen können.
Alles geht irgendwie in die Brüche. Milenas Wien wird braun, Menschen, die sie mochte, putzen jetzt Straßen.
Prag wird zur Drehscheibe – zum Notausgang nach West und Ost. Krejcar kehrt zurück, froh, die nackte Haut gerettet zu haben. Werfel, Polak, Broch erscheinen untr den Adressen von einst. Milena hilft, sammelt Geld und schreibt ihre besten Texte: ein klares Nein zur Monomanie von Stalin und Hitler. Aber nicht einmal jetzt verallgemeinert sie. Ihre Einfachheit heißt nicht Einfalt. Hitler hält sie nicht für Deutschland. Und sie sagt das sogar in den düsteren Tagen um München.
Ein solches Nein in einem Europa voller Jarufer ist wie der Zielpunkt jenes Weges, auf dem man einfach das Schwerste tut. Oder wie schrieb das ihr Kafka? “Die Guten gehen im gleichen Schritt. Ohne es zu wissen, tanzen die anderen um sie die Tänze der Zeit.”
Obwohl wir Prager mit Vorliebe unsere Straßen nach vielen Taugenichtsen benannt haben, nennt sich keine nach den berühmtesten Tschechinnen (Heilige und Königinnen eingeschlossen). Denken Sie alson an Milena Jesenská, wenn Sie in Prag flanieren. Sie ist ein Stück jener seltenen Tugend, die bei uns dafür sorgt, dass wir nicht in böhmischen Dörfern enden.
Ihr Tod war groß. Bald nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen wurde sie verhaftet. Man fand nichts Greifbares, dennoch musste sie nach Ravensbrück: Häftling Nummer 4714, Rückkehr unerwünscht. Sie starb dort Ende 1944. Zeugen und Berichte belegen ihren Mut und Lebenswillen.
Sie soll, kurz vor ihrem Tod, ein Märchen auf einen Zettel gekritzelt haben:
“Es war einmal ein König, der hatte eine schöne Tochter, die tagelang Gedichte schrieb. Niemand vermochte es, ihr das auszureden. Bis ein Zauberer kam und sagte: ‘Ein Tintenklecks muss her! Sie ist verwünscht, aber der Klecks wird das schon richten.’ Bald darauf erschien der dumme Hans (der Pfiffikus des Tschechenlandes) und ärgerte das Mädchen: “ Du hast eine schiefe Nase.” Sie wurde wütend, gab nicht acht, und sie da, schon war es so weit …”
Grušas Tschechien ist eine Einladung, dieses schöne Land im Herzen Europas kennenzulernen. Der bedeutende tschechische Schriftsteller und Diplomat, der nach seiner Ausbürgerung auch ein deutscher Schriftsteller wurde, schrieb diese Gebrauchsanweisung für Tschechien und Prag, wie der Text früher hieß, aus intimer Kenntnis und praller Lebenserfahrung, in Liebe und mit Ironie, wie es nur jemand kann, der mit diesem Land von Geburt an verbunden ist. Das Buch wird dem Kenner neue Aspekte bieten und dem Neuling die Augen und das Herz öffnen. Wie schreibt Miguel Herz-Kestranek in seinem Vorwort: „Es fügen sich Anspielungen und Informationen zu einem wissenswerten Ganzen, das Lust macht auf dieses Land und Vorfreude weckt, es endlich einmal zu besuchen oder genießend wiederzusehen.“ Wir fügen dieses erfolgreiche Buch der zehnbändigen Ausgabe der Werke des Schriftstellers als Ergänzungsband bei, um es wieder zugänglich zu machen.
Jiří Gruša, geboren 1938 in Pardubice (Böhmen), gestorben 2011 in Bad Oeynhausen, Studium der Philosophie und Geschichte an der Prager Karls-Universität. Mitwirkender am Prager Frühling; Journalist, Lyriker, Prosaist, Essayist, Übersetzer, Arbeitsloser, Schriftsteller, Intellektueller, Dissident, Politiker, Botschafter und inniger Freund von Václav Havel. Präsident des Internationalen P.E.N.; von 2005 bis 2009 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien; zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen.
Text: Buchumschlag, Wieser Verlag, 2019
Jiří Gruša
Die Verlockung auf dem Dorfe
oder
Die Jungfrau und das Ungeheuer
Nach erneuter Lektüre Kafkas ...
Das Land hieß Böhmen und brachte am Anfang dieses Jahrhunderts Rilke, Werfel, Kafka, Hašek, Weiner und Deml hervor.
Tschechen, Deutsche und Juden bildeten seine dreieinige Seele. Mit dem Quadrat der Zeit wird das immer deutlicher.
Sie fand ihren Ausdruck in der Literatur. In der großen, die ungeachtet der Sprache die Einheit, ja Einzigartigkeit der gemeinsamen Kultur artikulierte … und paradoxerweise auch in den kleinen Literaturen, die gerade ihr Abgeteiltsein, ihren eigenen gemeindlichen Rahmen betonen.
Schon Kafka schrieb ihnen Prinzipienlosigkeit, kleine Themen, leichte Symbolbildung und Zusammenhang mit der Politik als bestimmende Merkmale zu. Diese Charakteristik gilt für einen ganz großen Teil der damaligen tschechischen Produktion, wenn es auch ihr Bemühen war, von “Heim und Herd” loszukommen. Doch die Tschechen hatten eine besondere Begabung, ihre wenigen Großen auf Eigenmaß zurückzustutzen.
Und dies galt auch für die deutsche-einheimisch-ländliche Literatur, soweit sie sich als Landesliteratur beschwören wollte und der Provinzialsierung verfiel.
Heute weht aus solchen Texten der Humor des Ungewollten:
“Ist es überhaupt möglich”, fragte ein tschechischer (und nicht unbedeutender) Kritiker, “dass ein deutscher Schriftsteller den tragischen Geist Prags begriff?”1 Dieser gute Mann konnte auf dem Weg in die Redaktion mindestens einmal in der Woche einen gewissen F. Kafka treffen. Die mächtige Tageszeitung des Kritikers, deren Name Venkov war, deutsch “Das Dorf” (!), hatte ihren Sitz Na Poříčí, deutsch “Am Graben”, und erinnerte die böhmischen Juden stark an die Worte, die die Dorfbewohnerin in Kafkas Schloss dem Landvermesser sagt: “... Sie sind nicht aus dem Dorfe, sie sind nichts.”
Dreihundert Meter von der Arbeiterunfallversicherung, wo Kafka sich lebenslang quälte, hatte “Das Dorf” seinen Sitz … fest davon überzeugt, dass “nur ein tschechisches Herz”, nur ein solches, “Prag in Lieben und Leiden erfassen kann.”
Ironie?
Natürlich. Aber nicht nur von hier aus. Auch von der anderen Seite, für die “Prag”2 (so heißt der Roman, aus dem wir zitieren werden) der Ort großtuerischer Ungehobeltheit einer gewissen “Landesbevölkerung” war, mit ihrem Alkoholismus, ihrer Prostitution, Grobheit, Heimtücke und seltsamen Servilität, die sich schließlich immer nur als Abwarten erweist, wann ein Schlag wirksamer versetzt werden kann. Der deutsche Held dieser Kolportage befindet sich zusammen mit seinem jüdischen Freund plötzlich auf dem Hof irgendeiner tschechischen Spelunke, um zufällig Zeuge dieser Schlüsselszene zu werden: Gerade ist eine Hündin eingegangen, Mutter von sechs Welpen. Eine tschechische Hure geht über den Hof — Mitleid mit den jungen Hunden bemächtigt sich ihrer. Sie brockt ihnen Brot ein. Die Hunde fressen nicht, sie sind noch blind. Gottseidank hat der Autor nicht vergessen, das Mädchen auch mit Milch auszumachen. So macht es sich ans Stillen.
Sie schauten sich heftig atmend an (der Deutsche und sein Freund) … War dieses Mädchen, das keine Angst vor dem saugenden Tier an seiner Brust hatte, nicht vielleicht doch mehr wert als eine vor Zärtlichkeit überfließende Mutter? Wies nicht dieser Trieb, in dem hier die Muttergefühle zur Geltung kamen, auf unerforschte Gebiete, wo man die Frage nach dem Untergang des Volkes suchen muß …? Und es war ihnen (diesen beiden), als ob sich eine Lösung dessen anböte, worüber sie ganze Wochen lang gesprochen und was sie umgewendet hatten.3
Punktum.
Doch übersehen wir dieses Motiv nicht: Die tschechische “anima” verhält sich hier zum Animalischen sozusagen menschlich.
Im Unterschied zu den tschechischen Kleinliteraten jedoch, die sich in ihren Porträts des deutschen Gegenübers entweder an die gleichen Klischees hielten oder überhaupt so taten, als ob die andere Seite nicht existierte, ja im Unterschied zu den größeren und großen Tschechen, die einfach keine künstlerisch bedeutende Gestalt der deutschen Mitwelt schufen, hat sich die deutsche Literatur — und zwar sowohl die provinzialiserende wie die große — mit der tschechischen Welt beschäftigt, und wenn schon nicht vom tschechischen Mann, von der tschechischen Frau war sie hingerissen.4
Und die Frage war gerade auf dieses “Mysterium” der aus anderem Grunde kommenden “Vitalität” gerichtet. Trotz aller Reibereien und Hindernisse haben sich deutsche und tschechische durchgerungen, um eine lebendige, vielfältige und gleichzeitig einheitliche Form zu bilden.
Erotische Anziehungskraft war einer der Aspekte — wenn auch der am wenigsten zu übersehende — dieses Zusammenlebens.
“Jeden, der Augen hat zum sehen,” spricht einer der bedeutenden Zeugen, “bestätigt die tägliche Prager Erfahrung einer gegenseitigen Anziehungskraft. Die Prager Kaffeehäuser, Unterhaltungsstätten, Badeanstalten sind voller Liebespaare; ein junger Jude — sehr häufig ein Deutscher, der tschechisch spricht — ein junges tschechisches Mädchen. Es geht in der Regel … um spontane Beziehungen …”
Das gilt auch für den größten Schriftsteller Böhmens, Franz Kafka, einen Juden, einen Deutschen, der tschechisch spricht: “... nur wie Sie dann zwischen den Kaffeehaustischen weggingen, Ihre Gestalt, Ihr Kleid, das sehe ich noch …”, schreibt er in seinem zweiten Brief an ein tschechisches Mädchen, in dem er sein zufälliges Zusammentreffen mit ihr schildert (wohl 1919). Bis zu Januar 1921 wird aus diesen Briefen eigentlich ein Buch. Es erscheint achtundzwanzig Jahre nach Kafkas und acht Jahre nach der Adressatin Tod. Es wird nicht zum Dokument des “tiefsten und erschütterndsten Erlebnisses”5 Kafkas, sondern auch im wahren Sinn des Wortes ein Werk mit deutlichen Zügen von Stilisierung und Komposition, ein Werk, in dem jenes Mysterium der andersartigen Vitalität seinen höchsten Ausdruck findet. Milena übertrifft an Ruhm dann andere literarisierte oder auch historische Tschechinnen, “Heilige und Königinnen”, mitgerechnet.6
Wer war sie?
Eine “ephebische Schönheit” mit einer Frisur “à la präraffaelistisch", die auf den Graben übersetzte? Eine Erscheinung, nach der sich im Auge das unerlässliche Monokel, Graf Thun umdrehte, der k.u.k. Landesstatthalter und eleganteste Mann seiner Zeit?"7
Ich habe “übersetzte” gesagt, denn ich wollte die Bedeutung der Tat und der Lokalität unterstreichen. Prag war geteilt. Von der Ferdinandstraße, dem tschechischen Korso, auf die Straße der deutschen Creme hinüberzugehen, bedeutete dasselbe wie über einen Fluss zu setzen. Neu war hier nicht so sehr das Zusammentreffens des tschechischen Elements mit dem deutschen, neu war die Art, wie es geschah.
Milena und ihre Altersgenossinnen kamen nämlich nicht als Objekte der Gunst, sondern als diejenigen, die sie erweisen.
Und dazu war sie besonders geeignet.
Sie hieß Jesenská und das bedeutete etwas in Böhmen. Ihrem Vorfahren, so glaubte man in der Familie — schlug der Henker im Jahre 1621 den Kopf ab. Doktor Jan Jessenius, Rektor der Hohen Karlsschule, Diplomat und Arzt, der die erste öffentliche Obduktion durchgeführt hat, sieh an, wie hässlich, wo er jetzt seziert wird. Zuerst die Zunge (wegen der Beredsamkeit), dann die Hand (wegen Meineid) und zum Schluss der Kopf. Und als ob es an dieser zeremoniellen Schlächterei noch nicht genug sei, befiehlt der Kaiser, der sich an den protestantischen Ständen rächt, den Körper zu vierteilen und auf dem Prager Kreuzweg auszuhängen. Das an manches gewöhnte Europa atmete tief vor Grausen — und das tschechische Böhmen wurde ländlich, wurde zum “Dorf." Jessenius’ Kopf, in einem eisernen Korb, schaut sich das vom Brückenturm aus an, bis er — zusammen mit den anderen — zum Schädel wird.
Man wurde bedeutungslos, ohne es dem Kaiser je zu vergessen. Jan II. Jessenius kommt Ende des 19. Jahrhunderts in diese Stadt, entschlossen, die Dinge an ihren richtigen Platz zu rücken.
Er ist mittellos, jedoch mit Intelligenz, Männlichkeit und Neigung zur Grandezza ausgestattet. Vielleicht könnte man sagen “er wird sich vorteilhaft verheiraten.”
Er heiratet die Tochter des Schulinspektors für Böhmen und von der Mitgift richtet er sich eine Praxis ein. Denn auch er wird Arzt. Und natürlich auf derselben Universität — Professor. Deren längerer Name — seit jener Großhinrichtung heißt die nämlich Karl-Ferdinand-Universität — ist in seinen Augen ein begrenzter und ungeschickter Zusatz.
Jesenský wird tschechisch national — er kann eigentlich nicht anders. Aber sein historisierender Aristokratismus, sein Sinn für den Mythos dieses: “ich bin das Ereignis” fließen mit der Mentalität der Gründerzeit in eine bewundernswerte Mischung zusammen.
Ungewöhnlich bei anderen Tschechen, die eher auf ihr Plebejertum stolz sind. Er ist Patrizier, ja Aristokrat — eine Haltung, die seine Tochter bis ins Detail übernimmt. Und er ist auch ein Dandy, mit einer Leidenschaft für Frauen; von seinen Schülerinnen bis zu den Ehefrauen der Freunde und den Patientinnen.
Das letzte Prager Duell hat in Jesenský einen letzten Duellanten. Er hat sich angeblich gut gehalten. Nicht so sehr als Vater. Für Milena ist er eher Gegenspieler als Partner. Und nach dem Tode der Mutter (er hat ihn nicht erschüttert) jemand, von dem sie sich einen zusätzlich Beweis des Mitleids erzwingt, und das um so betonter, je größer die Selbstverständlichkeit und Zuneigung ist, mit der die Tochter Jesenkýs Wertskala teilt.
Im Unterschied zu Kafkas Verhältnis zum Vater herrscht hier Aneignung, Zustimmung, keineswegs, die eigentlich erzwungene, halbherzige Achtung der Verdienste des eifrigen Hermann, der es, klein angefangen, “zu etwas gebracht” hat, bis er sich in einen Tyrannen und Boss verwandelte.
Franz Kafka hat sich nie mit Hermanns Galanterie abgefunden — und all seine Gestalten sind doch in irgendeiner Weise untergeordnete, dienende, keineswegs berufene Menschen. Milena wird revoltieren, ohne an der Natürlichkeit des Ichs ihrer Abstammung ernsthaft zu zweifeln.
Als Mädchen hatte sie den Vater sich gegen die Macht auflehnen sehen. Bei den nationalistischen Straßenkämpfen der letzten Dekade des vorigen Jahrhunderts ist er als Einziger “stehengeblieben”,8 als die Menge floh und nur Tote übrigblieben. Daraus leitet sie für sich selbst ab, dass man auch angesichts Jesenkýs stehen bleiben muss. Und lässt sich natürlich niemals bei irgendeiner Behörde einstellen. Der Vergleich der Väter, der so häufig als das Psycho-Band zwischen Milena und Kafka angeführt wird, muss also derartig berichtigt in Erwägung gezogen werden. Viel wirksamer war da vielleicht jene emotionale Kälte, jenes Nicht-Sentiment der Gründerzeit, mit dem beide Väter ihre Kinder in die Welt brachten … als Folge der Mitgift. Denn Hermann richtete sich seinen Laden mit Julies Gelde so ein, wie Jan mit dem Geld des Schulinspektors seine zahnärztliche Praxis.9
Die Kinder konnten sich als Unterposition einer umfangreichen Rechnung für gelieferte Waren vorkommen.
Sonst jedoch ähnelt Milena viel mehr jenen stolzen Mädchen, die an Kafkas Prager Spaziergänger in den ersten, noch in Prag lokalisierbaren Erzählungen vorbeigehen und ihn ablehnen, indem sie ihm unverhohlen klar machen, dass er wahrscheinlich kein “Herzog mit fliegendem Namen” ist. Sie erinnert nur wenig an eine Frieda oder Amalie des Schlosses, als deren mögliche Inspirationsquelle sie — insgesamt mit Recht — angesehen wird. Ihr Charakter zwingt uns, an die Figuren der Romantiker zu denken. Dieser Rahmen der Selbstidentifizierung muss bei einer Schülerin des “Minerva”, jenes ersten und hochgeachteten Mädchengymnasiums — einer Brutstätte emanzipierter und preziöser Damen des tschechischen öffentlichen Lebens — einfach vorausgesetzt werden. Und man kann sich kaum einen größeren Gegensatz zu jenen risikolosen Frauen vorstellen, mit denen zusammenzusein (aus Entfernung, nicht beschwert von Intimität) das Schreiben nicht bedrohen würde.
Solche wünschte sich Franz Kafka, aber auch diese waren ihm schließlich zu lebendig. Neben ihnen ist Milena einfach das Risiko selbst. Gemessenheit, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Fleiß, Ordnungsliebe und “Tüchtigkeit” (von Kafka an Felice Bauer bewundert), das alles sind zwar hervorragende Eigenschaften, sogar von Jesenský amtlich gutgeheißen, doch dort in Prag, wo Milena wohnt, nicht sehr heimisch. Und schwer nur kann der Vater ihr sie nahebringen, ist er doch selbst Hasardeur beim Kartenspiel, ein Mann der Eskapaden und als Ehemann nicht treu. Das wird die Tochter, fast wie eine Liebhaberin, je verborgener, desto heftiger, an ihm bewundern. Sie verlangt das gleiche Maß an leidenschaftlicher Aufmerksamkeit, wie es auch an anderen Frauen des Vaters zuteil wird. Milena entwickelt eine ganze Kultur der Trotzliebe, mit der der väterliche Adressat dazu gebracht werden soll anzuerkennen, dass auch die ihm nächststehende Person der Liebe wert ist.
Und es ist ein ganzes System von Strafen, die den Vater verfolgen, Strafen, die sein “Heiligstes” treffen, denn nur so kann man verwunden, aufrütteln, eigene Anliegen zu Gehör bringen. So wird also der Jesenský überrascht von den kleptomanischen Auftritten seiner Tochter in den besten Prager Geschäften, erlebt falsche, auf seine — der Familie — Namen ausgestellte Wechsel, erlebt den Verkauf der geliebten Münzensammlung, Angriffe auf seine Standesehre (in seiner Praxis verschwindenden Drogen) und ist natürlich Affären der Promiskuität ausgesetzt, die als Rache für die Demütigung der Mutter konzipiert sind.
Für ihr Sterben, das Milena miterlebt und umsorgt hat.
Ein Sterben, das unter dem beinahe manifestierten Desinteresse des Vaters vor sich ging. Nach Jahren wird sie erzählen, wie Jesenský in das Zimmer der Sterbenden kam, um einen Strauß sowieso ganz ausnahmsweise geschenkter Veilchen fortzunehmen …, nebenan in der Praxis war gerade eine anmutige Patientin.
Milenas Strafen gewinnen allmählich skandalöse Ausmaße. Junge Männer, Schüler des Vaters, seine Assistenten, werden in den Dandy-Anzügen des Herrn Doktor erscheinen, von eben der Tochter des Doktors beschenkt, die sich gerade solche auswählt, von denen sie sicher weiß, dass der Vater sie am wenigsten gern hat. Und Milena wird sich vor sogenannten ”Folgen” hüten, denn die stellen die größtmögliche Form der “gesellschaftlichen Schande” dar, die man dem Vater bereiten kann. Und natürlich: auch das ureigene Band zwischen den beiden, die größtmögliche intime Nähe — in negativer Weise. Da muss Jesenský, Arzt und ein Mann mit Verbindungen, “zugeben”, das ihm an der Tochter mindestens so viel liegt wie am eigenen Ruf. Zum ersten Mal wird er zu solch einem Bekenntnis unmittelbar vor Milenas Abitur gezwungen, das zweite Mal vor ihrer Volljährigkeit.10 Und selbstverständlich wirft Milena das Geld zum Fenster hinaus; nur vor dem Geld, jedenfalls scheint ihr das so, hat der Vater Respekt. Sogar die häufig erwähnte Freundschaft zur schönen Mitschülerin des Minerva …, “es ist eine unglaubliche Vereinigung zwischen ihr und Dir”, bemerkt Kafka, schreibt jedoch dieser Liaison einen medial-geistigen Charakter zu …,11 also auch diese sapphische Freundschaft kann man nur zum Teil aus der Bewunderung für Oscar Wilde und seinen damaligen Skandal ableiten; viel mehr als die Leidenschaft zur Selbststilisierung hat hier sicher — wie das in solchen Fäller sehr häufig ist, eine starke Verbindung gewirkt. Und Jesenský greift ein, er lässt die Tochter in einer luxuriösen, aber psychiatrischen Anstalt internieren.
Die neue Liebe Milenas ist in diesem Zusammenhang eher ein letzter Grund. Ernst Polak war nichts anderes als ein — wenn auch äußerst starkes — Exemplar des alten Familientrotzes. Das Einschreiten Jesenkýs muss als der letzte Akt von Milenas Spiel mit dem Vater betrachtet werden — um den Vater. So blieb also noch, Jesenský der Situation des “Urteils” anzusetzen, um die Erzählung zu paraphrasieren, in der Kafkas Familiendrama verdichtet ist. Dort freilich springt Georg Bendemann gehorsam in den Fluss, als ihn sein Hausherr, anstatt der Verlobung zuzustimmen, dazu verurteilt, sich zu ertränken. Milenas Vater ist nicht jener alles überschattende “Riese”, er ist Rivale, aber auch Partner. Im Übrigen sähe ein vernichtendes “Urteil” über Milena anders aus. Es würde bedeuten, sie den Folgen ihrer Offensiven auszusetzen, einfach nichts zu tun! So müsste auch Bendemann à la Milena regelmäßig von der Brücke springen, um zu überprüfen, ob diesmal wirklich nichts zu seiner Rettung geschieht. im Urteil Jesenkýs findet also nicht nur die Verlobung, sondern auch die Hochzeit statt.
Polak ist ein schöner Mann — die Quintessenz von Jesenkýs Abneigungen —, deutscher Jude, der sich nicht einmal bemüht, Tschechisch zu sprechen. Nicht ein Literat, eher ein Mann aus dem Umfeld der Literatur. Er weiß alles über sie, denn er muss sie nicht schreiben. Dazu träumt er nicht stark genug. Als Charmeur ist er daran gewöhnt, dass von ihm geträumt wird. Er ist aber ein “Arconaut”. Er pflegt im Arco, dem Café der deutsch-jüdischen Literaten an der Ecke der Hyberner- und Pflastergasse zu sitzen, wo es “kafkat, brodelt und kischt”, ohne dass es jedoch polakt. Nicht dass er kein hervorragender Intellekt wäre, aber eher eloquent glossierend. Für Milena um so anziehender, als er in seinem Benehmen der weiblichen Welt gegenüber vergleichbar war mit — nun, wieder mit dem Vater.
Der “urteilt”, doch sehr großzügig. Wenn er sich schon ergeben muss, dann tut er das mit Grandezza. Der Tochter übergibt er Aussteuer und Vermögen.Das Böse an dem Urteil lautet: von Prag nach Wien.12
Dort lebt es sich schwer, Milena gibt das Geld aus und verkauft die Aussteuer. Dann beginnt sie ans Ernsts Seite zu verschwinden. Zu Hause war sie die Jesenská, hier ist sie die Polak — in der unübersichtlichen, “verfluchten” Stadt.13 Wien wird für sie, was Prag für Kafka war. Ein Geschöpf mit Krallen.
Anstelle des Arco — der Herren-Huren-Hof, ein Café, wo Ernst unter seinen in der Hauptsache Freundinnen Platz nimmt und wo er sicher auch ständig von jemandem ans Telefon gerufen wird. Ein Ritual, das Kafka noch aus dem Prager Arco in Erinnerung war.14 Milena befindet sich also, was die Beziehung zu ihrem Mann angeht, in dem von zu Hause bekannte Dilemma. Weil jedoch das rivalisierende Element Vater-Tochter entfallen ist, entfällt auch das zugehörige Spannungsmoment und Milena fühlt sich getäuscht. Berühmt durch ihre Prager Abenteuer, ist sie nicht imstande, sich in Ernsts Großhaushalt zu finden. Sie versucht einen Selbstmord, eine Woche liegt sie in der leeren Wohnung, “keine Menschenseele kennend, nur halb bei Bewusstsein”, und nicht Polak, sondern die Hausmeisterin weckt sie auf, “mit kräftigem Rütteln und ruft sie zum Leben”. Die, welche die Zeitgenossen als eine junge Schönheit mit lebvollen Augen kannten und, blonden, gelockten Haaren, an der sie das Lächeln bewunderten, die Grazie, die noble Körperhaltung, liegt hier erschöpft und den Folgen dessen ausgesetzt, was sie bald selbst einen “dummen Einfall” nennt. Der Ausbruch der Freiheit hat den Geschmack des Falles.
Sie nimmt die Vertreibung an und die Einsamkeit, auch ihre soziale Stellung — sie trägt Koffer auf dem Bahnhof — doch sie unterwirft sich nicht dem Kleinkram des Kaffeehauslebens. Dazu ist sie eine zu wenig marginale Erscheinung. Nicht literarische Peripherie, den “Satz” der Cafés, sondern den echten Aufguss, die geistige Atmosphäre des “Kultur- und Lebensklima Wiens”15 nimmt Milena auf und verarbeitet sie. Ihre Eigenart und Persönlichkeit, die sich in Prag in der Konkurrenz und negativistisch manifestiert hatten, wollen zu ihrem Recht kommen. Von Polak für jede Zeile verlacht, beginnt sie ihren “Weg zur Einsamkeit” zu gehen. Sie weiß schon, dass “... es notwendig ist, sich vor einen großen Spiegel zu stellen und mit größter Sachlichkeit aufzuzeichnen, so bin ich und so bin ich nicht. Das habe ich und das fehlt mir. Das kann ich und das kann ich nicht. Das habe ich und das fehlt mir. Das kann ich und das kann ich nicht, also werde ich es nie tun …” Worte aus ihrem ersten Buch, das ihr Formen und Reifen zusammenfasst und auch Der Weg zur Einfachheit (Cesta k jednoduchosti) heißt. Hier wird deutlich, welchen Eindruck das Treffen mit Kafka auf Milena gemacht hat. Es wird ein in vieler Hinsicht widersprüchliches Buch, von Bekannten und Eingeweihten ironisiert — denn man kann sich kaum etwas Raffinierteres vorstellen als Milena — doch es wird auch zu einem Schlüssel.
Kalokaghatisch könnte man sagen — nach jenem uralten griechischen Ideal der Einfachheit erhabener Herkunft und reichem Inneren, von der Einsicht seelischer Vielfalt und den Fähigkeiten oder der Habschaft der Physis.
War das nicht eigentlich der überlegene und kultivierte Aristokratismus des alten Jesenský?
Nicht zufällig ist die Schrift dem Vater gewidmet — als eine gewisse Form der Aussöhnung, beschlossen auf der kaum hart gewordenen und nie ganz ausgekühlten Lava des gemeinsamen Vulkans.
Jetzt aber schreibt sie noch für Prager Zeitungen, und was an ihren Prager Vorfällen Selbststilisierung und Spiel schien, erweist sich als eine Schule des Geschmacks. Milenas Stil, dynamisch persönlich, ist Ausdruck ihrer Lebensart, auf die sie hinarbeitet und mit der sie später in das tschechische Kulturbewusstsein eingreifen wird. Auf ihre Beiträge wird nicht nur Kafka mit Spannung warten, sondern auch eine breite Leserschaft. Unter dem durchsichtigen Pseudonym (A. X. Nessey) schreibt sie für die liberale Tribuna und hat in deren Feuilleton-Rubrik starke Konkurrenz (Kisch, Hašek), der sie standhält. Sie beginnt zu übersetzen und wählt sich (eher vom Instinkt geleitet als von Ratschlägen) die Erzählungen eines gewissen “Fremden, den niemand für einen irgendwie ungewöhnlichen Menschen hält”, der aber Milena mitreißt — schon allein, weil unter der Prosa, die sie interessiert, auch das Urteil ist. Der Fremde macht eine Kur, die Karte, die er erhält, die Bitte um Zustimmung zur Übersetzung, bewegt ihn schließlich zu einer Antwort.
Das Mädchen, das ihm schreibt, kann er sich zwar nicht vorstellen, sie ist “gesichtslos”, ist jedoch die Erste in seinem Leben, die sich sozusagen der “Schönheit der Seele wegen” an ihn wendet. Denn im tschechischen Böhmen wählen sich die Frauen die Männer. Auch sie ist — fremd. Tochter dieses chthonischen, tief verwurzelten “Bauernvolkes”, mit dem man nun in noch unmittelbareren Kontakt treten muss. Das Jahr 1918 ist vorbei und das Tschechentum hat seine Rechte erlangt. Jesenský ist Professor an der Universität von Jessenius, der Zusatz “Ferdinand”, die Folge der damaligen Großhinrichtung, ist aus dem Namen verschwunden Item: Für Juden und Deutsche ist notwendig, damit zurechtzukommen, plötzlich “im Dorf” zu stecken. Auch Kafka muss das, sein Versuch ist von zwei Meilensteinen markiert: von Milena und dem Schloss.
Manche Beobachter meinten schon lange, dass Kafkas Stil in großem Maße auf dem wörtlichen Verständnis von Redewendungen basiert, auf ihrer Analyse und logischen Folge, in der und aus der heraus eine wörtlich verstandene Alltagsmetapher zu ursprünglichen Klarheit und Eindringlichkeit erobern wird. Wenn diese Festestellung wahr ist, wäre es in bestimmter Weise möglich, das Schloss als die wörtliche Übernahme des Idioms von den “böhmischen Dörfern” zu verstehen, mit dem das Deutsche Unverständliches, unerklärlich eigenartige Unerkanntheit bezeichnet.
Dieses “böhmische Dorf” erscheint in Böhmen nun doppelt seltsam und unerklärlich.16 Ja es beginnt jetzt noch aggressiver zu handeln. Übrigens ist auch rein sozialpolitisch gesehen die tschechische Gemeinschaft am bedeutendsten gerade vom agrarischen Element geformt. Die Venkov, sein militantes Parteiorgan ist dem Dr.jur. Kafka körperlich nahe unter die Fenster gerückt. Man findet auch den unmittelbaren Widerhall dieser Zeitung in den Briefen an Milena.
Unerwünschtheit, Nichtzugehörigkeit, Fremdartigkeit, Andererssein bekommen die Juden Böhmens täglich serviert. Wörtlich und physisch. “Das Dorf”, wenn wir wiederum das tschechische Wort Venkov übersetzen, “hat sehr recht, auswandern, auswandern …” schreibt Kafka an Milena. Ein Satz, der auch in dem Schloss stehen könnte.
Das “Dorf” jedoch ist nicht nur der Ort der Profanität, des Plebjertums, der Egalität und Adoration des sogenannten normalen Menschen, oder ein Milieu, in dem der Sinn für die Bestimmtheit und Ausgeprägtheit menschlicher Beziehungen sehr gedämpft ist, sondern auch die Stätte eines gewissen matriarchalischen Residuums, Stätte jenes “Mysteriums der Vitalität”, wo noch die weibliche “anima” herrscht, offen, alles annehmend, doch dabei immer sie selbst. Das Karussell von Scham und Schuld, dieses patriarchalische Konzept, wird hier einfach nicht so ernst genommen. Denn Väter hält man hier im Stillen zwar, aber immerzu einfach für den Sohn einer sicherlich sehr viel denkwürdigeren Mutter. Versagen oder Irren sind hier Eigenschaften wie alle anderen, ohne den Beigeschmack des Schicksalhaften. Die Bereitschaft zu helfen, und zwar auch prinzipienlos, wird hier geschätzt.
Lebt es sich so nicht doch “natürlicher”? Ist nicht schließlich auch Milena, dies “herrliche, unterdrückte Natur, die sich nicht unterdrücken lässt”, nur eine sehr gesteigerte Ausgabe dieser Haltung? Und das trotz ihrer Eingliederung in die Großstadt — ja, eigentlich deswegen, denn auch das nicht plebejische Neutschechentum verleugnet nur um ein, zwei Generationen zurück kaum seine Herkunft aus den nichtprivilegierten Schichten, und hat es auch jede Profanität abgelegt, dieses Muttermal trägt es mit sich.
Für Kafka, dessen familärer und sozialer Aufstieg im Rahmen des jüdischen Patriarchalismus geschieht, ist die Andersartigkeit anziehend, die Unzugänglichkeit verlockend. Die Formel für die Entwicklung der Distanzliebe, jenes Fachs, in dem er seine lebenslange Praxis hat, ist in idealer Weise gegeben.
“Ich kann offenbar nur lieben … was mir unzugänglich ist”, summiert er seine Liaison mit Milena (freilich auch seine vorhergehenden), um so die grundlegende Voraussetzung jeder Liebe auf Distanz klinisch zu definieren.
Er kämpfte quälend lang damit, aber baute auch in alle seine Beziehungen eine Sicherung namens Entfernung und Nichtberührung ein als Ausdruck der hundertmal verhüllten Angst vor der heterosexuellen Nähe. Und auch als Ausdruck der Unfähigkeit, aus jener Selbsteingenommenheit herauszuschreiten, die für das Schaffen so unerlässlich ist, die aber schließlich so etwas wie eine autoerotische Dimension gewinnt.
Er trug schwer daran: und unmittelbar vor Milena unternimmt er eigentlich die weitestreichende Analyse seiner eigenen Fallen. Der Brief an den Vater ist frisch, über seine Nichtzustellung ist jedoch noch nicht entschieden. Milena zu haben, würde bedeuten, in die allerunerwartetste Richtung zu gehen, denn auch sie stellt — im Wertmodell der Kafkas — den totalen Gegensatz zur Axiologie nicht nur Hermanns dar, sondern zu all dem, was sich über Frauen, Ehe und Weiblichkeit der strenge Franz Kafka selbst denkt.
Und für Milena ist es auch verlockend, ihre Anlage zur Trotzliebe wird unwiderstehlich angesprochen. Verlacht zwar für ihr Schreiben, ist sie doch überhaupt nicht frei von Gefühlen für Ernst, auch wenn der schon wieder eine Mitfrau ins Haus gebracht hat.17 Der ironische Kommentator literarischer Größen, ihr scharfsinniger Klassifizierer und Verkleinerer — den klassifiziert sind sie leichter abzulegen — wird verwundbar sein grade mit literarischer Genialität, die man trotz allen Bemühens nicht aberkennen kann. Milena weiß, was sie tut. Doch sie ahnt nicht, dass ihre eigene Schule der Trotzliebe mit jener der Distanzliebe bei Kafka nur ein und dieselbe Achse bildet. Die Unfähigkeit reif zu lieben sehnt sich darin nach der Reife.
Milena immateriell — die jedoch reagiert, die erwidert, die imstande ist, intellektuell Schritt zu halten, ermöglicht es Kafka, das Distanzritual mit ungewöhnlicher Intensität und Schönheit zu entwickeln. Entfernt doch im Dialog, dessen Dringlichkeit wir erfassen, obwohl Milenas Part fehlt (übrigens hatten auch die Briefe ihrer Vorgängerin das gleiche Schicksal), wird sie konkreter und orientiert sich um; aus dem Polak-Ersatz, aus dem “ungewöhnlichen Fremden” erwächst ihr ein Intimus, der nicht nur der Liebe wert ist, sondern wünschenswert. Die Spuren dieses Prozesses bei Milena werden in Kafkas Briefen immer deutlicher. Schon weil Milenas Schule des Trotzes, diese emotionale “Infantilisierung”, nur ein Stadium ist, das bald überwunden sein wird … erkennt die Adressatin scharfsinnig eine Literarisierheit der Äußerungen Kafkas und stellt ihr das eigene “ich lebe” entgegen.
Sie wagt es, an den eigenen Geruch zu erinnern, und tut damit genau das, was der echte Schrecken für jede Liebe auf Entfernung ist. Und so wird Kafka, bislang gleichfalls, “gesichtslos” — je mehr geliebt, desto mehr herbeigerufen.
Und auch er entschließt sich. In seinen Briefen taucht früh ein Bild eigenartiger Symbolik auf:
Einen Schritt von mir war ein Käfer auf den Rücken gefallen, … konnte sich nicht aufrichten, aber ich vergaß ihn über Ihrem Brief … erst eine Eidechse macht mich wieder auf das Leben um sich aufmerksam, ihr Weg führte sie über den Käfer, der schon ganz still war, es war also, sagte ich mir, kein Unfall gewesen, sondern ein Todeskampf, das seltsame Schauspiel des natürlichen Tiersterbens, aber als die Eidechse über ihn hingweggerutscht war, hatte sie ihn damit aufgerichtet, zwar lag er noch ein Weilchen totstill, dann aber lief er wie selbstverständlich die Hausmauer hinauf. Irgendwie bekam ich wahrscheinlich dadurch ein wenig Mut wieder, stand auf … und schrieb Ihnen
Vom Autor der Verwandlung wahrlich bedeutsam. Und mit Sicherheit nicht ohne Absicht, denn in dem was, er an das “Mädchen” schreibt, ist, wie sie gleich errät, “nicht ein einziges Wort, das nicht wohlüberlegt wäre”.
Natürlich: dem Mädchen, dem “reinen Mädchen”, denn so ist der Versuch um eine Korrektur ihrer Weiblichkeit gemeint. Erneut wird ihre “Jungfräulichkeit” im Sinne der Unkörperlichkeit beschworen. Sie wird so mädchenhaft, dass er “Mädchenhafteres nie gesehen hat”. Er hat schon vergessen, dass er sie eigentlich überhaupt nicht gesehen hat, sie ist für ihn Jungfrau, Schönheit, und damit wird der Briefwechsel zum literarischen Werk. Und als sie ihn dann berichtigt und auf die Bemerkung über ihre (nie gesehene) Schönheit einwendet — wohl eher “bloß hübsch”, da sind die Rollen schon verteilt. Sie, die ihre Lebensfülle demonstriert (zwei Stunden leben sind mehr als zwei Seiten Schrift), bleibt nun schon das Mädchen, das vom gelebten Leben nicht befleckt werden soll; er, dem “die Schrift vielleicht ärmer, aber klarer ist”, bleibt das Tier, das es wagt, seine “krallige Hand” hervorzuschieben und zu reichen.
Die Klarheit, die Reinheit der Literatur, die Wonne des Schreibens, wird hier mit dem Verzicht auf alle anderen Du erzielt, also auf die vitale Voraussetzung alles Befruchtens und von daher: — in der (freiwilligen, gewollten) Ausgliederung aus der Teilnahme am Wunder des Lebens (wieder das “Mysterium der Vitalität”) entsteht das Gefühl der Bewegung irgendwie außerhalb der eigenen Art von Lebewesen. Manchmal um eine Klasse oder Familie nach Linné niedriger — im Tierreich als solchem.
Denn täuschen wir uns nicht, die Briefe an Milena sind ein konzipiertes Prosastück, sie sind eigentlich Schreiben hoch zwei, in dem die Personen gleichzeitig aus Fleisch und Blut sind — und doch Figuren, wo schließlich auch der Verlust des Gegenparts (der der anderen Briefe) und das Anvertrauen seiner Version jemandem, der den Text auch hätte nicht aufbewahren können, einfach nur die äußerste Art und Weise des Schaffens sind, der Sieg der “Schrift” über die nackte biologische Zeit.
Die Wonne solchen Schreibens ist jedoch die Wonne der Angst. Umso stärker (um so wonnevoller), je mehr das Leben dessen auf dem Spiel steht, der vielleicht noch verwandelt werden darf! Der Mythos handelt doch von der Rückverwandlung des Tieres in den Menschen.
Und das versucht Kafka. Mit dem Einsatz seiner selbst, der von vornherein bezweifelt wird (ihm ist “wie Napoleon”, der jedoch beim Einfall in Russland schon “vorher das Ergebnis kannte”). Aber gerade dieser Einsatz wird das dynamische, kathartische Element des “erhabenen, natürlichen Theaters” bilden, des Dramas dieser Briefe. Denn schließlich muss die Schöne dem Ungeheuer die Hand reichen.
Das Fernrücken und Herbeirufen dieses Augenblickes, das ist der “Kampf” um dessen “Beschreibung” es hier geht.
Der Kampf um das Leben — um seins —, das so plötzlich auf sich aufmerksam macht.
Und es naht die Berührung, die eigentlich mütterlicherseits Streicheln sein sollte; sie wird ein Aufprall. Das mädchenhafte Mädchen bringt es nämlich bei aller Vorsicht, allem Sinn für die Ansprüche an Mütterlichkeit der Beziehung nicht fertig, sich vom Strom des Lebens zu trennen, denn sein Gesetz befiehlt ihr — soll sie je lieben — die Verwandlung. Es ist die eine dreifache, die auf immer geschriebene, die bedeutet, sich alles Mädchenhaften zu entledigen, soll es je Weiblichkeit werden, die wieder Mütterlichkeit schafft. Oder in alter Weise: aus dem Kore Aphrodite und — Demeter.
Die männliche Unveränderlichkeit ist ihr verschlossen, das männlich-eine Wesen, und werde es von wenn auch immer noch so ausgebildet sein, und schaffe es selbst sich gerade in der “Schrift” seine Klarheit, seine Transzendenz, ist ihr einfach zu wenig.
Und überhaupt soll Kore die Fähigkeit zur Aufhebung des Zaubers gewinnen, muss sie selbst erst die eigene Triade durchmachen, erst dann kann sie erlösen, die Vereinsamung aufheben, den Panzer brechen, zur Ganzheit verhelfen, das Leben ausbreiten, die Zeit aufheben und die Unsterblichkeit spüren lassen.
Und umgekehrt: sie in diesem Übergreifen nicht anzunehmen, ihre “kathartischen”, erneuernden Wirkung zu entsagen, ihre, wenn sie so wollen — nun, Reinheit, nicht zu durchstoßen, bedeutet dann, aus ihr Kirke zu machen, diesen Schrecken alles Patriarchalischen. Diejenige also, die verzaubert, die animalisiert, in ein Schwein verwandelt, das Symbol des Unreinen — und natürlich in die Opfergabe, mit der die Alten gerade — Demeter (!) ehrten.
Deshalb ist das erste Treffen der erste Abschied.
Milena und Kafka treffen sich in Wien. Das Mädchen bekommt ein Gesicht, ihr Unirdischsein und ihr Bewundernswertes beginnen zu welken.
Eine gewisse Zeit dauert es noch. Die Heftigkeit des Aufpralls der Eidechse, um wieder zu Kafkas Metapher zurückzukehren, bringt den Käfer ins Rollen.
Er rotiert, die Beine berühren immer wieder für eine Weile die Erde. Und so lange diese Bewegung dauert, besteht hier so etwas wie das Kräfteschöpfen der Titanen. Es gibt Hoffnung und Angst — jetzt eher vor dem Verlust als dem Nichterlangen. Aber nur, bis sie noch einmal zusammenkommen, für einen Nachmittag in Gmünd ihre Frage stellt.
Es ist die ein Fragen “im Dorf”, dessen Zögling sie ist. Es klingt sehr unschuldig. Und ein wenig rituell, eigentlich formelhaft. Sie fragt ihn, ob er ihr untreu gewesen sei. In der Sprache des Dorfes und der Erde bedeutet es nur, ob ihr auch, sie ihm, “treu” war. Es ist nur die Bitte um Erlösung von der Schuld, eine Bitte, die selbst zuerst von Schuld erlöst. Sie verwischt die Vergangenheit, öffnet eine “Pflichtloge”. Das Weiblich, das Demeterhafte, lässt aber nicht mehr mit sich handeln.
Für denjenigen, der das “Dorf” nur “böhmisch” annimmt, ist das die reine Nichtsprache.
“Wie kann es geschehen, daß man so spricht?” reagiert und mit diesem Satz ist “Die Schöne versus Das Tier”, ein Stück des Dr. jur. Kafka in Briefen fertiggeschrieben. Der Käfer hat sich zu Ende gedreht, er liegt wieder auf dem Rücken. Der Versuch um das Dort findet nicht mehr statt. Wir wissen noch, dass der Landvermesser vor Erschöpfung zwischen dem Dorf und dem Schloss stirbt. Alles, was weitergeht, ist nur noch der “natürliche Todeskampf eines Tieres.”
Milena erkennt das instinktiv, atmet es ein, und erst jetzt, als derart klar ist, dass hier auf den Tod hin gearbeitet wird, begreift sie und mobilisiert ihre Fähigkeit der Liebe, zu der sie aufgerufen war … und die Kafka so hervorgerrufen hat, ohne sie jedoch jetzt annehmen zu können. Er will, ja darf nicht mehr gestört werden.
Der "leben-gebenden” Mutter Milena ist nur noch gestattet, den Nekrolog zu schreiben.
Jiří Gruša, Seite 198 - 222. Essays und Studien bis 1989, Essays I, Wieser Verlag - 〈Vábení na vsi aneb Panna a Netvor od Franze Kafky. Listy 14,1984, Nr. 3, S. 36-42.
Deutsch: Die Verlockung auf dem Dorfe oder Die Jungfrau und das Ungeheuer in Nach erneuter Lektüre. Franz Kafkas “Der Prozeß”. Ed. H. D. Zimmermann, Würzburg: Königshausen u. Neumann 1991, S. 251-267〉
In diesen frühen Essays musste der Schriftsteller und Diplomat Jiří Gruša noch nicht Rücksicht auf ein Amt nehmen, er war noch freier Schriftsteller, freilich einer, der bis 1981 unter dem Druck des Kommunismus stand, der eine freie Rede nicht erlaubte. So sind manche dieser Essays vorsichtig formuliert und doch voll Widerspruchsgeist. Sie erschienen in tschechoslowakischen Zeitschriften wie „Tvar“, „Sešity pro literaturu a diskusi“ und in „Literárni noviny“, aber auch in der Untergrundpresse.
Die Aufsätze, die Gruša nach der sowjetischen Invasion 1968 schrieb, sind historische Dokumente, die heute noch erschüttern. Sie zeigen nicht nur die brutalen Folgen der damaligen Invasion, sondern die Folgen jeglicher Diktatur. Insofern haben diese Aufsätze ihre Aktualität bewahrt: Sie bringen das Streben nach einer freien Literatur und Presse als Bedingung freiheitlicher Entwicklung nach den Verheerungen von Nationalsozialismus und Kommunismus zum Ausdruck.
Die Essays ab 1981, als Gruša in die Bundesrepublik abgeschoben wurde, sind von anderer Art; jetzt konnte Gruša unzensiert schreiben, auch in englischer oder deutscher Sprache, wenn er auch erst „in der Sprache meiner Freiheit“, wie er das Deutsche nannte, heimisch werden musste. Die Trennung von Prag, von Familie und Muttersprache, die neuen politischen und gesellschaftlichen Strukturen, in denen er nun lebte, auch die Sorge um die Zukunft Mitteleuropas, all dies spiegelt sich in den Essays nach 1981. Das Ringen um die Kompetenz in der neuen Sprache brachte Gruša bis an die Grenze seiner Kraft, dann fand er den glänzenden Stil im Deutschen, den er im Tschechischen erreicht hatte. So zeigen diese Essays Gruša als einen weitschauenden, scharf analysierenden, pointiert formulierenden europäischen Intellektuellen von Rang.
Der Prager Herausgeber Dalibor Dobiáš, der noch mit Gruša vertrauensvoll zusammenarbeitete, hat die Essays zusammengestellt, mit sachkundigen Anmerkungen versehen und so dem heutigen Leser erschlossen.
Jiří Gruša, geboren 1938 in Pardubice (Böhmen), gestorben 2011 in Bad Oeynhausen, Studium der Philosophie und Geschichte an der Prager Karls-Universität. Mitwirkender am Prager Frühling; Journalist, Lyriker, Prosaist, Essayist, Übersetzer, Arbeitsloser, Schriftsteller, Intellektueller, Dissident, Politiker, Botschafter und inniger Freund von Václav Havel. Präsident des Internationalen P.E.N.; von 2005 bis 2009 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien; zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen.
1 Der bedeutendste damalige tschechische Literaturkritiker Arne Novák in einer Rezension des Golems von Meyrink, veröffentlicht in der Tageszeitung Agrarpartei Venkov am 12. Mai 1917
2 Prag ist im Tschechischen weiblich.
3 Julius Kraus: Prag. Ein Roman von Völkerzwist und Menschenhader. Wien/Leipzig 1908.
4 Näheres in der Studie: über die deutsch-tschechische erotische Faszination von Pavel Eisner: Milenky, Praha. 1930
5 František Kaufmann im Vorwort (Kafka a Milena) zur tschechischen Ausgabe Briefe an Milena: Dopisy Mileně. Praha 1968.
6 Jaroslav Dresler in der Studie Kafkas Milena. Milena Jesenská. Cesta k jednoduchosti, erschien in der Edtion Archa, Eggenfelden 1982
7 Häufig zitiertes Zeugnis des tschechoslowakischen Literaturkritikers Josef Kodíček, eines Angehörigen der Generation Milenas, der nach 1948 emigrierte. In the Mood 535. Radio Free Europe. Cs. Broadcasting, München 11. Juni 1953.
8 Milenas Aufsatz “O umění zůstat stát”, Přítomnost, 5. April 1938. S. 205. Es geht um einen Aufsatz, mit dem Milena auf die deutsche Okkupation der Tschechoslowakei reagiert: “Stehenbleiben” ist also ein Anruf an das Volk.
9 Nach Jana Černá: Adresát Milena Jesenská, Praha 1969. Erinnerungen der Tochter Milenas, Jana Černá, die in Prag noch erscheinen konnten — in begrenzter Auflage, die dann zurückgezogen und vernichtet wurde. Jana Černá (1928-1981), tschechische Schriftstellerin mit tragischem Schicksal, ist eine authentische Zeugin vor allem für die “Familientradition” und die Atmosphäre der Jesenkýs. Unser Zitat ist auf S. 8. des Buches.
10 Vgl. Jana Černá, S. 22 und 23, Jaroslav Dreseler, S. 95, psychologisch bedeutend erscheint vor allem jene Szene, in der Jesenský — plötzlich zu einer schon vor sich gehenden Abtreibung erscheinend —die Tochter mit endlosen "Zahlmärchen" von Schafen, die in unendlicher Anzahl über einen eng Steg gehen, beruhigt.
11 Briefe an Milena. Frankfurt am Mai 1952 S. 122. Die Frage der “lesbischen Disposition” bei Milena Jesenská wird in Jaroslav Dresler, S. 95. positiv beantwortet durch das Zeugnis des Schwagers von Milenas vermuteter Partnerin. Als Fama hat sich diese Behauptung (polemisch schon vor Margarete Buber-Neumann verzeichnet in Kafkas Freundin, München 1963) in Prager Kreisen, die Milena kannten, noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch Jana Černá, S.15, eine Erinnerung an eine bedeutende tschechische Schauspielerin verzeichnend und ihren Versuch, Milena erotisch zu initiieren. Die Notwendigkeit, diese Geschichte ( Černá behauptet, sie als Kind von Milena selbst gehört zu haben) weiterzugeben oder überhaupt aufrechtzuerhalten, spricht für eine gewisse “Dringlichkeit” des Themas.
12 Jana Černá, S. 25 und in den handschriftlichen Erinnerungen von Slávka Vondráčková: Deset adres Mileny Jesenské (Milena v stínech i v slunci). Praha: inoffizielle Samisdat-Aktivitäten 1983 (Hrsg. von Marie Jirásková, ebenfalls von ihr das Vorwort), S. 16. “Brod irrte daher oder war nicht vollständig informiert, wenn er anführt, daß Milena in Wien mittellos war”.
13 Milena Jesenská: Feuilleton “Meine Freundin”, Tribuna, 27. Januar 1921, erschienen unter dem Pseudonym A.X. Nessey
14 Aus einem Brief von M. Husníková, veröffentlicht in dem Buch von S. Vondráčková (s. Anm. 12), S.29
15 Wertung Růžena Grebeníčkovás im Vorwort zu einem anderen Buch von Slávka (Slava, Jaroslava Vondráčková: Kolem Mileny Jesenské, Praha: Samisdat-Aktivitäten 1978.
16Charakteristik dieses Idoms in Duden. Stilwörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim 1970. Im Jahre 1910 schreibt der Zeitgenosse Kafkas, Christian Morgenstern, sein bekanntes Gedicht “Das böhmische Dorf” mit den Versen: “unverständlich blieb ihm alles dort,/ von dem bis bis zum letzten Wort” (Palmström).
17 Jana Černá, S.37: “So quartierte Ernst in ihre gemeinsame Wohnung noch seine Geliebte ein, eine nicht besonders intelligente, aber sehr schöne Frau …. und so lebten alle drei zusammen.” Diese Benevolenz würde für eine Art Bisexualität zeugen (egal ob realisiert oder nicht); auch das exzessive Verhältnis zum Vater wird hier mehr als gegeben. Die Atmosphäre um Polak ist auch bei Else Kornis interessant beschrieben: Kindheit und Jugend im alten Prag, Bukarest 1972.
Wert und Preis der Menschenrechte
Václav Havel Menschenrechtskonferenz 2017
Der Václav Havel Menschenrechtspreis wird seit 2013 jedes Jahr von der Parlamentarischen Versammlung in Partnerschaft mit der Václav Havel Bibliothek und der Stiftung Charta 77 vergeben, um herausragende zivilgesellschaftliche Maßnahmen zur Verteidigung der Menschenrechte in Europa zu würdigen. Nominierungen von Einzelpersonen, nichtstaatlichen Organisationen oder Institutionen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzen, werden berücksichtigt. Der Preis ist mit 60.000 €, einer Trophäe und einem Diplom dotiert und wird in Erinnerung an Václav Havel, Dramatiker, Gegner des Totalitarismus, Architekt der Samtenen Revolution von 1989, Präsident der Tschechoslowakei und der Tschechischen Republik, als Symbol der Opposition gegen den Despotismus verliehen.
2017 ging der Preis an Murat Arslan, dem ehemaligen Berichterstatter des türkischen Verfassungsgerichts und Präsident des jetzt aufgelösten Vereins für Richter und Staatsanwälte (YARSAV). Murat Arslan sitzt seit Oktober 2016 in der Türkei im Gefängnis. Die beiden anderen Kandidaten, die in die engere Wahl gekommen sind - das ungarische Helsinki-Komitee, eine NGO, die sich insbesondere auf den Zugang zur Justiz und die Rechte von Asylsuchenden und Flüchtlingen konzentriert, und Pater Georg Sporschill (Österreich), ein Jesuit, der seit dem Fall des eisernen Vorhangs Straßenkinder in Rumänien, Bulgarien und Moldawien betreut. Bekannt gegeben wird der Preisträger im Oktober in Straßburg, dem folgt anschließend die Konferenz in Prag.
In seiner Eröffnungsansprache stellte Michael Žantovský, geschäftsführender Direktor der Havel Bibliothek, tschechischer Diplomat und Politiker, Schriftsteller und Übersetzer, die Frage nach dem zu zahlenden Preis für die Verteidigung der Menschenrechte versus Sicherheit, Wohlstand, Demokratie, in den Mittelpunkt.
In der Vorstellungsrunde der drei Finalisten fehlte der in der Türkei inhaftierte Murat Arslan, an seiner Stelle sprach Christopher Régnard, Präsident der Internationalen Richtervereinigung, ein Befürworter der freien, unabhängigen Justiz. Bezugnehmend auf einem aus dem Gefängnis geschmuggelten Brief des Preisträgers wies Régnard darauf hin, dass die Abschaffung der Demokratie in der Türkei 2006 einsetzte, sich 2013 verschärfte als Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte die mit den Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung Erdoğan betraut waren, abgesetzt und inhaftiert wurden. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 hat der vom Präsidenten angeordnete Ausnahmezustand die Unabhängigkeit der Rechtsprechung abgesetzt, freie Journalisten und Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen werden inhaftiert oder daran gehindert, ihre Tätigkeiten auszuüben. Im Wiederaufleben eines weltweiten Nationalismus, der die Interessen des eigenen Staates über die der Menschenrechte stellt, sieht Régnard jenen Hauptgrund, der es Erdoğan ermöglicht, einen einstmals demokratischen in einen diktatorischen Staat umzuwandeln - bestätigt durch die stumme Zustimmung jener Staaten die vom im März 2016 abgeschlossenen Abkommen der EU mit der Türkei profitieren, welches den Zustrom der Flüchtenden aus den Kriegsgebieten reguliert.
Vater Georg Sporschill, der seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs mitten unter Straßenkindern lebt, verweist auf die geschätzten 12 Millionen Romas, die in Europa leben. Es gibt unzählige Organisationen, die darüber diskutieren, bei ihm steht das Zusammenleben, die Gespräche, die Arbeit - mit ihnen - im Vordergrund. Auf Havel verweisend sieht er den Umgang mit Romas und Flüchtenden als den Lackmustest für das soziale Gewissen unserer heutigen Gesellschaft. Er bezieht die Energie seines jahrzehntelangen Engagements aus der direkten Auseinandersetzung mit seinen Schützlingen. Straßenkinder von einst, sind in seine Fußstapfen getreten, setzen sein Werk fort. Er blickt, trotz zahlreichen Schwierigkeiten und Missständen im Sinne des Talmud-Zitats "Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt", optimistisch in die Zukunft.
Der dritte Finalist, Balász Tóth, Journalist und Rechtsanwalt, Vertreter des ungarischen Helsinki Komitees, setzt sich mit der Wahrung der Meinungsfreiheit in Ungarn auseinander. Die Situation vor Ort sei nicht vergleichbar mit jener in der Türkei oder in Russland. In Ungarn ist es möglich, persönlich eine Meinung frei zu äußern, doch Medien, die divers, investigativ berichten, werden entweder durch Orban nahe Kartelle aufgekauft oder wirtschaftlich ausgehungert, so dass sie eingestellt werden. Flüchtende, Romas, Juden, etc. werden als potentielle Gefahrenquelle für den Staat, Einschränkungen der Menschenrechte werden seitens der Regierung als sichernde Maßnahmen zum Schutz von Ungarn dargestellt. Schleichend und subtil wird die Meinungsbildung durch die Regierung gelenkt, einseitig beeinflusst.
Die Grundsatzrede von Irwin Cotler, ehemaliger Justizminister und Generalstaatsanwalt von Kanada, Menschenrechtsaktivist verwies auf die Weiterführung der geistigen Vermächtnisse von Elie Wiesel, Nelson Mandela und Václav Havel. Es ist wesentlich und wichtig sich nicht auf den bisherigen Errungenschaften der Menschenrechtsbewegung auszuruhen, sondern mutig und immer wieder aufs Neue, angepasst an die sich wandelnden Rahmenbedingungen der Gesellschaft, die Würde des einzelnen Menschen, unbesehen von Nation, Rasse, Religion und Geschlecht, in den Mittelpunkt zu stellen, denen beizustehen, deren Rechte eingeschränkt werden. Die Kriegsverbrechen die sich in den Augen der Weltöffentlichkeit abspielen: der Völkermord in Ruanda, der Bürgerkrieg in Syrien, der Rückkehr von totalitären Regimes weltweit zeugen davon dass jener Teil der Welt, der in Reichtum eingebettet ist zu einer ego konzentrierten Erwerbsgesellschaft geworden ist, dem Erhalt und Ausbau des eigenen Wohlstands wird alles untergeordnet.
Drei daran anschließende Diskussionsrunden versuchten aufzuschlüsseln, wer entscheidet und verantwortet den Wert der Menschenrechte gegenüber den Bedürfnissen nach Sicherheit und Wohlstand. Ist es gerechtfertigt im Namen der Sicherheit - aus Angst vor Terrorismus - die Freiheit einzuengen? Besteht ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem legitimen Ziel, die Zivilbevölkerung zu schützen, und dem Erhalt der Freiheit und Rechte, die im Zentrum der liberalen Demokratie stehen? Ausufernde Kontrolle hilft den wiedererstarkten nationalen Tendenzen, trägt jedoch nichts dazu bei, jene Ursachen aus denen Terrorismus entsteht zu beseitigen.
Geschäftsleute und Politiker zögern, die Probleme der Menschenrechte mit Regierungen und Geschäftspartnern im Ausland aufzudecken und Sanktionen gegen Regierungen anzuwenden, die Menschenrechte verletzen. Eine offene Debatte über Menschenrechte wird wegen wirtschaftlicher Interessen ausgeklammert, als Beispiel wird China angeführt. Dort hat eine sich ständig ausweitende internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit zu keinerlei Verbesserungen der Menschenrechte innerhalb des Landes geführt. Exekutionen werden nach wie vor durchgeführt, sie werden nun besser verschwiegen, um das Gewissen der Wirtschaftspartner nicht zu belasten. Die verbesserte Außenhandelsbilanz hat für Staaten mehr Gewicht als die Fragen nach der Etablierung und der Einhaltung von Menschenrechten.
Der Schutz der universellen Menschenrechte gehört zu den Grundsätzen eines liberalen demokratischen Systems. Inwieweit können Menschenrechte ignoriert, vernachlässigt oder eingeschränkt werden, ohne den Kern des demokratischen Systems zu korrumpieren? Aung San Suu Kyi ist nach außen hin Regierungschefin, doch die kontrollierende und ausführende Macht im ehemaligen Burma, jetzigen Myanmar, liegt nach wie vor beim Militär. Roland Oliphant wies punkto Russland darauf hin, wie innerhalb von Russland über die Situation in der Welt und über das eigene Land berichtet wird. Putin ist es durch allein von seinen politischen Interessen gelenkten Medien gelungen, das Weltgeschehen so darzustellen, wie es seinen Intentionen entspricht.
In seinen Schlussbemerkungen wies Karel Schwarzenberg, ehemaliger tschechischer Außenminister, ehemaliger Präsident der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte, darauf hin, dass als Havel zur Samtenen Revolution aufrief, die Menschenrechte in Europa in Mode waren. Ein Vierteljahrhundert später feiert der Nationalismus Auferstehung. Nicht allein in der Türkei, auch innerhalb der Europäischen Union haben sich die Werte hinsichtlich Menschenrechtsfragen hin zu nationalen Egoismen verschoben. Innerhalb dieses Forums sind sich alle einig, dass die Werte der Menschenrechte nachhaltig verteidigt werden müssen, doch es geht darum, diese Botschaft über den kleinen Kreis der Engagierten in die Welt hinauszutragen, um den wiedererstarkten Nationalisten, die ihre Anhänger mit Ängsten gegen das Fremde füttern, Stirn zu bieten. Versäumen wir dies jetzt, könnten wir unversehens in einer vom Totalitarismus bestimmten Weltordnung aufwachen.
Milena Findeis, Prag, 12. Oktober 2017
Jiří Gruša
Franz Kafka - Jaroslav Hašek
Jiří Gruša (im Bild eingeblendet oben links), Werkausgabe, Wieser Verlag. Vorstellung eines weiteren Bands der Jiří Gruša Werkausgabe am 28.3.2017 im Österreichischen Kulturforum Prag von Lojze Wieser, Verleger (rechts)
Lojze Wieser "Jiří Gruša war einer von jenen, die seiner Zeit immer um vieles voraus gewesen ist. Wie sehr, das merken wir mehr und mehr wenn wir seine Essays, heute — jetzt — lesen".
Auch Jiří Gruša ging nicht ganz von allein, fort. Er wusste schon zu Hause was zu sagen, und das Erzählen ward ihm auch bald verboten. Hier ging einer fort, der gar nicht gehen wollte, kam an in einer fremden Stadt und war den einstigen Pass auch bald los. War ein Staatenloser nun, einer, der dann später, in den deutschen Landen, wieder Heimat fand und einen Pass. Und der, der immerfort, dem Wort vertraute, kann nicht verloren gehen, auch wenn er gehen muss, findet er in den Versen sein Ruhekissen und in Romanen seinen Schweijk. In ihm die Kraft, der Welt zu trotzen. Fragt nicht nach Nutzen, wenn er seine Unterschrift auf ein Papier setzt, das ewig währen wird, weil die Tinte, mit der er's tat mit seinen Kumpanen, Charta hatte. Nicht fragt, ob der Mut belohnt wird und unterwegs so manche falsche Krone traf, die nach Bezahlung lechzte. Es zahlt sich aus, Mensch zu sein und einfach aufrecht. Uns hat er mit Kumpanen gezeigt, was es heißt, von Dauer zu sein. Ob auf Papier, oder nicht, das Wort im Herzen aufbewahrt, wird Papier bei Weitem überdauern.
So fand er sich in fremden Ländern und war doch immer bei sich zu Hause, und wenn er daheim war bei sich, war er meist ein Fremder. Gerade drum war er wohl immer dann, wenn er gebraucht wurde, da. Tat, was er tun musste und schöpfte aus dem Wort-Brunnen in seinem Herzen. Als Politiker und Diplomat, als Schriftsteller und Präsident. Denn, er wollte immer alles, alles sagen. Sein Witz und das Lächeln seiner Augen sagen uns jedoch noch heute, was in Wort nicht zu fassen ist. Er hat uns was zu erzählen. Achoi!
(Ante scriptum zum Buch Antworten. Zum 70. Geburtstag von Jiří Gruša, 2008)
Lojze Wieser - Seite 153, Im dreißigsten Jahr - Weitere Anmerkungen eines Grenzverlegers
Um das gestrige, heute, zukünftige Tschechien zu verstehen empfehle ich die Werkausgabe Jiří Gruša, Wieser Verlag, zu lesen. 1938 in Pardubice (Böhmen) geboren, studierte Jiří Gruša Philosophie und Geschichte an der Prager Karls-Universität. Am Prager Frühling hat er sich als Journalist, Prosaist, Essayist, Schriftsteller aktiv beteiligt. Das machte ihn zum Arbeitslosen, Dissidenten, nach der samtenen Revolution zum Botschafter in Bonn, tschechischen Bildungsminister, Botschafter in Wien. Er war ein Freund von Václav Havel, Präsident des Internationalen P.E.N und von 2005 bis 2009 Direktor der Diplomatischen Akademie Wien. Jíří Gruša starb im Oktober 2011, sein Wirken, seine Werke erhielten zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen. Grundlage der zehnbändigen Werksausgabe Jiří Gruša ist die in tschechischer Sprache erschienene und von Dalibor Dobiáš betreute Werkausgabe im Barrister & Principal Verlag.
Milena Findeis
Zwei Aufsätze zum hundertsten Jahrestag (1983)
Jiří Gruša
Diese beiden Essays schrieb Jiří Gruša als Dissident, nach seiner Ausreise im Dezember 1980 in den Westen über München, Toronto und von dort aus nach Bonn. "Dvě stati k stému výročí" für die Zeitschrift Listy 13, im Jahre 1983. In deutscher Sprache "Der Schuß von der Marienschanze" und "Ausflug in die Geschichte" .
1. Der Schuss von der Marienschanze
Aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzt von Michael Stavarič
"Raban schaute auf die Uhr eines scheinbar nahen, ziemlich hohen Turmes, der in einer tiefer gelegenen Gasse stand. Eine kleine, dort oben befestigte Fahne wurde, für einen Augenblick nur, vor das Ziffernblatt geweht. Eine Menge kleiner Vögel flog herab, fest aneinander geschlossen und auseinander gespannt. Es war fünf Uhr vorüber. Raban stellte seinen mit schwarzem Tuch benähten Handkoffer nieder, lehnte den Schirm an einen Türstein und brachte seine Taschenuhr, eine Damenuhr, die an einem schmalen, schwarzen, um den Hals gelegten Band befestigt war, in Übereinstimmung mit jener Turmuhr ..."
Diese eigentlich kleinstädtisch-idyllisch anmutende Szene aus Kafkas frühem Romanfragment Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande ist mit einer Genauigkeit in Prag angesiedelt, dass sie auf einem Stadtplan eindeutig zu bestimmen ist. Prag hatte sich damals, etwa 1907, noch nicht in jenes Überall und Irgendo verwandelt (wenn auch für das tschechische Auge immer die ursprüngliche Höhenlinie des genius loci durchscheint), das die synthetische Landschaft des reifen Kafka bilden wird. Und es war jene Fahne, die — zum Zeichen, dass astronomisch (eigentlich astrologisch) alles noch (heute noch) in Ordnung ist — auf der Galerie der Dientzenhofer'schen Sternwarte im Klementinum, wo man den Stern des Reiches bewachte, Tag für Tag in Richtung Hradschin aufgezogen wurde. Mittag für Mittag gab der Verweser der k.u.k. Zeit dem k.u.k. Feuerwerker, der das Geschütz auf der Marienschanze bediente, damit das Zeichen zum Schuss. Die Zeit der Türme konnte so aufs Neue abgestimmt werden, die Beamten stellten die Uhren, und auch die Prager versuchten, ähnlich wie Raban, wenigstens für diesen Moment und irgendwie instinktiv in althergebrachter Weise ihre innerlich abweichende Zeit mit der von Stein und Turm in Übereinstimmung zu bringen. Als ob mit dieser Geste die Unsicherheit überwunden werden könnte, als ob in der Zeit überhaupt irgendein Dauern enthalten wäre. Denn das Maß auf dem Turm ist eine Institution, es ist (oder war) eigentlich Asyl —und mit ihm übereinzustimmen, bedeutete auch, in seiner alten, unstreitigen Seligkeit geborgen zu sein. Doch die Uhren in Böhmen gingen schon verschieden. Im Judenviertel sogar nach außen hin rückwärts, und in den Palästen der Kleinseite war es, als ob sie A. D. 1806 stehen geblieben wären, denn dorthin wies das Zifferblatt des alten römischen Reiches. Und die tschechischen schienen aus dem Takt — wenn es denn überhaupt Uhren waren und sich die tschechische Seele nicht immer noch bäuerlich an der Sonne und an den Hühnern orientierte. Während es schien, dass der deutsche Chronometer immer hektischer tickte, voller Ungeduld, irgendeine Ordnung zu schaffen, irgendein Entweder-Oder, irgendein Zählen wieder von null an aufwärts, von wo man übersichtlich zählen konnte - als ob die Null nicht eine zwar kleine, doch kaum zu übersehende Möglichkeit böte, sich herabzulassen ins Reich der negativen Zahlen.
Nein, nein, die Zeit in Böhmen war erschüttert, und nur der Schuss rief zu einer wenigstens formalen Korrektur. Dann jedoch verklang das Dröhnen, und die aufgescheuchten Tauben kehrten jede zu ihrem Krümelchen zurück, zu ihrem Stein im Pflaster Prags.
Jede Form des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit, auch jede Form des Herrschens und Beherrschens und auch jede Beziehung zum — sagen wir — Übersinnlichen war unsicher geworden. "Schloss", "Ghetto" und "Dorf" als bisher gültige Symbole der Verankerung gerieten in Bewegung, und Prag als Legierung dieser drei, als das größte Dorf, als die größte der Kleinstädte, schwamm eigentlich schon auf einem Eisberg. Vorbereitet hatte sich diese tektonische Verschiebung schon lange. Damals schon, als das nachreformatorische Böhmen von oben und mit Gewalt rekonstruiert und ihm gerade in dieser, der barocken Kultur eine Einheit aufgezwungen wurde, die zwar den bisherigen Partikularismus des Glaubens und der Politik überwand, jedoch auf dem Prinzip der Rollenteilung zwischen Schloss und Dorf beruhte (mit dem angeklebten Bienenstock des Ghettos), damals schon also stellte diese Teilung im Unterschied zu anderen Ländern nicht nur eine soziale, sondern auch eine mehr oder weniger ethnische Schichtung dar — jedenfalls dort, wo diese drei Bestandteile ihren deutlichsten Ausdruck fanden. Bei aller Blutigkeit ihres Entstehens war diese Gemeinschaft schließlich fruchtbar und kennzeichnete ihre Akteure auf Dauer. Äußerlich freilich zusammengeflickt durch Habsburger Rohgarn - durch die eigentlich "konfuzianische" Institution des Kaiserreiches also mit seinem Mandarinismus der Beamtenschaft, mit seinem vom Ausland abhängigen Adel und mit einem Militär, das in erster Linie eben das Militär des Reiches war (und dann erst Böhmens) — konnte sich diese fast "chinesische" Staatsreligion (deshalb ist auch die chinesische Metaphorik bei Kafka nichts Exotisches) nur so lange halten, wie ihr barockes Fundament dauerte, oder so lange, wie sie durch es und in ihm transzendierbar war.
Sie zeigt zwar noch eine unglaubliche Lebenskraft im fast hundertjährigen Kampf mit der Aufklärung, die (ähnlich wie Kafkas Nomaden) aus dem Norden kam, aber schließlich unterliegt sie ihr. Der staatliche Versuch, die Vergangenheit dorch irgendwie zu erneuern, bleibt im Biedermeier stecken, in jener "Verstandesromantik", deren üppige Blüte jenes Zeitalter überspannt, in dem vielleicht eine andere Einheit in einer Art — sagen wir — Wahlverwandtschaft erreichbar gewesen wäre. Deshalb ist der Augenblick, im dem ein gewisser Hermann Kafka geboren werden "darf" (denn die Bindung an Ort und Schicksal entfällt), auch der Augenblick, zu dem von unten jene Bewegung begonnen wird, in der das einst von oben Verbundene sich aufs Neue in seine Bestandteile auflöst. Das Schloss schließt sich, fast instinktiv, um so mehr in sich zusammen. Es ragte auch so schon eher stiefväterlich als väterlich über die Gegend, es wird deshalb nicht schwerfallen, es für fremd zu halten und natürlich ohne "auctoritas" (ohne Autorität, aber von "augere" — "sehen", "vor Augen sein", "sich selbst offenbar sein" — her verstanden), denn die Augenfälligkeit seines Sinnes wird infrage gestellt, ohne dass es selbst aufhört, Sitz der Lebensfülle und des Willens zu sein. Das unterstreicht nur das Anderssein des Schlosses, sein Geheimnis, das jedoch anlockt - ähnlich wie jene dreizehnte Kammer, in die zu gehen zwar verboten ist, die aber um so mehr reizt, geöffnet zu werden — falls überhaupt etwas darin ist. So wird das neunzehnte Jahrhundert in Böhmen zum Jahrhundert der Eroberung des Schlosses oder — mit Kafka — des Versuches, auch dort einzudringen. Das Dorf entvölkert sich — paradoxerweise: denn es wird größer. Ja, gerade in dem Maße, in dem es eine typisch tschechische Kommune war und also zweckvoll reduziert auf sein chthonisches Wesen, auf sein "Slawentum" und dessen doch eher matriarchalischen Charakter (in dieser Hinsicht war es ohnehin dem patriarchalischen Schloss unverständlich — ein böhmisches Dorf). Es ist zwar entschlossen, sich dieses Bauwerks auf der Anhöhe zu bemächtigen, aber der Weg nach oben führt vom bekannten Boden — und bedeutet Verlust, bedeutet "Bodenlosigkeit". Und wieder paradoxerweise: In den Werken größerer Lebensfülle und Wollens heimisch zu werden, bedeutet gerade von diesem Punkte an in Übereinstimmung mit dem vergangenen (allem vergangenen) Wollen zu wollen, oder: herrschaftlich zu wollen. Dafür aber war die Unterbrechung zu lang, und keiner Berufung auf den Status quo ante ist es gelungen, die eigene Ratlosigkeit und die tiefsitzende Gewohnheit, sich ein Stockwerk tiefer zu bewegen — unter dem Schloss —, gänzlich zu überbrücken. Der tschechische Weg zur Geschichte beginnt deshalb mit der in gewisser Weise kindischen Bejahung von Geschichtslosigkeit. Diese Eroberer des Schlosses werden gefährlich stigmatisiert sein: in ihrem plebejischen Verhalten. Und auch das Ghetto öffnet sich. Und ebenso trügerisch. Als ob es sich da inmitten einer Kluft befände, die zwischen Dorf und Schloss entstanden ist. Eigentlich geht es wohl eher unter, und diejenigen, die sich herausarbeiten, stellen plötzlich fest, dass sie ihr Woher weiter mit sich tragen.
Drei Zeiten ticken unterschiedlich. Drei Gemeinschaften sind in ihrem Wesen vom Verlust der Identität betroffen. Das ist der "Prozess", der hier abläuft, und Österreich, diese "Menschheit im Kleinen", ist ihr Weltlaboratorium. Der Schuss von der Marienschanze kann das nicht mehr überdecken. Eher unterstreicht er die provinzielle Einrichtung des Laboratoriums, die derart im Kontrast steht zur Bedeutung des Versuchs, der hier stattfindet. Ja, die Szene ist die Kleinstadt, denn Dorf und Schloss und natürlich auch das Ghetto haben sich bei all ihrem verbissenen Voneinander-Ablösen in dieses biedere und grausame Nest des Kleinen nivelliert, in dem die Groteske blüht. Denn auch sie ist bieder — und grausam.
Noch sind hier alle beisammen. Noch kommt aus ihrer Mitte, aus der Mitte Böhmens und aus der intimsten Mitte der Stadt dieser F. K. Noch planen sie die Zukunft — als das, was im Rhytmus der Zeit, dieser ihrer Zeit, für sie arbeitet. Nur in jener Kluft — in der das ehemalige Ghetto sich befindet —, nur in ihr und nur (am ehesten) aus ihr lässt sich ersehen, dass die Zukunft auch etwas sein kann, was auf den Menschen herabstürzt. Dass die Zeit auch das Ende der Zeiten sein kann und der Gegenwart' Fehlen und Fragen — vernichtende "Verwandlung". Die Augen Raban-Kafkas sind aufnahmefähig. Im Unterschied zu denen aus dem Schloss haben sie die Erfahrung der Paria (gemeinsam mit dem Dorf), aber sie sind nicht plebejisch, denn in ihnen leuchtet das Bewusstsein uralter und auserwählter Herkunft. Und natürlich auch der ererbte Sinn für die Endzeit, und für das "Gericht" über sie. Deshalb kann K. quer zur Zeit gehen — durch jene Vergegengewärtigung, die noch nicht im gerade Vergangenen ist. Er kann "die Zeit aufheben", ohne dass sein "Jetzt und Gestern" vergeht. Später wird er schreiben: "Er hat zwei Gegner: der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem zweiten: denn er will ihn nach vorn drängen; und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten: denn er treibt ihn zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, dass er einmal in einem unbewachten Augenblick — dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster, wie noch keine war — aus der Kampflinie ausspringt und nach seiner Kampfeserfahrung sich zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhebt."
2. Ausflug in die Geschichte
Aus dem Tschechischen übersetzt von Michael Wögerbauer
"Allen Angehörigen der tschechoslowakischen Revolutionsarmee wird strengstens befohlen, Jaroslav Hašek, möge er sein, wo und wann er wolle, festzunehmen und unter Bewachung vor das Feldgericht zu bringen", ordneten die tschechischen Legionäre per Befehl Nr. 203 von 1919 an, und von da an machten sich Jäger auf, um Hašek festzunehmen und in irgendeinem literarischen Steinbruch hinzurichten. "Der Betreffende" versteckt sich freilich, kommt nicht zur Vorladung, steht nicht zur Verfügung. Und auch sein Schwejk wartet gewiss nicht (wie Josef K.), bis sie kommen, ihn zu holen, ja sogar, als er schon festgenommen ist, versucht er seine Henker noch zu überzeugen — wenn nicht von seiner Unschuld, so dann doch davon, dass er ihnen das Umbringen nicht wert sei. Genauer gesagt die Hinrichtung.
Und während tschechische Soldaten den Verräter durch die Umgebung von Omsk jagen, hat der "größte tschechische Schriftsteller" schon eine ganze Reihe von "Verraten" hinter sich. Eigentlich bleibt nur noch der letzte über, jener am Bolschewismus ... und dann zurück nach Böhmen, um "mit traurigen Augen" eine gewisse Geschichte über einen "Trottel bei der Kompanie" fertig zu schreiben. Es sind also knapp fünf Jahre, zu deren Beginn er sich — wegen des Haftbefehls — in einem Trottel verwandeln muss, "in eines deutschen Kolonisten aus Turkestan Sohn, der von Geburt an stumm und blöde ist."
Er hat Erfahrung mit Verwandlung. Viele hat er hinter sich, und sie waren vielgestaltig.
Wie beinahe jeder tschechische Mann der Feder stammt er noch höchstens zwei Generationen zuvor aus Rüpelhausen (tschechisch nicht "châteux" geschrieben, sondern "chaumières", eine stark-schwache Mutter, wie es sich wiederum für das tschechische Böhmen gehört; er wird also ein Student sein, der gegen die Schwüle des erotischen Prag ebenso kaum widerstandsfähig ist wie gegen das beständige Wetter der promiskuitiven Stadt, die sich schon entdörflicht, metropolisiert, und dabei ihren tschechischen cunnus unterstreicht. Der Sohn aus Lehrerbrut (oh tschechische Schreibe, Brachland der Supplenten!), wo es eben öde ist. Der Vater hat geendet, vermutlich im Trunk — also ein entblichener Vater, gegen den der Mutter laue Gerechtigkeit und Regierung-Nichtregierung steht (keine Onanie der Schuld wie bei den Kafkas), denn zu den böhmischen Söhnen spricht hauptsächlich die Mutter, etwas hysterisch, aber sensibel und willig. Auch vergebungsvoll, wenn man bei ihr beginnt (unter dieser Bedingung), verzeihend, nun, alles beinahe. Wenn er kein literarisches Talent gehabt hätte, so hätte er mit diesen Voraussetzungen eine Laufbahn als Berufserlöser und Berufsvergewaltiger (von einem gewissen Uljanow bis hin zum Klar der heutigen Terroristenszene sind das meist Muttersöhnchen aus Lehrerfamilien). So absolviert er das alles nur: Er wird Anarchist, ja inspiriert vielleicht sogar Expropriationen, wie man damals schon den soeben ideologisierten Raub zu nennen pflegte. Aber seine Sehnsucht nach Ordnung für andere, diese Libido alles Anarchischen, ist so frei von Selbstentsagung, dass man sie einfach nicht zur Ausdauer bewegen kann. Und so auch zu keiner Uniform, auch nicht zu jenem handgemachten Netz, d. h. zum Kostüm nach eigenem Geschmack, das, wenn man es lange genug (und mit reichlich Faszination) trägt, sogar zu einer Uniform werden könnte; es beginnt die Zeit der Rot- und Braunhemden. Als wäre er behext vom eigenen Trieb zur Nachahmung, zur Mimesis, aber nur zu gelebten, die nur als Ausprobieren begriffen wird und als zwar eröffnete, doch nie als Lösung akzeptierte Möglichkeit. Er legt seine Trachten einschließlich der städtischen ab, die er in der "Gartenlaube" angezogen hat für Jarmila Mayerová, die begabte Tochter eines bedeutenden Hauses. Er heiratet sie (Mutterbübchen plagen ihre Lieben nicht mit Abfuhren à la Franz), dafür aber reißt er schnell aus, obgleich er auf sein geordnetes Leben verweist. Auf der Brüstung der Karlsbrücke versucht er (frei nach dem Urteil) den Austritt aus der Ehe, indem er sich "zum Tode durch Ertrinken" verurteilt, doch es rettet ihn ein Wohltäter. Das Urteil wird schon bald vollstreckt. Hašek springt ins "bios", in eine unterschwellige Strömung des Lebens, wo er zwar nur langsam, aber doch ersäuft.
Der Frau hinterlässt er einen Sohn und ein bankrottes Geschäft mit Hunden. Er hat es ihr überschreiben lassen. Ja, ein Hundehändler, Clochard und Poet. Wie jeder Studenten-Böhme hat er mit Lyrik begonnen, um sich bis ans Lebensende über sie lustig zu machen, aber auch, um in einigen ausgesuchten Momenten kostbare und rohe Verse zu schreiben, zu deren Veröffentlichung es ob der tschechischen Prüderie (teilweise) bis heute nicht gekommen ist. Auch ein Betrüger und Dieb — und dann gemäßigt: ein Sozi ..., Boulevard-Humorist, Autor von Kalendergeschichten über Soldatentugenden (egal welche). Patriot und Vaterlandsverräter ... Viele Vaterländer haben sich ihm zum Verrat angeboten, und keins hat er verschont. Ja nicht einmal die Heimat der Proletarier, auch wenn die heutige Prager Hagiografie das fleißig retuschiert. Ein Renegat und Bigamist, Delinquent, Richter (in Russland war er Kommissar). Als ihm in Böhmen sein Vers vergoldet aufs Grab gesetzt wurde ("Austrie, tak zralá nebylas snad nikdy k pádu" — Austria, so reif zum Fall warst Du noch nie), fühlte man die Ungehörigkeit der Inschrift und ließ sie wieder entfernen. Und als ob sich jede Bestimmung bei Hašek gleich in einem Kalender verwandelte (vielleicht gilt das auch für den Kommentar, mit dem er selbst den Schwejk reichlich begleitet); so also wäre nichts je am festgelegten Platz. Diese Vielheit von Personae — desselben Individuums — überrascht immer noch. Auch beim besten Willen kann man unter ihnen keine "roten Faden" finden. Auch seinen Antipoden, den Dichtern, ist das nicht entgangen — sie sprachen von seiner "amorphen Seele", von seiner "Gleichgültigkeit der Menschheit gegenüber", vom "Verlust der Charaktere", "Narrenschellen" (Hašek - šašek) und vom "Schandebereiten".
Sie hatten ihn nicht gern; er nahm sich nicht ernst und bedrohte so ihre eigene Selbstachtung. Nur dann in Hašeks (Selbst-)Bagatellisierung immer auch eine zweite, eine Nebenbedeutung mitschwang: "... es wäre eine Versündigung am tschechischen Volk, wenn ich es darüber in Ungewissheit ließe, ob ich ein genialer Mensch bin oder nicht", sprach er als Gründer der Partei für gemäßigten Fortschritt in den Schranken der Gesetze, dieses Dada vor Dada; sie haben gelacht, aber er, professionell schamhaft, wurde zu einem Synonym der tschechischen Literatur.
Es handelt sich um einen Skandal im "Dorf", denn nur dort lassen sich Polemiken gegen Hašek feststellen. So argumentierten Kleinliteraten, Leute, die im fruchtbarem Humus der aktiven und regen halbprovinziellen tschechischen Gesellschaft verwurzelt waren, eines literarischen Orts der Schulen und Schülchen, der Zeitschriften und Zeitschriftchen, dieses Opferplatzes der Prinzipien, der voll ist von Leidenschaft für kleine Themen, des Mileus der simplen Symbole, wo man das Nichteinordenbare gern als Unfähiges (!) ausschloss und wo das Gesetz galt: dass leichter besser ist; wo die Volkstümlichkeit gepriesen wurde, wo die intime Beziehungen zum Politischen knospen und wo — und das besonders — ein beinahe argloser Glaube an die Literatur herrschte. Oh, nichts für ungut, das ist eine Charakteristik, die Kafka 1910 niederschrieb, wobei er größtenteils von böhmischen Batrachomyomachen inspiriert war. Als tschechische Kleinliteratur dieser Zeit sehnte man sich nach der großen Welt, und wollte sie gleichwohl mit Schrittchen erobern, die die Zustimmung der Gemeinde hatten. Begründet war das durch die Pause, die das tschechische Böhmen absolvierte, nachdem es das "französische Jahrhundert" ausgelassen hatte — also den Klassizismus oder genauer gesagt das, was den neuzeitlichen Begriff literarischer Größe prägte. Die Aufgabe aller "kleiner Literaturen", zu wünschen und oft fruchttragend, war es, jene alte Axiologie in die Heimat zu verpflanzen — der Gemeinde einen "virtus" auszuverhandeln — der aus den Höfen und Schlössern stammte. Nur dass die Schlösser in Böhmen "leer" waren. Die große Verwüstung der Gegenreformation hinterließ sie "auf Tschechisch" unbewohnt; "Ordnung" konnten sie daher nur sehr gedämpft ausstrahlen. Die "guerre aux châteaux" — diese Rückkehr zur kulturellen und politischen Subjektivität, "in die Geschichte" — verlief dann wie ein Kampf mit dem Unfassbaren, Geheimnisvollen, ja mit etwas, das stark den Flügeln von Don Quichottes Windmühe ähnelte. Ein Schloss zu erobern hieß, das Dorf zum Schloss zu machen. Deshalb wurde der Dorfschreiber, etwa ein Unterlehrer, wenn er Schriftsteller werden sollte und das heißt: kaum hatte er einen Streit mit seiner Kommune gesetzt, auf seine Art ein Gentilhomme. Eifersüchtig und mit Recht hütete er diesen seinen Status. Dieses Aufholen dauerte eigentlich bis in Hašeks Zeit an und behandelte die ihm äußerlichen Phänomene oft stiefmütterlich, die mit ihrem Folklorismus, Historismus oder Romantismus trotz der ursprünglichen "chaumières"-Quellen (aus ihnen schöpfend und ihnen zum Trotz) Böhmen seine literarische Selbständigkeit eroberten. Deshalb verwundert es nicht, dass auch Hašek diese Stiefmütterlichkeit traf (muss es doch wieder einmal Max Brod, d. h. ein Blick von außen, sein, der auf Hašeks Größe hinweist), denn in diesem Sinn hat er "Schande gemacht". Er hat nämlich — in den Augen der Männer der "virtus" — alle "Schlosserei" abgeschrieben. Damit hat er "der Fremde" freilich die Bestätigung geliefert, dass die Tschechen durch kaum etwas legitimiert sind. So als sagte er: Schwamm drüber, wozu dieses Getummel, wir haben eben, wenn schon, zweierlei Geschichte, eine schon vergangene, als anderswo Racine geboren wurde, und eine zweite, die ich bin.
Unerträglich musste das sein (und ist es immer noch). Ich fürchte jedoch, dass es stimmte.
Und noch mehr "shocking" klang, was er über das Wesen dieser neueren Geschichte (nicht nur der böhmischen, aber aus böhmischer Sicht besonders in ihrer Allgemeinheit) und über ihre Leere sagte. So als würde die Leere des Schlosses paradoxerweise übersiedelt, und produzierte fast von allein Unbewohnbarkeit. Unmenschlichkeit - ja Vertierung. Denn die Zeit der Monstren und der Themen aus der Welt der Tiere brach an. Neben "Josephine, der Mäusesängerin", dem "Riesenmaulwurf", den "forschenden Hunden", den "Katzenlämmern", also neben diesen Kafka'schen Kreaturen entstehen Hašeks "Flöhe des Ing. Khun" und seine "prähistorischen Maulwürfe (!!!)", und freilich auch der "verwirrte Wetterfrosch", ein getreuer Bruder der singenden Mäuse, der auch nur ein ungehöriges, abschließendes Quaken von sich gibt. Hašek betreibt das allerdings als Mystifikation, publiziert seine Entdeckungen für ein Fachpublikum, polemisiert und "verreißt" Fachleute, wenn die sich zu Wort melden, bis ihn der Chefredakteur - jener des Svět zvířat (Tierwelt) hinauswirft. Die gelebte Mimesis, die Mimikry und Selbstcollage, das fasziniert ihn. Und wenn Kafka einst schrieb, das Schreiben von zwei Seiten bedeute ihm mehr als zwei Stunden Leben, so schwört Hašek noch auf die biologische Zeit. Doch als Rolle, sodass das auch etwas wie Schreiben ist — schreiben mit dem eigenen Körper.
Doch die Geschichte, die herbeigerufene, ist schon sehr nah — und so "wüst", dass "zu erkennen ist, wie der Mensch in ihr verschwindet, bevor er Hoffnung schöpft." Im Dorf unterm Schloss war immer Platz genug für die Floh- und Maulwurf-Entdecker; in Kafkas Strafkolonie entsteht eine neue Welt und für die Hašeks hält sie "Paragrafen gegen Parasiten" bereit. (Ist es nicht von seltener Ironie, dass die heutige Tschechoslowakei per Paragraf Nr. 203 "Schmarotzer" fängt — zu denen der Autor des Schwejk nach nur einer seiner Eskapaden zählen müsste?) Der brave Soldat Hašek tritt seine Anabasis in die Geschichte (sein Abenteuer bezeichnet er oft als "Ausflug in die Geschichte") zum ersten und auf lange Zeit einzigen Mal ausgenüchtert an. An seiner Hüfte hängt der "Genosse Mauser", das Instrument der Menschlichkeit auf der "Animal Farm"; der kluge Kommissar weiß wohl, dass ein Augenzucken genügte, und die Waffe würde sich auf ihn richten. Im versoffenen Mütterchen Russland kostet eine Kugel ein Gläschen. Oh, sehr abstinent ist jetzt Gášek Járloslav. Mit großen Augen betrachtet er die Arbeit der Geschichte, wartet auf ein Wunder. Sie erinnern sich an ihn — nach Kontrollen, Zögern —, bevor sie ihm seine Nüchternheit glauben, schicken sie ihn als Provokateur nach Hause. So kehrt er ins Dorf heim, das chimärenhaft noch einen Augenblick in diesem Breitengrad andauert. In der Euphorie der Erorberung des Schlosses wird jetzt Böhmen zur Tschechoslowakei, der virtus hat gesiegt, wie es scheint. Mit seiner russischen Optik aber ahnt Hašek, dass die Verwandlung hier nur haltgemacht hat und ruht und dass sie (bald) einmal auch das Land des Fortschritts in den Schranken der Gesetze untergraben wird. Noch einmal: Das ist der zweite Sinn von Hašeks Scherzen, denn diese Heimkehr ist auch eine Bejahung des lebendigen Kerns der ehemaligen Dada-Persiflage. Er versucht, seinen Albtraum hinunterzuspülen, aber obwohl er der Vater der Rezepte für seltenes Selbstgebranntes ist — findet er kein Gemisch, das stark genug wäre. Er hatte gesehen, wie der neue Mensch ausgeholt hatte und wie seine Geschichte dem Leben eine eigenartige Nichtigkeit einhauchte. Er hatte gesehen, wie sich jene neue, nicht schlossähnliche Dominante Europas, die siegreiche "chaumière" fleißig dem Blockhaus anglich. Das Asyl im wirklichen Leben, das bisher Hašeks Domäne war, sein Fass des Diogenes, ist in der neuen Wirklichkeit auf Dauer unmöglich. Bleibt das Asyl der "Schrift". Auch Hašek gelten jetzt Seiten mehr als Lebensstunden. Die alte Story über den Trottel der Kompanie wurde entstaubt und mit dem Schreiben zum Tode begonnen. Schreiben als modus moriendi. Der "Trottel" wird in Dummkopf umbenannt, der ebenso neu ist wie der "neue Mensch". Ein Diener ohne Herrn wird geschaffen in einem Mileu der allgemeinen Dienerschaft; im neuzeitlichen Messianismus des Subalternen hat der subalterne Dummkopf noch eine Chance auf eine Art — Menschlichkeit. Schwejk wird zu einem gracianischen Oráculo manual der Bewegung und Behausung auf allen Appellplätzen. Es gibt in diesem Roman keine häufigere Situation als die des "gehorsamen Meldens". Lassen wir uns nicht dadurch täuschen, dass sich der, der meldet, ungehorsam stellt — schließlich meldet er. Alles, was er vollbringt, und ist Kunst (oder wird Kunst sein), ist, sich vor die die auschwechselbare "nicht-virtus" zu platzieren und dabei zumindest einen Fuß in das "bios" zu tauchen, in den "Leben-Lebensunterhalt", das seine Richtung und Dynamik hat, ohne Rücksicht darauf, welcher Sinn ihm von irgendwoher beigelegt wird. Das ist mitgeteilt. Und der Rat dabei ist, wie man darüber in stiller Selbstverdummung lachen kann und wie man dabei — nicht mordet.
Selig sind sie dort, wo sie Schwejk nicht als Pamphlet oder Satire verstehen. Offensichtlich wird es aber nicht lange dauern, bevor sie sich über diese Dimension klar werden und eine seiner Devisen begreifen:
Wenns auch war, wies halt war, irgendwie wars,
denn noch nie wars, dass es nicht irgendwie war
Der Schatten und die Kunst
Gedichtband „Prager Motive in Fotos und Poesie“
Der Schatten eines Gegenstandes ist das, was der Gegenstand von sich offenbart. Das, was eine Lichtquelle, die auf ihn trifft, über ihn aussagt. Der Schatten ist die Aussage, die über einen Gegenstand aus der Perspektive einer Lichtquelle getroffen wird.
Der Schatten ist einmal kurz und zusammengedrängt, ein ander Mal gedehnt und in die Länge gezogen, er ist schräg oder gerade, breit oder schmal, von sattem Dunkelgrau oder blass und durchscheinend, gerade so, wie die Lichtquelle den Gegenstand darstellt. Er ist eine Darstellung des Gegenstands aus der Sicht der Lichtquelle.
Dabei ist der Schatten allerdings keine wirklichkeitsgetreue Abbildung der äußeren Form des Gegenstandes, von dessen Umrissen oder Konturen; er gibt diese lediglich unscharf, verzerrt und verschwommen wieder. Der Schatten enthält auch nichts von der Materie, aus welcher der Gegenstand besteht, denn er ist seiner Natur nach unstofflich. Da sich der Schatten also weder auf die Form, noch die Materie des Gegenstandes bezieht, so bleibt nur noch der Inhalt, der Gehalt. Ja, der Schatten betrifft das Wesen des Gegenstandes. Er ist eine Aussage über das Eigentliche des Gegenstandes, darüber, womit wir es bei einem Gegenstand, mit wem wir es bei einem Menschen letztendlich zu tun haben.
Um das Wesen des Seins aber bemühen sich die Philosophie, die Religion, die Psychologie und auch die Kunst, jede Disziplin auf ihre Weise. Wer den Schatten der Gegenstände mit ästhetischen Mitteln zu erfassen sucht, nähert sich den Dingen aus der Position des Künstlers. Der Schatten, aufs Foto gebannt, aus einem sorgfältig ausgesuchten Blickwinkel, mit einer geübten Einstellung der Linse, zu einem gezielt gewählten Zeitpunkt, vor einem bewusst auf eine ganzheitliche Komposition des Bildes abgestimmten Hintergrund, offenbart das Alter Ego des abgebildeten Objekts, wie es der Künstler mit seinen Sinnen und seiner Empfindung erkennt und wahrnimmt.
Der Schatten weist je nach Lichtquelle und Raum verschiedene Helligkeitsgrade zwischen Weiß und Schwarz auf; zwischen der geballten Summe der über einander gelagerten und sich gegenseitig durchdringenden Farben und deren gänzlicher Abwesenheit; zwischen dem Alles und dem Nichts, der stumpfen Unwissenheit und dem Streben nach Erkenntnis.
Doch wie unterschiedlich sich der Schatten auch im Hinblick auf die Intensität seiner Spielarten präsentieren kann, ist und bleibt er doch immer grau. Immer lässt er sich an einem Punkt auf der Nuancenskala zwischen den Polen Schwarz und Weiß festmachen. Er bewegt sich stets entlang der Linie, die diese Pole miteinander verbindet. Im Althochdeutschen bedeutete „grao“ soviel wie „schimmernd“, „strahlend“. Der Schatten schmückt sich nicht mit den verschiedenen Farben, in welche die Gegenstände ihre körperlichen Hüllen kleiden. Er folgt getreu der Achse zwischen Finsternis und Licht, Tod und Geburt. Er bleibt der Achse des Wesenhaften verbunden. Der Schatten schweift nicht von seiner Bahn ab. Er ist geradlinig. Er tut das Wesen der Dinge ungeschminkt kund. Der Schatten ist wahrhaftig.
Der Künstler, der bei der schöpferischen Gestaltung nicht nur den Gegenstand, sondern zugleich auch dessen Schatten abzubilden sucht, ist auf das Wesen der Dinge, ihre innere Wahrheit, aus. Ihn interessiert das Sein, nicht das Haben. Er ist weit davon entfernt, von den Dingen Besitz ergreifen und sie beherrschen zu wollen. Streng genommen interessieren ihn die Dinge gar nicht. Mögen sie nur bleiben, wo sie sind und in wessen Hand sie sind!
Worauf der Fotograf, der den Schatten abbildet, hinaus will, ist die nach innen zu gekehrte Seite der Dinge, ihr Innenleben. Er betreibt Introspektion. Er liest in der Seele der Dinge. Er stülpt von den Dingen nach außen, was in ihnen drinnen ist. Er versenkt sich in ihre Eigenschaften und labt sich an ihnen. Er erfasst die Schatten der Dinge mit seinen optischen Geräten. Nun hat er sie, und es ist Zeit, sich mit ihnen anzufreunden. Er beginnt sie zu entdecken, zu drehen und wenden, zurechtzurücken und zu stutzen, zu trimmen und polieren. Er verfährt mit den Dingen und deren Schatten wie Eltern, wenn sie ihre Kinder erziehen. Damit schafft der Künstler jene Art von Schönheit, die wir nicht nur sehen, sondern zugleich empfinden. Keine bloß optische Schönheit, sondern eine, die auch ein Ethos in sich trägt, und zwar das künstlerische Ethos des Erschaffens und Mitteilens des Wahrhaftigen.
Das Wahre aber ist wie das Wesen ganzheitlich, holistisch. Es ermangelt einer sichtbaren Gliederung und Struktur, so wie eben auch die Flächen der Schattenfiguren. Das Wahre ist das Resultat einer Reduktion von Einzelerscheinungen auf ihren gemeinsamen Gehalt. Daher ist es auch nicht abstrakt, sondern reduktiv. Es gibt nur einige wenige Wahrheiten, und die sind alt, sehr alt, und liegen für den Fotografen der Kleinseite auf den granitenen Kopfsteinpflastern des historischen Prag, auf welche die gelben Kandelaber ihre dünnen spitzen Schatten werfen, liegen geduldig da, um von den Künstlern und den vorüberkommenden Passanten aufgehoben zu werden.
Der dünne Schatten eines Gegenstandes, der über viel begangenes und abgetretenes Kopfsteinpflaster geworfen ist, er verhüllt die Fläche, auf der er sich ausdehnt, legt sie jedoch anderseits auch bloß, da er die Aufmerksamkeit des Betrachters darauf lenkt. Ähnlich verhält es sich auch mit meinem Traktat über den Schatten und die Kunst. Es sagt etwas Wahres über Stanislav Tumas fotografisches Werk aus, doch es gäbe weitere Wahrheiten zu entdecken.
Stanislav Tůmas Fotografien sind weder konkret noch abstrakt, sondern wesenhaft.
Oft finden wir die Schatten auf seinen Fotografien über Steine und Mauerwerk gebreitet, und es wirkt, wie wenn Dinge insgeheim einen Dialog führen. Oder als ob das Ding, das den Schatten wirft, der leblosen kalten Materie, auf die dieser fällt, Leben und eine Seele einhauchen wollte.
Denn der Schatten weist mehrerlei Bezugspunkte auf. Einerseits gehört er zu dem Ding, das ihn wirft, und gibt es in seinem Wesen zu erkennen. Ohne den Schatten wären die Gegenstände wie Männer ohne Eigenschaften. Anderseits wirkt der Schatten auch auf den Gegenstand, auf den er fällt und den er beschattet, und flößt diesem das Innenleben seines Urhebers ein. Drittens ist der Schatten aber auch untrennbar mit der Lichtquelle verbunden, die ihn vermittels des Gegenstandes, zu dem er gehört, hervorbringt.
Also wären wir bei dreierlei Entitäten angelangt, die beim Schattenwerfen eine Rolle spielen. Die Lichtquelle, das Ding und das Schattenbild selbst. Oder mit anderen Worten: der Künstler, der von ihm betrachtete Weltausschnitt und dessen gestalterische Deutung. Folglich ist der Schatten der Dinge eine Botschaft, die schöpferisch entdeckte und kreierte zweite Ebene der Wirklichkeit hinter der vordergründig sichtbaren Realität, eine künstlerische Wahrheit. Vielleicht ist der Schatten manchmal auch ein Lächeln der Welt über sich selbst.
Zweimal ist Stanislav Tůma aus der Stadt und dem Stadtteil geflüchtet, zu dem sein fotografisches Werk innigste Verbundenheit ausdrückt. Einmal noch vor seiner Geburt, im Mutterleib, als seine Eltern versuchten, über den Eisernen Vorhang in den Westen zu flüchten. Das zweite Mal als erwachsener junger Mann, als er diesen vereitelten Versuch aus eigenem Entschluss selbst umsetzte. Beide Male ist er zurückgekehrt. Vielleicht liegt es an dieser schwierigen, von Zäsuren und Schwellen geprägten Beziehung zum Ort seiner Kindheit, dass ihn weniger das Beeindruckende und Großartige, das die Prager Kleinseite auch vorzuweisen hätte, sondern das scheinbar Unscheinbare, die baufälligen alten Gemäuer und ausgetretenen Wege, nicht die namhaften Persönlichkeiten und viel gerühmten Sehenswürdigkeiten, sondern die unauffälligen Details - und deren Schatten - angezogen und zu künstlerisch kreativem Schaffen angeregt haben.
Wer so oft den Ort gewechselt hat, an dem er ansässig war, das Land, innnerhalb dessen Grenzen er gelebt hat, wie Stanislav Tůma, der findet ein Zuhause am ehesten im Kontinuum seiner Biografie, im Bogen seiner ununterbrochen gewachsenen Künstlerpersönlichkeit, und in dem, was diese Persönlichkeit für die Mitwelt preisgab, in ihren Aussagen, ihren Schatten.
Hans Kragh-Jacobsen produzierte dieses Film Portät über Stanislav Tůma (11. Juli 1950, Cheb – 14. September 2005 Prag, Fotograf) an einem Wintertag im Jahre 1969, als er an der FAMU Prag studierte. Ich begegnete Hans Kragh-Jacobsen, einen aus Kopenhagen stammenden Journalisten, Autor und Filmemacher 2010 , während meiner Tätigkeit für das Hotel Josef und Maria Hammerich-Maier in den 90er Jahren als ich für die Österreich Werbung Prag arbeitete. Milena Findeis
Hans Kragh-Jacobsen - Stanislav Tůma (1969) from zeitzug on Vimeo.
Gedicht aus dem Buch "Prager Motive" in Fotos und Poesie
(Fotos Stanislav Tůma, Gedichte Maria Hammerich-Maier)
Die Unvollendete
Die Moldau in Prag
Sie hat die Samenfrucht
all der Jahrhunderte
die wogend sie durchflossen
gütig gewährend
Tag und Nacht empfangen
Sie lag bloß lächelnd
still empfindend da.
Und breitete das bronzene
offne, nasse Haar
auf ihren aufgewühlten Schoß.
Und ohne irgend sinnlich
selbst nach einem
zu verlangen
forderte schöpferische Sehnsucht
zur Vollendung sie heraus
Stets üppig ungebändigt
launisch wallend in der Fülle
zwanglos sich räkelnd, frei
gezähmt nicht im Korsett
und nicht gebunden
Doch keiner hat
bei dem erregten Mühn
um jenen Spiegel seiner selbst
um ihren rauschenden Gesang
zum Ewigen gefunden.
© Maria Hammerich-Maier
Tschechien - wieder Zeman
“Kein Frühling in Prag” so der Untertitel des Buches von Hans-Jörg Schmidt, erschienen im Frühjahr 2013 im Verlag 3.0. Der Autor, seit 1990 als deutschsprachiger Korrespondent in Prag tätig, hat hautnah miterlebt was nach der samtenen Revolution im November 1989, angeführt vom Dichter und ersten Präsidenten Václav Havel, bis zu der Präsidentenwahl 2013, wo erstmals in direkter Wahl Zeman gewählt worden ist, aus der ehemaligen Tschechoslowakei bis 1992, 1993 erfolgte die Teilung in Tschechien und die Slowakei, geworden ist.
In 37 Artikeln werden persönliche Erlebnisse gepaart mit politischen Ereignissen gespiegelt, ergänzt durch Fotos von Björn Steinz.
Stimmungsbilder sind die Berichte, in einem Glossar wird angeführt, in welchen Medien sie erschienen sind - aber ohne Datumsangabe.
Für mich, als gebürtige Österreicherin seit 1991 in Prag lebend, war der Blickwinkel interessant: Unter dem Titel “Der falsche Präsident” werden die Zusammentreffen der tschechischen mit den den deutschen Präsidenten, von 1990 bis Frühjahr 1993, bezogen auf die Sudetendeutschen-Frage umrissen. Die Begegnung Havel - Kohl jener mit Klaus - Gauck gegenübergestellt. Wie schwer es ist, miteinander im Gespräch zu bleiben, nicht nur wegen der Sprache sondern vor allem wegen des meist eingeschränkten Blickwinkels der daran Beteiligten.
Nach Erscheinen des Buches überschwemmten im Juni 2013 wieder, nach dem Jahrhundert Hochwasser im August 2002, Moldau und Elbe viel Land und Gut. Die konservative Koaltionsregierung wurde durch eine Polizei-Razzia aus dem Amt gehoben und der neu gewählte Präsident Zeman, torkelt siegestrunken in einer Machtfülle, die an die kommunistische Diktatur erinnert. Warum es soweit kommen konnte, spiegelt sich in Artikeln wie “Feind - Todfeind - Parteifreund”, “Tschechien ist keine Präsidialdemokratie” wieder.
Die Sprache ins Kulinarische übertragen: Gulasch mit böhmischen Knödeln. Als Kostprobe wird aus “Hochverräter Klaus” von Hans-Jörg Schmid serviert: “Nur, wenn man den Sack (Klaus) schlägt und eigentlich den Esel (Zeman) meint, dann kommt selten etwas Gutes dabei heraus. Klaus hat bei allen Fehlern, die er gemacht hat, auch Vorzeigbares vorzuweisen. Er hat das Land wie kaum ein Zweiter seit 1989 geprägt. Das kann man ihm nicht absprechen. Man mag einwenden, dass es Fairness in der Politik selten gibt. Aber es sollte zumindest so etwas wie Anstand geben. Auch unter Senatoren.”
Sozusagen als Hausmannskost ist “Tschechien - wieder Zeman” eine Annäherung an den tschechischen Alltag . Direkt zu bestellen beim Verlag 3.0
Milena Findeis
PRAGUE: JOSEFOV WALK
Josefov also gave birth to one of the great legends of Central Europe: the Golem. It was here that Rabbi Löw breathed life into the giant creature made of mud and clay who patrolled the streets at night, protecting the inhabitants of the Jewish Quarter. When the Golem ran amok, the rabbi took its life away, storing it in the attic of the Old New Synagogue, where according to legend it remains. But the idea never died, inspiring many other incarnations over the centuries, including the most famous, the Frankenstein monster. Today, the focus in Josefov is on the preservation of Jewish history and, scattered throughout the neighborhood, tributes to Prague’s esteemed literary son, Franz Kafka.
Turn left on Dušní, and follow it for two blocks until it turns right. On your left you will see the ornate exterior of the Spanish Synagogue, built in 1838 on the site of the oldest Jewish house of prayer in Prague. The interior is even more stunning, with every inch of the ceiling and walls covered in elaborate patterns and floral designs, all done in a Moorish style by Vojtěch Ignátz Ullmann, based on the Alhambra Palace in Grenada, Spain. If you get a chance to attend a concert here during your visit, it’s worth it for the atmosphere alone.
Instead of following Dušní to the right, go straight on the narrow walkway to the small square. On your left you will see one of the many memorials to Franz Kafka, and easily the most puzzling: the author sits on the shoulders of a much larger, headless and hatless man. In keeping with his often-enigmatic subject, the sculptor, Jaroslav Rona, has never explained what it means.
A right turn and short walk along Široká will bring you to Parižská, Prague’s glitziest street, It’s worth a stroll in either direction to see the collection of high-end shops — Gucci, Versace, Prada, Hermés, Dior, Cartier — with many lovely sidewalk cafés along the way. If you turn right and walk north, watch on your left for the Old New Synagogue (or more accurately, the back of it), the traditional center of Prague’s Jewish community and, by some accounts, the oldest synagogue in Europe. If you take a short detour down the alley that runs next to it, you can pop into the High Synagogue Gift Shop.
As you’re walking north, look up on the hilltop across the river and you’ll see a giant metronome, ticking out a slow, stately beat. No current Prague resident seems able to explain why it was built, although everyone (whether they’re old enough or not) remembers what stood there before it — the world’s largest statue of Josef Stalin, a 50-meter tall, 17,000-ton behemoth that portrayed the Soviet dictator leading a band of loyal proletariats. Its creator, Otakar Svec, committed suicide the day after it was unveiled on May 1, 1955. When it was finally ordered destroyed in 1962, it took 800 kilograms of explosives to bring it down.
If you cross Parižská and continue along Široká, the first cross street you will see is Maiselova, where a left turn will bring you to the Maisel Synagogue. Named for the mayor of the Jewish Quarter during the reign of Rudolf II, it was said to be the most sumptuous synagogue in Prague until it burned down in the great fire of 1689. The current neo-Gothic structure houses an exhibition tracing the history of the Jewish people in Bohemia and Moravia.
Back on Široká, a left turn and short stroll leads to the Pinkas Synagogue, one of the entry points for the Jewish Museum complex, which comprises four synagogues, the Ceremonial Hall and the Old Jewish Cemetery. The entrance fee is comparatively expensive, so you may want to consider how much time and money you want to devote here. If you go in the Pinkas Synagogue, the first iteration of which was built on the site in 1535, you’ll find a memorial to the Holocaust victims of Bohemia and Moravia, with more than 80,000 victims’ names painstakingly lettered on the walls. The outside wall that suddenly appears along Široká encircles the Old Jewish Cemetery, which for hundreds of years was the only place in Prague where Jews could be buried. As a result, bodies are stacked on bodies, and tombstones jut out and collide in a riot of odd angles.
Continuing along Široká brings you to busy Križnovická street. The large building on your right is the Museum of Decorative Arts, a handsome neo-Renaissance structure with an impressive collection of furniture, tapestries, clocks and the like, and rotating shows by local artists.
The monumental building across the street is the Rudolfinum, Prague’s premier concert hall. Built in the late 1800s in the neo-classical style, the Rudolfinum has also served as home to the Czechoslovak parliament and the headquarters for Reichsprotektor Reinhard Heydrich during the Nazi occupation. According to a local story which may or may not be true, Heydrich was furious to learn that Felix Mendelssohn was among the composers whose statues ring the roof of the building, and ordered it taken down. Unsure of which statue portrayed Mendelssohn, workers removed the one with the biggest nose. None of that unpleasantness is in evidence today. Instead, the Rudolfinum houses two superb concert halls — the large Dvořák Hall for orchestra concerts, and smaller Suk Hall for chamber music — and one of the finest art galleries in the city.
The eminent Czech composer Antonín Dvorák stands guard in front of the Rudolfinum now. If you walk past him to the park, keeping the Rudolfinum on your right, you’ll be at one of the sweetest spots along Prague’s riverfront, lined with shade trees and benches. The Czech Parliament building sits directly across the river, overlooked by Prague Castle, both of which are especially stunning at night. It’s a great place to sit and watch the ducks and boats go by. Or follow the concrete walkway in either direction for a look at the city from a different vantage point.
PRAG(ue) / PRAHA
Magical things happen in Prague, one of the most beautiful cities in Europe and one of the most intriguing. It was here that King Rudolf II gathered astronomers and alchemists in the late 1500s to unlock the secrets of the universe. It was here that the legendary Golem is said to have roamed the streets of the Jewish Quarter 500 years ago, protecting its beleaguered residents.
And it was in Prague in 1989 that perhaps the most marvelous miracle of all occurred: the Velvet Revolution, in which four decades of communist rule was broken without the loss of a single life. After 50 years of oppression, reaching back to the Nazi occupation of 1939, Czechoslovaks were once again a free people.
Standing in the busy commercial center of Prague today, it’s hard to imagine a time when people queued up early in the morning at dingy grocery stores, hoping to buy bread or produce. Historic buildings have been refashioned into glittery shopping malls and luxury hotels, Western shops dot the streets, and restaurants offer fine cuisine from all over the world.
It doesn’t take much, however, to retrace a millennium of breathtaking art and architecture. Unlike most European capitals, Prague had the incredible good fortune to escape the ravages of war. Though the city has been conquered and occupied by any number of invading armies, it was never razed, burnt or seriously bombed. As a result, the work of centuries is still intact, arrayed throughout the city center like the jewels in Rudolf’s crown.
There is a saying among locals: “Prague is a village.” This is primarily a reference to the city’s size, big enough to be the Czech Republic’s political and cultural capital, yet small enough to explore on foot, as most of the historic attractions are concentrated within easy walking distance of each other.
Prague’s historic heart is divided roughly into two main areas, bisected by the river Vltava and connected by the Charles Bridge. On the east bank, Old Town encompasses Old Town Square, where the famous astronomical clock has tolled the hours for centuries, and Josefov, the Jewish Quarter. On the west bank, Prague Castle overlooks Lesser Town, with its sea of red-tiled roofs, and, to the south Kampa Park.
No city of enchantment yields its treasures easily, and the charm and challenge of Prague is exploring its hidden secrets — nestled down winding medieval streets, tucked away in cobblestone courtyards, or buried in subterranean chambers. Even longtime residents have the experience of turning a corner and suddenly seeing something they’ve never noticed before — a religious icon, or a lovely bit of ornamental work, illuminated by a late afternoon patch of sunlight.
Getting lost is also a common experience in Prague, particularly in the labyrinthine streets of Old Town. Don’t let this deter you from being adventurous. You have not truly experienced Prague if you haven’t stopped at some point, wondered where you are, pulled out a map and started searching for the elusive street signs. Everyone who visits the city has these moments, and they often lead to unexpected surprises — a quiet lane, a charming café or a striking sculpture that’s not marked on any map. And in a city of Prague’s size, you can’t stay lost for long - keeping Franz Kafka in mind.
Frank Kuznik
Walk with me: Leftovers of villages right within the city. From my tour programme “From Village To Village” Günther Karl-Vincenc
PRAGUE IS A VILLAGE
Link: Photos Prag (zeitzug.org)
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