Czernowitz
Aus Czernowitz
von Christian Hinderer
Reisesplitter 1: 2. bis 3. September 2025
Ich beginne mit einem Zitat aus dem Roman von Iris Wolff »Lichtungen« (Klett-Cotta 2024):
Auf Seite 88 schreibt sie über die Romanfigur Imre : »Er war in Czernowitz geboren worden, in dem Jahr, als die Lenin-Statue vor dem Deutschen Theater geköpft wurde. Er sagte, er stamme aus einem Ort, den es nur noch in der Literatur gibt.« Einige Zeilen weiter, gewissermaßen als Beleg, ein Teilzitat aus Rose Ausländers »noch bist du da«. (Mein Explemplar signiert: Marbach, 8.2.2024!)
Aus der Ferne grüße ich Iris Wolff mit einem Wortspiel: Aber jetzt gibt es »Czernowitz nicht nur noch in der Literatur, sondern es gibt Literatur in Czernowitz«, - das heute je nach Transliteration als Tscherniwzi oder Chernivci oder auch Chernivtsi in den Nachrichten erscheint – nämlich als XVI. internationales Lyriktreffen MERIDIAN CZERNOWITZ vom 5. - 7. September 2025.
Die Anreise nach Czernowitz kenne ich mittlerweile in verschiedenen Versionen: mal mit dem Auto in die Südbukowina und Abholung durch Oxana M. u.Taras, Abholung durch Taras alleine, mit dem Flieger von Memmingen nach Suceava und Transfer mit einem von Olha K. gebuchten Shuttle, einem Sprinter mit 20 Plätzen. So auch dieses Mal wieder, jedoch mit elend langem Prozedere am Grenzposten der Rumänen bei Siret. Zwei Stunden stehen wir mit dem Sprinter in der Hitze, bis es endlich zum ukrainischen Posten weitergeht: wohltuende Leere und die Möglichkeit zum Toilettengang. Da heißt es sich sputen, denn die gestempelten Pässe bekommen wir nach 15 Minuten zurück. Das übliche: die Pässe werden im Stapel hereingereicht und der Stapel wird dann von Passagier zu Passagier weitergegeben, bis sich jeder den (hoffentlich) eigenen daraus entnommen hat. Datenschutz auf ukrainisch, rumänisch allerdings identisch.
Jetzt wird Gas gegeben. Nach einer Dreiviertelstunde passieren wir die Stadtgrenze und sind an der Tankstelle, wo unser Shuttle seine Basis zu haben scheint.
Mir ist vom Fahrer schon ein Taxi bestellt, das mich dann zur bereits bekannten Ecke bringt, wo von der Shevchenkostraße aus die Fußgängerzone Olga-Kobylyanska-Straße beginnt. Der Shuttlefahrer entlohnt den Taxifahrer aus eigenem Budget. Beobachtet habe ich: 180 Griwna bekam der Taxifahrer. Heutiger offizieller Kurs: 100 Griwna sind 2,08 €, also etwa 1 zu 50 für die Kopfrechnung.
Die Tür am Paul-Celan-Literaturzentrum steht offen, drinnen sitzt Sviatoslav Pomerantsev. Er meint, vom 5. bis 7. werde hier Literatur geboten – weiß ich doch!
A
Hotel-Check-In und Ausruhen
Es ist buntes Leben in der Fußgängerzone. Das Café neben dem Wiener Café heißt jetzt »Crevette«, mit dem entsprechenden Symbol an der Hauswand. Probiere ich vielleicht morgen. Jetzt erst mal durch den Torbogen hinüber zum Café »Terrasse« bei den Tennisplätzen. Keine Helme auf den Tischen, obwohl die Kastanien schon reif sind und einige mit Gepolter auf den Holzboden knallen, während ich den ersten Borschtsch genieße.

»….wie schön, dass Menschen noch ins Restaurant gehen« schrieb Oxana M. einmal in der SÜDDEUTSCHEN. Das war im ersten Jahr des Angriffskriegs auf die gesamte Ukraine.
Der Vormittag beginnt damit, dass ich die Hotelrezeption bitte, mir einen Tisch und einen Stuhl ins Zimmer zu stellen, denn im Bett oder auf dem Sofa lässt sich mit dem Laptop schlecht schreiben. Fast hätte ich Arbeiten geschrieben, aber meine Arbeitszeit habe ich längst hinter mir gelassen. Tisch und Stuhl kommen prompt.
Im Durchgang des Polnischen Hauses, der Musikschule, hängen ganz viele Zettel mit Namen, Zeiten und Instrumenten – und ein Plakat über ein Orgelkonzert im Orgelsaal am 6. Sept. Auf dem Plakat sieht man, wo der Orgelsaal ist: Es ist dies die ehemalige Armenische Kirche!
Gegen Mittag treffe ich mich mit Olha K., erst zu einem Imbiss und dann zu einer Fahrt mit Taras H. nach Bila Krynyzja, einem Dorf der Altgläubigen, nur wenige hundert Meter nördlich der ukrainisch rumänischen Grenze. Auf dem Weg sind zwei Check-Points zu passieren.
Bila Krynyzja ein Dorf mit noch etwa 100 Einwohnern und einer großen Kirche, die von 1901 bis 1908 von einem Ehepaar erbaut wurde, dessen einziger Sohn gestorben war. Betreut und gepflegt wird diese Kirche – soweit sich die marode Bausubstanz noch pflegen lässt – von der betagten Nonne Taisija. Sie erzählt ausführlich die Geschichte der Altgläubigen – der „Lipowaner“. Bei den »Lipowanern« sind viel mehr ur-ukrainische Elemente und Worte enthalten als in der ukrainisch-orthodoxen Kirche. Als sie erwähnte, dass sie auch Französisch kann, stellten wir einander auf Französisch vor: »Je m'appelle....«, aus alten Hirnwindungen hervorgekramt.

Ebenfalls hervorgekramt, nein, mit Stolz herbeigebracht, zeigt sie uns ein Liederbuch mit einer ganz eigenen Notenschrift. Die Vierung der Kirche ist eingerüstet. Die Ikonostaswand glänzt in alter Pracht.
Auch davon erzählt die Nonne Taisija: In der Sowjetzeit haben die Bewohner die einzelnen Ikonen nach Hause genommen und aufbewahrt. Nach der wiederin-Betriebnahme als Gotteshaus, das lange als Lager genutzt wurde, kehrten die Ikonen in die Kirche zurück.
Beim Abschied macht Schwester Taisija ein Erinnerungsfoto von uns – vor der von ihr betreuten Kirche in Bila Krynyzja.

Weiter geht es zum Dorfmuseum von Staryj Wobtschyne. In diesem Dorf hat ein Lehrer während seines 50-jährigen Lehrerdaseins bis zum Lebensende Gegenstände und Erinnerungsstücke gesammelt, auch die Geschichte von vielen Deportierten im Russenjahr 1940 und ab 1944.

Die Augen gingen mir über: ein Raum mit vielen, vielen Ostereiern. An der Wand die Melkmaschine; und auf einem Podest der Dorftraktor. Berührend die vielen dokumentierten Deportations-Schicksale, nach Kasachstan und nach Sibirien. Manches Überleben gelang wegen der gewebten Teppiche mit wunderschönen Mustern, oft auch bessarabischen Ursprungs. Fünf davon, als Bestechung, retteten einmal sogar ein Kind!
Beide Reiseziele wurden von Oxanas Studenten, die aus der Gegend stammen, vorgeschlagen. Danke, liebe Oxana, für die Idee. Danke, liebe Olha für die Begleitung und fürs Dolmetschen. Olha sagt, ich sei heute ihr Sparringspartner gewesen, weil sie morgen für offiziellen Besuch aus Deutschland dolmetschen müsse. Danke, lieber Taras, fürs Fahren auf Asphalt genauso wie auf den Schotterstraßen mit viel Staub und Schlagloch-Umkurvungs-Technik.
Czernowitz, Mittwoch, 3.9.2025
Christian Hinderer: Jahrgang 1941, im Schwabenland geboren und aufgewachsen. Beruflich bis zur Rente im Bankfach tätig, speziell im Auslands- und Wertpapiergeschäft. Seine große Affinität zur Literatur und zur Bukowina führte ihn 2001 zum ersten Mal nach Czernowitz.
Aus Czernowitz
von Christian Hinderer
Reisesplitter 2: 4. bis 7. September 2025
Donnerstag, 4. September
Mein Tag beginnt mit dem Gang zum Zentralplatz zur täglichen Gedenkminute um 9 Uhr. Der Verkehr wird angehalten, Autoinsassen steigen aus und verharren andächtig bei geöffneter Autotür. Rings um den Zentralplatz stehen die Menschen so, wie sie gerade aus ihren Geschäften und Büros gekommen sind, und bilden in diesen Minuten eine geschlossene Gemeinschaft mit allen Menschen in der Ukraine. Manche wischen verstohlen eine Träne ab.
Respekt und Takt versagen mir den Griff nach der Kamera.
Musik – Ansage - 21 Glockenschläge – dann: Slawa Ukraine

Dieses Mal liegt mein Hotelzimmer auf der Ostseite, mit Blick auf einen sehr verschachtelten Hinterhof des Polnischen Hauses – erbaut wie fast alle Nationalhäuser in der Zeit der Besinnung auf die eigene Nation bzw. Volksgruppe um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – mit dem Ergebnis, dass mir der Ausblick auf die Heilig-Geist-Kathedrale fehlt, ebenso deren Glockentöne – der Hof der Czernowitzer Militärverwaltung unter dem Fenster muss eben in Kauf genommen werden.
Hoffentlich wird er nicht mal zum Raketenziel. Denn dann wäre egal, nach welcher Seite mein Zimmer liegt.

Vor der Abreise nahm ich mal wieder ein schmales Bändchen mit Czernowitz-Bezug in die Hand: Oskar Laske (1874 Czernowitz - 1951 Wien).
Wikipedia sagt, es gäbe ein von ihm 1902 gestaltetes Kriegerdenkmal in Plan an der Kreuzung Holovna Str. und Heroiw Majdanu. Kommt auch auf die To-do-Liste
Ein heißer Tag, auf der Suche nach Schatten
Wo? Am besten im »Volksgarten«, dem heutigen Shevchenko-Park.
Buntes Leben. Mütter mit Kindern. Wo ist der Vater? Bei der Arbeit – oder an der Front!
Gegenüber einem der Parkeingänge der schön gestaltete Platz mit dem Paul-Celan-Denkmal.
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An der Hausmauer dahinter ein Paul Celan Gedicht ins Ukrainische übersetzt von Prof. Petro Rychlo – er hat Celans Gesamtwerk (zehn Bände) des aus Czernowitz stammenden Dichters ins Ukrainische übersetzt.
Freitag, 5. September
Heute habe ich den Frühstücksort getauscht: jenen mit dem Charme eines Bahnhofwartesaals im Hotel, mit dem Wiener Café gleich gegenüber, an der Sch
attenseite der Olga-Kobylyansa-Strasse. Das Brot sieht aus wie »Arme Ritter« und schmeckt so ähnlich. Dazu Spiegeleier und Wiener Würstel.
Da muss man die Musik mögen, die aus den Lautsprechern des Wiener Cafés tönt. Nächstes Mal nehme ich den Platz ganz am Rand, da sitzt eine Mutter mit schlafendem Baby – vielleicht ist es dort etwas leiser
Beim Paul-Celan-Literaturzentrum, wird eifrig aufgebaut – viele Bücherkartons herbeigetragen …


Die schön umrahmte Jahreszahl über der Eingangstür zeugt von der emsigen Bautätigkeit jener Jahre.

Die ersten Dichter, die beim Meridian Czernowitz auftreten sind Mikael Vogel aus Bad Säckingen und Vera Vorneweg aus Düsseldorf.
»Deutsche Dichtung« ist eines der Bücher von Karl-Emil Franzos, in dem der in Czernowitz zur Schule gegangene im vorvorigen Jahrhundert eine Anthologie zusammengetragen hat. Kommt mir unwillkürlich in den Sinn, wenn hier DEUTSCHE DICHTUNG vorgetragen wird, sogar als Auftakt.
Prof. Rychlo kann beim Stichwort Düsseldorf sofort anknüpfen an die Czernowitzer, die in Düsseldorf ihren Lebensabend verbrachten, allen voran Rose Ausländer, Alfred Kittner und Edith Silbermann.
In diesen Tagen wird in Düsseldorf das Schauspiel »Blinde Kuh mit dem Tod« aufgeführt, in dem auch die Geschichte des Czernowitz geborenen, Holocaust-Überlebenden Herbert Rubinstein dargestellt wird. So schließt sich der Kreis.
Getreu dem selbst gewählten Motto »Reisesplitter und Gedanken« werde ich keine Dichterlesungen kommentieren, dafür gibt es Berufene, die das gelernt haben.
Gedanken »Splitter«
Meer-Gedicht – Mutter Gedicht – Charly Parker – Rocky Mountains – Rom, Hannibal, Elefanten –
Wenn ich mal sterben sollte, entgegen meiner Absicht -
Der Übersetzer ins Ukrainische, Prof. Rychlo philosophiert mit dem Dichter – Über-Setzen = mit der Fähre!
Paul Celan spricht vom »Fergendienst«.
Und dann, zu erwarten: Lyrik in Zeiten des Krieges! Wie geht das? Die Dichterin Halyna Kruk aus Lviv hat es in Tübingen einmal so formuliert: Mit Gedichten kommt man schnell auf das Wesentliche. Bei Prosa überlegt man manchmal so lang, dass das Unmittelbare dadurch verloren geht.
Zweifellos war der Höhepunkt der Auftritt und die Lesung von Julia Paiewska (Taira). Wird simultan übersetzt und aufs Smartphone gestreamt.
Ihre »Vita« hole ich mir aus der Internetseite des MERIDIAN:

Zeichnen und Gedichte haben sie während der
Gefangenschaft am Leben erhalten
„Julija Paiewska (Taira) – Soldatin, Paramedizinerin, Freiwillige und Aktivistin; Kommandantin der Einheit „Engel von Taira“ sowie der Evakuierungsabteilung des 61. mobilen Militärhospitals (2018–2020); Designerin, Präsidentin der Aikidō-Föderation „Mutokukai-Ukraine“.
Seit 2014 nahm sie als Paramedizinerin an der Revolution der Würde und am Krieg im Osten der Ukraine teil. Am 16. März 2022 geriet sie während der Belagerung von Mariupol in russische Gefangenschaft und wurde nach drei Monaten – am 17. Juni 2022 – freigelassen.
Sie wurde mit der Auszeichnung des Präsidenten der Ukraine „Für humanitäre Teilnahme an der Antiterror-Operation“, dem Orden „Volksheld der Ukraine“, den Medaillen „Für die Unterstützung der Streitkräfte der Ukraine“ und „Dem Verteidiger des Vaterlandes“ sowie den Ehrenzeichen „Zeichen der Achtung“ und „Für Verdienste um die Streitkräfte der Ukraine“ geehrt.“
Standing Ovations beim Hereinkommen und am Schluss.
Am Samstag bin ich mit Olha K. verabredet, vor dem Café »Schokolade aus Lviv«. Sie will nachher noch wenigstens eine der Veranstaltungen besuchen. Für mehr reichte ihr Stundenplan an der Uni nicht. Sie bat eine gerade vorübergehende Frau, von uns beiden mit meinem Handy ein Erinnerungsfoto zu machen. Gut gelungen, finde ich.
Zwei Straßenfotografen von einem Jux-Stand gegenüber hatten dies bemerkt und kamen mit ihrem eigenen Schnappschuss-Produkt an unseren Tisch. Geld wollten sie keines dafür. Olha hat ihnen unsere nicht verzehrten Pralinen aus Lviv-Schokolade / Lemberger Schokolade an ihren Stand gebracht. Wurde dankbar angenommen. Die Art Gazette kenne ich von 2023, wo ich ebenfalls abgelichtet und ausgedruckt worden bin. Olha trifft am Paul-Celan-Zentrum mehrere von ihren Studenten, die hier Dienst tun.
Das Publikum, gestern und heute bunt gemischt, ausgewogen nach Alter und Geschlecht.
Dr. Schodnitzky hat sich über das Wiedersehen gefreut und sich sofort an meinen Botendienst erinnert: Im April gab er mir eine Ausgabe des »Bukowiner Journal« mit einem Aufsatz von ihm über den Schweizer Schriftsteller Erwin Messmer, mit dem Auftrag, die Ausgabe in dessen Hände gelangen zu lassen. Auftrag ausgeführt. Erwin hat den Text sogar ins Deutsche übersetzen lassen.
Die Sandsäcke vor den Kellerfenstern sind eingefallen – kriegsmüde eben

Sonntag, 6. September
Heute Nacht: Luftalarm, den sogar ich gehört habe, durchs geschlossene Fenster. Einer um halb drei, der andere um kurz vor sechs. Da bin ich dann eben eine Weile an dem Laptop gesessen und habe an diesem Text gefeilt, bei geöffnetem Fenster. Olha sagt, sobald Raketen oder Drohnen fliegen, wird landesweit Alarm ausgelöst.
Ich hatte auch einen »Altert-Text« auf meinem Handy, allgemein gehalten.
Eher so: komm mir ja nicht hinterher, wenn ............
Problem: heute Morgen, schon so gegen sieben, wieder lauter Dauerton, aber – anders.
Des Rätsels Lösung folgte beim Gang zum Frühstück: Es müssen sehr viele Gäste heute früh abgereist sein, sodass die Putzfrauen – für jeden Stock eine – sehr früh den Staubsauger in Aktion setzten. Einer davon war so laut, dass ich glaubte, es seien zusätzlich noch Handwerker mit Bohrmaschinen im Haus.
Am Nachmittag im Bartka, bei der Lesung von Tanja Maljartschuk, hauptsächlich wegen deren Gespräch mit dem Thema: »Von oben nach unten sprechen: 20 Jahre danach.« Wieder in Simultan-Übersetzung über YouTube aufs Smartphone gestreamt.
Über Essen und Trinken brauche ich mich nicht weiter auszulassen. Hier in meiner unmittelbaren Nachbarschaft sechs Restaurants, in denen es sooo leckere Sachen gibt.
Im Wiener Café * Im Crevette * Im Café Terrasse * Im Georgischen Restaurant * Im Schwarzmeer-Restaurant: Alle mit QR-Code an den Tischen, mit aufrufbaren Speisekarten und Übersetzungsfunktion ins Englische.
Heute Abend, im Café Terrasse, ist partout immer jene Menü-Karte aufgegangen vom vorherigen Besuch im Café »Broyt un tsu Broyt«. Da brachte mir der Kellner eine gedruckte, bebilderte Karte, und eine hilfsbereite Ukrainerin vom Nachbartisch hat mit brillantem Englisch geholfen, meine Wünsche zu erkunden. Der Kellner weiß schon, dass als Getränk immer alkoholfreies Bier dazukommt. Die Marke ist auch immer noch die gleiche wie vor zwei, vor drei und vor sieben Jahren. Kommt aus Dänemark und fängt mit »C« an.
Czernowitz, Sonntag, 7. September 2025
Christian Hinderer: Jahrgang 1941, im Schwabenland geboren und aufgewachsen. Beruflich bis zur Rente im Bankfach tätig, speziell im Auslands- und Wertpapiergeschäft. Seine große Affinität zur Literatur und zur Bukowina führte ihn 2001 zum ersten Mal nach Czernowitz.
Aus Czernowitz
von Christian Hinderer
Reisesplitter 3: 8. - 10. September 2025
Montag, 8. September
»Two eggs, no sausage, no bacon?», dies war die eher konstatierende als fragende Ansage der Dame aus der Frühstücksküche im Hotel. Hat doch auch seine Vorteile, wenn man länger bleibt. So weiß die Küche mittlerweile auch, was der Mensch aus 304 mag und was nicht.
Eben erreicht mich die Nachricht oder eher Frage, wie ich geschlafen habe. Verwunderte Gegenfrage. Antwort: Na, es war doch zweimal Luftalarm. »Da muss ich wohl sehr tief geschlafen habe, überhaupt nichts gehört». Gut, es sind Schallschutzfenster eingebaut, obwohl die hier in der Fußgängerzone Olga-Kobylyanska-Straße nicht unbedingt erforderlich wären. Aber das war ja vielleicht nicht immer so. Ein Hinweis – von Oleksandra Bienert aus Berlin, die hier auch zum Publikum der Literaturtage gehört hatte – zum Museum für die Schriftstellerin Olga Kobylyanska kam mit einem Link zum Museum und nach Öffnen des Übersetzers stand dann da die Vergangenheit neben der schrecklichen Gegenwart:

Am Dienstag stand auch der mittlerweile schon traditionelle Friseurtermin bei Olha Sapa an. Damit alle auf dem gleichen Informationsstand sind, hier in Stichworten die Geschichte dazu: Ich war und bin Leser der Kolumne von Oxana Matiychuk in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG »Ukrainisches Tagebuch«. Darin schrieb sie einmal, dass sie regelmäßig von ihren Auslandsbesuchen aus dem Duty-Free-Shop der Flughafenterminals Männerparfüms guter Marken mitbringe, für Olha Sapa. Olha ist eine Geflüchtete aus der Oblast Saporishja, Sozialpädagogin und hat hier, der Not gehorchend, noch eine Friseur-Ausbildung gemacht. Sie frisiert hauptsächlich »unsere Jungs« in den Militärkrankenhäusern und freut sich, wenn sie nach Ende der Behandlung noch einen guten Duft aus der Sprühflasche auf die frisch Frisierten abgeben kann – und über das Echo: was für ein paradiesischer Duft.
Seit ich davon weiß, bringe ich bei jedem Besuch Männerparfüms mit und bitte um einen »Friseurtermin«. Den ersten vermittelte Oxana im Sept. 2023, aus praktischen Gründen im Büro des DAAD in der Uni, damit sie dolmetschen kann. Damals ist deshalb der Begriff »Akademischer Friseurtermin« entstanden, den wir spaßeshalber auch jetzt noch verwenden.

So auch heute. Olha und Kolja holen mich mit dem Auto am Zentralplatz ab. Wir treffen punktgenau und zeitgleich am vereinbarten Zustieg ein. Früher hatten sie eine Wohnung bekommen, nicht weit von der Uni. Das war vor dem Krieg die Wohnung der Leiterin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes hier. Residentin musste auf Befehl aus Deutschland mit Kriegsbeginn zurück nach Deutschland. Die verwaiste Wohnung war dann gut für die geflüchtete Familie Sapa. Jetzt hat der Eigentümer gekündigt, mit der üblichen »Eigenbedarf«-Begründung2. Diese Lumperei also auch hier. Nun fahren wir also weit aus dem Zentrum der Stadt hinaus. Kolja sagt, jetzt wohnen wir ganz in der Nähe vom Flughafen, was derzeit keinen Lärmstress ausmacht. Es fliegt ja nix1, außer Drohnen aus dem Osten oder ein Hubschrauber der Feuerwehr. Drei verschiedene Männerparfüms sind es dieses Mal, in Heilbronn bei Sonderangebotstagen im Parfümladen AKZENTE erstanden. Die Verkäuferin ist mittlerweile auch in diese Geschichte eingeweiht. Heute erzählte Olha3 nun, sie fahre nächste Woche mit anderen nach Süden (an die Front) und bringe meine Sachen mit. Ein Soldat habe ihr beim letzten Mal gesagt: Was sind das für Menschen, einfache Leute aus Deutschland, die hierherkommen und solche tollen Sachen mitbringen, ein Duft aus einer anderen Welt. Und die Sachen landen nicht, wie sonst meist üblich, beim Kommandeur oder einem anderen Offizier, sondern wirklich bei uns Frontsoldaten. (Den Begriff »Schütze Arsch im letzten Glied« gibt es hier vielleicht auch, nur weiß ich die Entsprechung nicht).

Aus dem Kreis der Hörer an den Lyrik-Tagen erreichte mich noch eine SMS, ob wir nochmal zusammensitzen, vielleicht im »Broyt untsu Broyt«. Möglicherweise komme auch Dr. Schodnitzky dazu. Weil ich die beiden nicht um ihr Einverständnis gefragt habe, sind es also hier in diesem Text Frau Dr. K. K. und Herr C. L. aus Esslingen. Zunächst war es unter uns dreien ein Gespräch nach Woher und Warum, auch da schon ein Schicksalskosmos enthalten.
Ab da, wo Dr. Schodnitzky hinzu kam, konnten wir nur noch zuhören. Zuerst fragte er, wem von uns der Mercedes 600 da unten vor der Tür gehöre. Er kam geradewegs aus der Kirche. Aus welcher? aus der griechischkatholischen – sie sei das Bindeglied zwischen der Orthodoxie und dem Katholizismus. Die Erklärung überlasse ich Wikepedia
Was Dr. Schodnitzky ausführte, war eigenes Erleben und eigene Anschauung. Eine Kirche, die die Sowjetzeit im Untergrund überlebt hat, deren Priester in Sibiren umgekommen sind und deren Besitz enteignet wurde. Und dann: und da sollen wir glauben, dass mit Russland es schon irgendwie auch gehen werde, wie viele Russlandversteher in Österreich und in Deutschland meinen. Alles Leute, die das System nicht erlitten haben. Er selbst ist in Pension, die Höhe seiner Rente nannte er mir auf dem Weg zum Hotel. Und erklärte mir, warum er mir im April das Heft für Erwin Messmer in der Schweiz zur Beförderung anvertraut hat. Das Porto von hier hätte ungefähr ein Drittel seiner Monatsrente ausgemacht. Über seine Tätigkeit als Ruheständler als Kinderarzt für die geflüchteten Kinder. Er geht nach Sadagora, wo viele untergebracht sind und unterstützt die Leitungen dort, wenn sie einen medizinischen Rat benötigen für eines der Kinder. Empfiehlt dann den bestmöglichen Behandlungsort usw. Die Zeit bis 22 Uhr verging wie im Flug. Seine Familiengeschichte brachte ich hervor mit meiner Frage nach seinem guten Deutsch. Aber da ich kein Notizbuch dabeihatte und den Fluss auch nicht stören wollte, möchte ich hier nichts Falsches bringen. Das sagte er mir schon 2023, als er sich vorstellte: Das »-ski« habe ich von meinen polnischen Ahnen – aus der Zeit, als das Großreich Polen-Litauen auch die Herrschaft über diese Gegend hatte. »Ich bin aber ein echter Czernowitzer, hier geboren«
Dienstag, 9. September
Heute bin ich mit Dr. Oxana Matiychuk verabredet. Sie hat sich die Zeit aus den Rippen geschnitten. Vielen Dank dafür, liebe Oxana. Wo: diesmal im »Nonna Macarona«, darin ist alles auf Italienisch gemacht. Karte sehr Pasta-lastig, aber hochflexibel in der Bestell-Annahme. Bei Spaghetti mit Meeresfrüchten sind mir immer die Tintenfischteile unangenehm. »Klar, sie können sie auch nur mit Shrimps haben«, sagt der Kellner, laut. Namensschild Sommelier »Mario«. Oxana fragt, ob das sein richtiger Name sei. Er heiße in Wirklichkeit anders, dies sei sein »Hausname« hier. Welch eine Verbiegung!
Ein Stück Heimweg gehen wir gemeinsam, bis Oxana zu ihrer Bushaltestelle gelangt. Der Weg führt vorbei an einem besonderen Denkmal, dort wo die Holowna-Straße und die Straße Heroic Maidan sich kreuzen. Das Denkmal wurde von Oskar Laske, 1902, für die gefallenen Soldaten von Erzherzog Eugen Infanterieregiment Czernowitz gestaltet. Es steht nur noch der Sockel, der obere Teil, von den Sowjets zerstört. DIE DANKBARE BUKOWINA in drei Sprachen: Deutsch, Rumänisch, Ukrainisch ist hier der Dank des Vaterlands eingemeißelt. Die dritte ergab leider wegen des Sonnenstands kein Foto. Da tauchen dann Erinnerungen wieder auf an ein Buchgeschenk von Oleg Ljubkiwskyj, dem Maler, Grafiker und Fotografen. 2004 – über 20 Jahre sind vergangen – und immer noch Thema
Czernowitz, 10. September 2025

Ergänzungen und Berichtigungen, gemailt am 13.9.2025 von Czernowitz nach Prag von Christian Hinderer
Hinweis von Oxana:
1 »Am Flughafen fliegt schon einiges! Wir kennen den Flughafendirektor, er holt bei uns regelmäßig Hilfsgüter und fährt zu seinen »Jungs«, meistens in die Region Sumy. Es handelt sich freilich nicht um den Zivilverkehr
Und Trainingsflugzeuge fliegen ebenfalls«
Eine Berichtigung von Olha Sapa und von Oxana unmittelbar übersetzt:
2 Die Eigenbedarf-Kündigung ist nicht vorgeschoben. Der Eigentümer hat sich ganz herzlich, auch mit Geschenken, von Olha's Familie verabschiedet. Es täte ihm sehr leid, aber er brauche die Wohnung jetzt selber.
3 Sie bringe die Männerparfüms nicht selber in den Süden, sondern die seien gestern schon mit NowaPoschta verschickt worden und werden wohl morgen schon in den Händen der richtigen Empfänger sein. Da hat die Übersetzermaschine das eingegebene »schicken« einfach mit »bringen« übersetzt.
Christian Hinderer: Jahrgang 1941, im Schwabenland geboren und aufgewachsen. Beruflich bis zur Rente im Bankfach tätig, speziell im Auslands- und Wertpapiergeschäft. Seine große Affinität zur Literatur und zur Bukowina führte ihn 2001 zum ersten Mal nach Czernowitz.
Oxana Matiychuk, Tscherniwzi 2022: Auf der Suche nach dem Band Gesammelte Gedichte von Rose Ausländer gelangte Christian Hinderer 2019 an einen Privatverkäufer, der zu dem Buch noch fünf Seiten Handschriftliches von der Autorin anbot. Bei einer persönlichen Begegnung 2021 entschloss er sich, dieses Fundstück mir zu schenken.
Aus Czernowitz
von Christian Hinderer
Reisesplitter 4: 11. September 2025

Donnerstag, 11. September
Der Herbst kündigt sich an. Fast ein Caspar-David-Friedrich-Morgen über den Dächern von Czernowitz.
Oxana hat mir angeboten, mitzukommen, wenn von der Johanniter Mission Siret wieder Hilfsgüter in ihrem Lagerraum, in der Nähe des Flughafens, angeliefert werden. Wir verabredeten uns so, dass, wenn das Signal von den Johannitern über erfolgreich beendetes Grenzprozedere eintrifft, soll ich vom Hotel losmarschieren bis zum Zustiegspunkt, wo sie mit Kollegen mich aufnehmen. Es hat punktgenau geklappt. Als wir in den Hof der Lagerräume rein hoppelten, bogen unmittelbar hinter uns 3 Sprinter »Johanniter Mission Siret " ebenfalls ein. Einer davon fuhr an die Rampe und Oxana mit anderen Helfern und sieben Johanniter leerten den Sprinter.

Solch ein Sprinter fasst etwa 1 - 1,5 Tonnen. Stromaggregate, Reis, Teigwaren, Zwieback, Hygieneartikel usw. Mehrere Paletten rollten in den Lagerraum.
Die Johanniter Mission Siret wurde im März 2022 gegründet, also fast unmittelbar nach Beginn des Angriffs Russlands auf die gesamte Ukraine. Sie beliefern in der Region Czernowitz insgesamt fast 30 Einrichtungen. Zum GEDANKENDACH kommen sie alle 3–4 Wochen, meistens mit zwei Bussen, manchmal auch mit drei. Heute wird hier nur einer der dreien entladen, die anderen sind für weitere Einrichtungen in der Umgebung vorgesehen.
Die Abgabe an die Bedürftigen findet immer samstags statt. Geplant, vorbereitet und durchgeführt von Oxana und einer Schar Freiwilliger, was sie ja hier, neben ihrer Lehrtätigkeit an der Uni ja auch ist. Im Lagerraum steht während der Abgabe ein großer Behälter, wo die Empfänger(innen) jenes aus den vorgepackten Standard-Beuteln sofort wieder ablegen, was ihren derzeitigen Bedarf entweder übersteigt oder überhaupt nicht gebraucht wird.
Halb entladen, ertönte um halb elf am Vormittag der Luftalarm. Oxana begleitete uns alle zum Schutzraum, einige Schritte in einem Wohnblock ganz unten drin. Mehrere Räume, blitzblank, mit Stühlen und Bänken entlang der Wände.
Nach etwa einer halben Stunde kam der Sirenenton »Entwarnung« und alle strömten nach draußen. Oxana und ihre Helfer, die nicht mit in den Schutzraum gekommen waren, hatten mittlerweile den Sprinter fast vollständig geleert.

Punkt halb zwölf setzte sich der Konvoi wieder in Bewegung. Sie fahren noch zwei Verteil Stationen in der Umgebung an und dann geht es leer wieder zurück nach Siret in Rumänien.
Im Gespräch war natürlich die erste Frage nach dem Woher? Meine war schnell geklärt, die Johanniter ihrerseits gaben mir Erdkunde-Unterricht: Koblenz, Westerwald, Witten, München – und : »ich bin in Öhringen in die Schule gegangen.«
Die Johanniter erklärten, Luftalarm am Tage sei auch ihnen neu, jetzt hätten sie also auch dieses erlebt – und überlebt! noch ein freundliches Lächeln..... Informationen über die Johanniter aus Siret.
Czernowitz, 13. September 2025
Christian Hinderer: Jahrgang 1941, im Schwabenland geboren und aufgewachsen. Beruflich bis zur Rente im Bankfach tätig, speziell im Auslands- und Wertpapiergeschäft. Seine große Affinität zur Literatur und zur Bukowina führte ihn 2001 zum ersten Mal nach Czernowitz.
Oxana Matiychuk, Tscherniwzi 2022: Auf der Suche nach dem Band Gesammelte Gedichte von Rose Ausländer gelangte Christian Hinderer 2019 an einen Privatverkäufer, der zu dem Buch noch fünf Seiten Handschriftliches von der Autorin anbot. Bei einer persönlichen Begegnung 2021 entschloss er sich, dieses Fundstück mir zu schenken.
Aus Czernowitz
von Christian Hinderer
Reisesplitter 5: 12. September 2025

Freitag wartet das nächste Highlight auf mich. Für Olga Kobylanska, der Bukowiner Dichterin, nach der die Straße benannt ist, in der mein Hotel liegt, gibt es ein eigenes Museum, nämlich ihr ehemaliges Wohnhaus. Etwas versteckt, nicht weit vom Hotel. Oxana hat mir angeboten, wenn ich möchte, könne sie eine ihrer Studentinnen fragen, ob sie mir Guide dorthin und dort drin sein möchte. Ich würde dadurch meinen persönlichen Bekanntenkreis um eine Czernowitzerin erweitern, noch dazu aus einer der jungen Generation.
15:00 Uhr, Iryna Penteliuk, im Foyer meines Hotels. Das Guide-Honorar inklusive Essenseinladung wurde als nicht nötig bezeichnet, auch nicht rundweg abgelehnt.
Kurz vor der vereinbarten Uhrzeit erscheint Iryna (sie studiert ukrainische Literatur und Literaturgeschichte) im Torbogen vom Polnischen Haus. Der Weg zum Museum führt etwas »uneben« durch die Shevchenko-Straße, Tobilevychai-Str. zur Sofie-Okunevskoi-Str. 5. Die genaue Angabe, falls jemand Lust bekommt, beim nächsten Besuch eine Führung dort zu genießen. Das Wort genießen wörtlich genommen werden, wann kommt man in den Genuss einer Privatführung in einem Museum? Es handelt sich um das letzte Wohnhaus der Dichterin Olga Kobylanska, geboren 27. November 1863 in Gura Humora, im heutigen Rumänien, gestorben 21. März 1942 in Czernowitz. Damals im Vielvölkerstaat des Habsburger Reichs zum Kronland Bukowina gehörend, nach dem Ersten Weltkrieg gehörten sowohl Geburtsort als auch Sterbeort zu Großrumänien. Das »Russenjahr« Sommer 1940 bis Sommer 1941 hat sie in Czernowitz erlebt.

Das Buchgeschenk von Prof. Rychlo im Sommer 2018 »Valse Mélancolique« war Anlass, mehr über die Dichterin wissen zu wollen, die mir hier buchstäblich auf »Schritt und Tritt« beim Gang durch die ehemalige "Herrengasse"begegnet. Wir treffen die Museumsführerin Polina Ivanova, die gerade eine andere Besucherin durch die Räume begleitet. Wir werden begrüßt. Polina erzählt, Iryna übersetzt ins Englische. Ich bin froh, dass ich durch verschiedene Englisch-Stunden in der Heilbronner Diakonie mein Englisch nicht habe einrosten lassen.
Es gibt eine informative Webseite, die mir Oleksandra Bienert, eine der Hörerinnen beim diesjährigen MERIDIAN per WhatsApp sandte. Danke, liebe Oleksandra Bienert. Nach dem Aufruf der Seite einfach den Übersetzer einschalten und schon taucht die Welt der Dichterin auf.
Wir tauchen ein in die Welt eines Schriftstellerinnen-Lebens in der Zeit der Habsburger und Großrumäniens nach dem Ersten Weltkrieg. Familienbilder, Gemälde des Bruders und Freundschaftsbeziehungen. Die Uhr, mit dem angehaltenen Uhrzeiger zur Sterbestunde, 21. März 1942 einer Tradition folgend. In einer Vitrine verschiedene persönliche Gegenstände, z. B. ein Tintenfass, ein Löscher (wer kennt so was noch?) und, besonders kurios, eine Flasche mit Wasser aus dem Schwarzen Meer, abgefüllt bei Constanza und hermetisch verschlossen. Nun, nach über hundert Jahren, ist trotzdem etwas verdunstet. Aber am Boden immer noch der Meersand und ein paar Muscheln. Olga sei nie am Meer gewesen, deshalb der mitgebrachte Gruß.

Die Führung dauert normal etwa eine Stunde. Durch Irynas Dolmetscherdienste etwa fast verdoppelt. Zweimal bekomme ich einen Stuhl angeboten, weil es an meine Kondition geht. Danach treten wir hinaus in den Hof und Polina bietet an, auch noch den Garten zu besuchen. Durch einen Mauerdurchgang geht es eine Steintreppe hoch in den Garten. Da liegen Ziegelsteine als Wegpflasterung mit dem Firmenemblem PATRIA. Zwei prächtige Walnussbäume, gepflanzt beim Einzug, geben immer noch Früchte und Polina bietet mir an, welche davon mit nach Hause zu nehmen. Walnüsse aus dem Garten von Olga Kobylanska, ich denke sofort an Menschen in und um Heilbronn, die ebenfalls Wurzeln in der Ukraine haben und vielleicht daran Freude haben könnten.
Meine Dinner-Einladung konnte Iryna leider nicht annehmen. Auf sie wartet ihre Mutter und die Vorbereitungen für den nächsten Test an der Universität. Liebe Iryna, ich wünsche Ihnen weiterhin gutes Gelingen beim Studium.
Czernowitz, 13. September 2025
Christian Hinderer: Jahrgang 1941, im Schwabenland geboren und aufgewachsen. Beruflich bis zur Rente im Bankfach tätig, speziell im Auslands- und Wertpapiergeschäft. Seine große Affinität zur Literatur und zur Bukowina führte ihn 2001 zum ersten Mal nach Czernowitz.
Oxana Matiychuk, Tscherniwzi 2022: Auf der Suche nach dem Band Gesammelte Gedichte von Rose Ausländer gelangte Christian Hinderer 2019 an einen Privatverkäufer, der zu dem Buch noch fünf Seiten Handschriftliches von der Autorin anbot. Bei einer persönlichen Begegnung 2021 entschloss er sich, dieses Fundstück mir zu schenken.
Czernowitz, 2020 eine Celan-Stadtführung mit Petro Rychlo. In Christian Hinderers Reisesplitter 2 ist die Celan Skulptur zu sehen, dahinter neu ein Celan Gedicht ins Ukrainische übersetzt von Petro Rychlo. Rychlo hat das Gesamtwerk von Paul Celan ins Ukrainische übersetzt, die Die Verlorene Harfe, Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik verfasst und gemeinsam mit Helga von Loewenich den Band Bukwonisch-Galizische Literaturstraße. Milena Findeis
ХVI Meridian Czernowitz
Programm
5. bis 7. September 2025
Nach fünfzehn Jahren ist Igor Pomerantsev, einer der geistigen Väter des Festivals, das 2010 aus der Taufe gehoben wurde, erstmals nicht in Czernowitz.
Freitag, 5. September
13:30 – 14:00
Offizielle Eröffnung des Festivals
Sviatoslav Pomeranzew, Evgenia Lopata
Ort: Paul-Celan-Literaturzentrum
Sprache: UA / DE
14:15 – 15:30
Lyrik-Lesung: Deutschland
Vera Vorneweg, Mikael Vogel
Moderation und Übersetzung: Petro Rychlo
Ort: Paul-Celan-Literaturzentrum
Sprache: UA / DE
16:00 – 17:00
Buchpräsentation: Gedichtband von Julia Pajewska (Taira) „Live“
Moderation: Evgenia Lopata
Ort: Paul-Celan-Literaturzentrum
Sprache: UA
Julia Pajewska, Der Gedichtband LIVE, eine Ermutigung
17:30 – 19:00
Vortrag von Josef Zissels: „Wie können wir das Format des Krieges ändern?“
Ort: Paul-Celan-Literaturzentrum
Sprache: UA
Buchpräsentation: Luba Kopot „Verschüttet“
Moderation: Evgenia Lopata
Ort: Paul-Celan-Literaturzentrum
Fr 05.09.2025 | 17:40 Natascha Freundel berichtet live aus aus Czernowitz, rbb radio 3
Samstag, 6. September
11:30 – 13:00
Lyrik-Lesung: Deutschland und Schweiz
Uwe Kolbe, Vera Schindler-Wunderlich
Moderation und Übersetzung: Petro Rychlo
Ort: Paul-Celan-Literaturzentrum
Ukrainisch/Deutsch
14:00 – 15:00
Buchpräsentation: „Niemandes Safran“ von Jaryna Tschornohuz
Moderation: Oleksandr Bojtschenko
Ort: Restaurant Bartka
Ukrainisch
15:30 – 17:00
Lyriklesungen „Ein Spiel mit Gedichten zu vier Händen“
Jewhenij Wolodtschenko (Kurgan), Dina Tschmuzh
Ort: Restaurant Bartka
Ukrainisch
17:30 – 18:30
Buchpräsentation: „Die Listen“ von Myroslaw Lajuk
Moderation: Evgenia Lopata
Ort: Restaurant Bartka
Ukrainisch
19:00 – 20:00
Buchpräsentation: „Ein Abend in Istanbul“ von Andrij Ljubka
Moderation: Oleksandr Bojtschenko
Ort: Restaurant Bartka
Ukrainisch
Sonntag, 7. September
12:00 – 13:30
Vortrag von Petro Rychlo: „Die Suche nach der national-kulturellen Identität im Werk von Paul Celan“
Ort: Paul-Celan-Literaturzentrum
Ukrainisch

Von Petro Rychlo fand ich keine Online Übertragung, dieser Screenshot zeigt ihn als Zuhörer in der Veranstaltung »Das Verkleidungsspiel« von Artem Tschech
14:30 – 15:30
Buchpräsentation: „Das Verkleidungsspiel“ von Artem Tschech
Moderation: Oleksandr Bojtschenko
Ort: Restaurant Bartka
Ukrainisch
16:00 – 17:00
Gespräch mit Tanja Maljartschuk: „Von oben nach unten sprechen: 20 Jahre danach“
Moderation: Oleksandr Bojtschenko
Ort: Restaurant Bartka
Ukrainisch
17:30 – 18:30
Buchpräsentation: „Der Blick der Medusa. Ein kleines Buch der Dunkelheit“ von Ljubko Deresch
Moderation: Andrij Ljubka
Ort: Restaurant Bartka
Ukrainisch
19:00 – 20:00
Feuilleton-Lesungen von Oleksandr Bojtschenko
Moderation: Andrij Ljubka
Ort: Restaurant Bartka
Ukrainisch
Eintritt zu allen Veranstaltungen frei !
Partner: Robert-Bosch-Stiftung, Ukrainisches Buchinstitut, Botschaft der Bundesrepublik Deutschlands Kyjiw, Amt der Kärntner Landesregierung und Georg Drozdowski Gesellschaft Klagenfurt/Kärnten, Schweizerische Botschaft in der Ukraine, Literaturhaus Stuttgart, Landeshauptstadt Düsseldorf Kulturamt.
„Goyra Group“, Restaurant Bartka, Verlag Bücher 21, Meridian Czernowitz Verlag, Bukowyna Hotel, Paul-Celan-Literaturzentrum.
Do 11.09.2025 | 19:00 | Der Zweite Gedanke
Der Zweite Gedanke – OstWunder Widerstand: Militärische Lage und Menschenrechte in der Ukraine
Die Debatte mit Olivia Kortas, Evgenia Lopata und Reinhard Wolski
Am Mikrofon: Natascha Freundel
In welcher militärischen Lage befindet sich die Ukraine, im vierten Kriegssommer seit dem umfassenden Angriff Russlands auf die Ukraine? Im Februar 2022 glaubte kaum jemand, dass sich die Ukraine dem russischen Krieg langfristig widersetzen könnte. Die Ukraine widersteht – mit schweren Verletzungen. Mit anhaltendem Bombenterror, unzähligen Toten, verschleppten Kindern, zerstörten Städten und Landschaften. Wie gelingt es den Menschen in dieser Situation, Menschlichkeit, Solidarität, Kreativität zu bewahren? Welche Rolle spielt Kultur, besonders Literatur in dieser Zeit?
Zu diesen Fragen haben wir am 11. September 2025 drei ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin gebracht: Kulturmanagerin Evgenia Lopata erzählt von Literaturfestivals in ukrainischen Frontstädten. Ukraine-Reporterin Olivia Kortas klärt über die Situation in den von Russland besetzten Gebieten auf. Generalmajor a.D. Reinhard Wolski benennt Fehler und Lücken in der militärischen Unterstützung der Ukraine.
Eine Veranstaltung von DT Kontext und radio3
Aufzeichnung vom 11.9.2025, Deutsches Theater Berlin

Hierorts. Bleiben
Waltraud Mittich
Das ist mir ein böhmisches Dorf.
Redensart - Seine Greifbarkeit und Unbegreiflichkeit
Seite 5

Prefazio, Seite 5
Eine Dorf-Erzählung befasst sich mit dem Dorf als Ort mit bäuerlicher Lebensweise, als ländlichem Wohnort. Dies galt und gilt.
Die Erzählerin der vorliegenden Geschichten hat DAS DORF SCHON seit ihrer Kindheit als böhmisches Dorf ausgelegt. Auch das im Folgenden Erzählte ist, möglicherweise auch wegen seines slawischen Einschlags, ein böhmisches.
Der Brand Europas im Jahr 1618 – der 30-Jährige Krieg – bricht sich nach dem Prager Fenstersturz in den böhmischen Dörfern seine Bahn. Dörfer sind meist weg von den großen Zentren, aber oft waren sie Brennpunkte, sie sind es noch immer.
Das Dorf Tobla als böhmisches ist in den folgenden Geschichten konkreter Wohnsitz der beschriebenen Familie. Sie ist eine Konstante des Dorfes. Ihre Aufgabe ist es, dies zu sein.
Im Verständnis der Erzählerin sind alle Dörfer böhmische Dörfer, von Fremden zwar nicht besitz- aber besetzbar.

Aus dem Roman Hierorts. Bleiben - Waltraud Mittich
Seite 69 - 75: CZERNOWITZ
Davon, was geschah im darauf folgenden Jahr, im Jahr 1860, ist nicht viel bekannt. Dass er reiste, der Schneiderhuter, ist überliefert in den Familienchroniken. Dass er ein ganzes Jahr wegblieb, auch. Wo genau er sich aufhielt, darüber herrscht Unsicherheit. Überliefert ist, dass das Huterei-Geschäft in den Außenbezirken der Monarchie viel Geld brachte, neue Parzellen konnten später erworben werden.
Dass er weit herum kam in der Monarchie, belegt ein Brief aus Czernowitz. Die Stadt in der Bukowina wurde im Jahr 1774 von österreichischen Truppen besetzt, bis dahin bestand sie nur aus 200 armseligen Holzhütten, sie hatte die Funktion einer Maut- und Raststation. Die Habsburger betrieben eifrig Einwanderungspolitik, um das weite Land für die Monarchie verfügbar zu machen, auch nach Czernowitz kamen viele Deutsche, Armenier und Ungarn ebenfalls, vor allem aber siedelten sich Juden an. Schon im 18. Jahrhundert gab es in Czernowitz Gaststätten, Hotels, Geschäfte und die ersten Schulen. Im Jahr 1860, als der Schneiderhuter die Stadt aufsuchte, zählte sie bereits 22.000 Einwohner.

Aus einem Brief, der zum Teil brüchig, also unleserlich ist – im Folgenden handelt es sich um eine Rekonstruktion des Geschriebenen.
„Liebe Frau, liebe Kinder, liebe alle in Tobla!
„... ihr könnt euch nicht vorstellen, was ich hier in Czernowitz sehe, höre, esse. ... Wahrsager in Begleitung von Zwergen und kleinen Affen spazieren durch die Stadt, Astrologen, das sind Sterndeuter, wollen dir deine Zukunft voraussagen, an jeder Ecke sitzen Briefschreiber, die ihre Dienste anbieten, denn die meisten hier können weder lesen noch schreiben, sogenannte Doktoren bieten in den Hintergassen ihre Dienste an, Alchimisten preisen sich an, das sind solche, die versprechen, dass sie z.B. Eisen zu Gold machen können und den Menschen so das Geld aus den Taschen ziehen, es gibt sehr viele Bettler, auch Lumpen und Gauner, die es auf deine Geldtasche abgesehen haben, ich habe mein Geld in die Socke eingenäht. Hier ist es Frühling, bei euch auch in Tobla? ... manchmal habe ich große Lust auf Knödel ... Apfelbäume blühen ... sie haben anscheinend gutes Klima für Obst hier, ich esse oft Kompott, damit ich gesund bleibe, ja, oft habe ich Durchfall, es ist das Wasser, glaube ich, es ist nicht so sauber wie in Tobla ... sie tanzen ausgelassen hier und feiern gern, ja liebe Anna, die Frauen hier sind ganz anders, nicht wie du mager, viele sind dick, ich weiß gar nicht, ob mir das gefällt ... es gibt Buchenwälder und es wachsen Melonen ... ich fühle mich fremd hier und unfrei, weil ich nichts kenne, nichts weiß von ihnen ...

Auf welchen Wegen er gereist ist, der Schneiderhuter, ist nicht bekannt. Dass sie gefährlich waren, wissen die Historiker. Haben geforscht zum Geleitwesen, die Reisenden und ihre Gefährte mussten geschützt werden während ihrer Fahrten. Es gab gesetzliche Bestimmungen, wieviel jeder Reisende zu bezahlen hatte an den Beschützer, der seine Sicherheit gewährleistete. Auch die Kaufleute mussten zahlen für ihre und die Sicherheit ihrer Waren. Auf den Straßen trieb sich viel Gesindel herum, die Straße war der Lebensraum von Menschen, Männern, Frauen und Kindern ohne festen Wohnsitz, Vaganten eben, die oft auch notgedrungen Deliquenten waren. Die Wandernden setzten sich zusammen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen, Soldaten, die ihren Brotberuf nicht ausüben konnten, weil kein Krieg stattfand, Hausierer, die in ihren Kraxen Waren trugen, um sie zu verkaufen, reisende Musiker, Theatergruppen, Pilger, wandernde Gesellen, Scherenschleifer, Kesselflicker, ein buntes Volk, welches das Gewerbe des Überlebens lernte und ausübte, auch die Kinder, die geboren wurden, erlernten schnell diese Ökonomie des Überlebens auf der Straße. Vielleicht waren die Vagierer die ersten Arbeitsmigranten, die sich unterwegs verdingten bei Bauern, in Klöstern, als ungelernte Handwerker, für den Winter einen Platz suchend, Schlafplatz, Essplatz, menschliche Wärme, Spaß sogar und Liebe. Viel gab es zu sehen für den Michael Mittich aus Tobla, der bisher sicher und gesichert gelebt hat auf seinem Hof mit seiner Familie, geachtet und geliebt vielleicht, der aber neugierig war auf andere Leben, diese Mittichsche Gier hat ihn auf die Straßen des Reiches hinausgetrieben, in Nachtquartiere, die weder sauber noch sicher waren, Schauermärchen wird man ihm erzählt haben von abgelegenen Mörderwirtshäusern, gegruselt wird er sich haben, dreimal geschluckt wegen der Atemnot, die ihn überfiel, wenn er Angst hatte, aber weiter hat sie ihn getrieben, die Neugier, eigentlich, das glaubt die im Jetzt Schreibende, wollte er nie wieder zurück ins hausgemachte Nest. Und den Geleitschutz bräuchte es immer noch auf vielen Straßen der Welt, die Straße als Überlebensraum, noch immer könnte sich der Schneiderhuter verwundert die Augen reiben über den Lebenskampf, wie er es sicher getan hat beim Anblick von Armut, Not und Dreck und Tod auf den Straßen des Reiches und es sicher täte, die Straßen sehend unseres Planeten in ihrem Jetztzustand. Der Zurückgekommene wird den kühlen Wind auf seinen Feldern umarmt haben, im jetzigen, neuen Wissen, dass die Ähren überall hoch stehen, wenn das Wetter mitspielt, die Anna mit schmalen Augen und Lippen anschauend wie eine Fremde.

An Anna denke ich nicht gerne, weil das Leidtun eine umstrittene moralische Haltung ist, sie war ihm ergeben, dem feschen und gescheiten Mann, seinen Antrieb verstand sie nicht, da die Gier nach Neuem und das Suchen ihr wohl nicht eingeschrieben waren. Möglicherweise ist es gerade in diesem Zusammenhang notwendig, diese Neugier zu dekonstruieren, sie nicht als Wissensdurst oder Flucht aus der Enge zu denken, sondern als das Warten überhaupt, als Zustand des Seins. Und deshalb fällt mir das Fresko ein, das einen Pilger zeigt, auch ein Vagant, auch ein Ehemann, vielleicht heißt er Alexius, der weiß genau beim Abschied, dass er nicht wiederkommen wird und will; betreten aber nicht schuldbewusst sein Gesichtsausdruck, in einer beinah lauernden Wartehaltung. Lauernd warten darauf, was ansteht. Und wenn diese Antriebskräfte nicht übereinstimmen bei zwei Menschen, wird die lang andauernde Nähe zur Qual.

Die im Jetzt Schreibende aber ist diesem Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater nah, durch den Übergangsort wandernd, die spätere Conca, schlendernd, im August beim Stelldichein sieht sie den Mann deutlicher. Ein Mittich, ja, groß, schlank und kantig, breitspurig dastehend, weit ausholend beim Gehen, ein Mittich mit leichten, hellblauen Silberblick, der Verlegenheit nicht nur vortäuscht, die breiten Schultern in Loden gepackt, es scheint, als friere er, immer wieder laut Luft holend als der Asthmatiker, der er war, die Ähren streichelnd im Vorübergehen. Mit seinen Augen sprach er zu ihr. Augenzwinkernd. Er sagte: der Himmel ist heute kostbar. Sie war unbescheiden genug, um doch augenzwinkernd zu fragen: Weil ich bei dir bin, der Himmel ist hier wie ein Spiegel, sagte er. Auf dich habe ich gewartet. Du spiegelst mich. Das verstand sie, dass auch über ihm das Himmelsgewölbe eingestürzt war, – in Czernowitz in dem einzigen Frühling. Zurück gekommen war er wohl nach Tobla, mit im Gepäck das Wissen, dass das Wichtige und Schöne, das wunderbar Aufregende in seinem Leben – in der Bukowina war das Himmelsgewölbe eingestürzt über ihm im weiten Land. Verursacht nicht durch die Frau, die unter ihm lag, es war das Land, das sich ihm zeigte, er, verwundert über so viel Farbigkeit begriff, wie eng es sich lebte in Tobla und dass er seiner Gier nach Neuem, seiner Lust auf einen unerwarteten Wind zu spät nachgegeben hatte, es traf ihn wie ein Schlaf, er verstand, nie würde er sich sein bisheriges Leben verzeihen, nicht der Anna, nicht dem Dorf, das Einzige, das weiterhin zählen würde, wären die zu kaufenden Parzellen und das, was er leisten könnte, um das Dorf weiter zu bringen und seine Menschen, das Andere, den Rest, würde er bloß ertragen, mehr nicht.

Sie sah in lange an, forschend, er ließ es sich gefallen, auch du, fragte sie ihn mit den Augen, das falsche Leben im richtigen, galt auch für dich nur das eine Losungswort? Ja, sagte er mit den Augen. Weiter bauen. Frei sein für sich selbst hat keine Bedeutung. Dann gingen sie auseinander wie Komplizen, die Geheimnisse teilen und schweigen.
Ziegelauer ist er in Czernowitz nicht begegnet. Einmal noch hat er ihn gesehen, in Stögen, da war der schon ein berühmter Professor, der Schneiderhuter verschwieg, dass er, Zieglauer, sein Leben umgekrempelt hat. Der Professor hat es wohl verstanden, weil er gedaucht ging, der Mittich, er war erst 60.

Die Passagen stammen aus dem 2025 im Laurin Verlag erschienenen Roman von Waltraud Mittich »Hierorts. Bleiben« Czernowitz ist für mich das verbindende Element. Ich war 2010, 2011, 2013 und 2022 in Czernowitz. Die zwischen der Erzählung gezeigten Fotos stammen aus dieser Zeit.
Igor Pomerantsev hat seine Jugend in der Bukowina verbracht und seine Lyrik und Prosatexte erzählen davon. Waltraud Mittich hat nach der Vatersuche, »Ein Russe aus Kiew«, weiter in der Familiengeschichte geforscht. Gemeinsam mit Waltraud und Igor wurde "1000" verfasst.
Waltrauds Sprachduktus folgend zog es mich 1991 in die »böhmischen Dörfern«, hinein in die slawischen Sprachen, die mir zur dritten Haut wurden. Waltraud schreibt in italienischer und deutscher Sprache. Igor in russischer und ukrainischer Sprache. Gesprochen, gefärbt vom Dialekt klingt es anders als geschrieben. Sich die Offenheit für den inwendigen Kern bewahren: das Gefühlte, es wird vom Körper anders verwertet als vom Verstand.
Prag, 22. Juli 2025, Milena Findeis
Kunstalbum Czernowitz
Der 362 Seiten umfassende Bildband wurde von Sergij Osatschuk und Tetyana Dugaeva, unterstützt von der Österreichischen Nationalbibliothek und dem Land Kärnten, 2017 in ukrainischer und deutscher Sprache herausgegeben. ISBN 978-617-614-185-3. Nachfolgend aus diesem Buch das Vorwort von Raimund Lang und die Einführung von Tetyana Dugaeva, Kunstwissenschaftlerin, Mitglied des Nationalen Malerverbandes der Ukraine ins Deutsche übersetzt von Vitali Bodnar.
Das Gemälde ist nichts als eine Brücke, welche den Geist des Malers mit dem des Betrachters verbindet.
Eugen Delacroix (1798–1863)
Kunst ist immer subjektiv. Sie geschieht, wie uns die Theoretiker lehren, im Kopf. Das Produkt des Künstlers, üblicherweise „Kunstwerk“ genannt, ist also nur ein Medium zwischen Schöpfer und Betrachter und „Kunstbetrachtung“ folglich die persönliche Auseinandersetzung mit einer fremden Sichtweise. Die Frage der künstlerischen Qualität muß deshalb zwangsläufig zu oft ganz gegensätzlichen Antworten führen, je nachdem welches Maß an Zustimmung, Betroffenheit, Ratlosigkeit oder Ablehnung das Artefakt auszulösen vermag. Das gilt zwar für alle Künste, doch für die optische Wahrnehmung ganz besonders, da sie uns viel unmittelbarer und konkreter begegnet als die akustische, die Musik. Die kunstphilosophische Behauptung von der Kunstgenese im Kopf bedarf somit der Ergänzung, daß sie auch vom Gefühl bestimmt wird, also im Herzen entsteht. Dem obigen Zitat des französischen Spätromantikers Eugen Delacroix von der geistigen Brückenfunktion des Bildes sei deshalb ein Diktum seines älteren Landsmannes, des Literaten Denis Diderot (1713–1784), beigefügt, der die Malerei zu einer Kunst erklärte, welche die Seele durch Vermittlung der Augen zu bewegen vermag.
Czernowitz, die „vielzüngige“ (J. V. v. Scheffel) Perle am Pruth, wird nicht ohne Grund als hochrangige sprachliche Produktionsstätte gerühmt. Aber der idiomatisch begrenzten Ausdrucksform der Sprache steht auch hier die universelle des Bildes gegenüber, der Kunst des Wortes die Suggestion des Blicks. Erstaunlicherweise liegt dieser Blick bislang im Schatten. Denn während der Czernowitzer Literatur ganze Konvolute von Anthologien und Interpretationen gewidmet sind, ist eine umfassende Darstellung der regionalen Malerei und Graphik bislang unterblieben. Somit betritt dieses Buch Neuland auf dem alten Boden – auch wenn dieses Bild vordergründig paradox klingen mag. Es widmet sich dem Vertrauten, indem es Blicke sammelt, die in solcher Vielfalt noch nie auf so kleinem Raum gebündelt waren. Zwar liegt über Czernowitz ein hervorragender Fotoband aus dem Jahre 2007 vor, doch ist dieser eine Sammlung zufälliger und kalkulierter mechanischer Momentaufnahmen. Das vorliegende Buch aber ist eine Summe Epochen überspannender Sinneseindrücke, allesamt entstanden aus der empfindenden und erwägenden Seele eines Künstlers und durch seine gestaltende Hand.

Vorwort Helmut Lang
Czernowitz genießt den Ruf der Besonderheit. Und es ist viel geschrieben worden, um deren Wesen auf die Spur zu kommen. Es ist keine Weltstadt, weder Bühne der Schönen noch Treffpunkt der Mächtigen. Seit sie sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts vom Lehmhüttendorf zur Landeshauptstadt emporgeschwungen hat, blieb ihre Pracht maßvoll, ihre Bedeutung provinziell. Was Czernowitz auszeichnet, ist seine unaufdringliche, schlichte, an manchen Stellen geradezu zweckmäßige Schönheit. Das Bild der Stadt überzeugt mehr durch seine Geschlossenheit als durch punktuelle Brillanz. Sogar das nach Anlage und Wirkung herausragende Bauwerk, die zum Weltkulturerbe erklärte Residenz, fügt sich eher zurückhaltend in das Gesamtbild ein, rundet es ab, ohne es zu beherrschen. Um das Besondere dieser Stadt zu begreifen, muß man um ihre Genese wissen. An einer europäischen Schnittstelle gelegen, wurde sie durch die Jahrhunderte zu einem ein Ort der Völkerbegegnung. Es ist wohl mehr ein gnädiger Zufall der Geschichte, als das Ergebnis planvoller Siedlungspolitik, daß hier langfristig nicht Völkerstreit dominierte, sondern Vielfalt auf engem Raum entstand, die zur Einheit wurde. Von dem runden Dutzend der hier zusammenlebenden Nationen war keine groß und stark genug, um sich über andere zu erheben. Die pragmatische Konsequenz daraus war das friedliche Nebeneinander, das vielfach auch ein Miteinander war und eine Atmosphäre entstehen ließ, die gleichermaßen duldsam wie fruchtbar war.
Deshalb werde ich nicht müde werden zu betonen, daß Czernowitz eben keine deutsche Stadt war, auch keine jüdische und keine rumänische, weder ruthenische noch polnische. Sie hatte von allem, und das machte sie besonders. Historisch wäre am ehesten der Sammelbegriff „österreichisch“ anzuwenden, denn er subsumiert diese Vielfalt. Czernowitz, das war das vorübergehend erfolgreiche Praktikum einer letztlich gescheiterten Idee, nämlich jener vom völkerreichen Donaustaat. Und sie war als binneneuropäische Konzeption wesentlich weiter gediehen, als die fragilen Konstrukte unserer europapolitischen Gegenwart.
Derlei Gedanken dürfen uns beschäftigen, wenn wir mit wachem Auge durch Czernowitz promenieren, durch die Menge der Tafeln und Denkmäler aus verschiedenen Perioden und zwischen den oft unkommentierten Jahreszahlen, die Anstoß für Assoziationen geben. Bei alledem ist aber entscheidend, diese Stadt als etwas organisch Gewachsenes zu verstehen und nicht allein als Relikt überwundener Herrschaftsstrukturen. Eines fügte sich zum anderen und gehört folglich dazu, ob Bild oder Text, ob Zweck oder Schmuck. Die Stadt ist vornehmlich ein Ort zum Leben und dient erst in zweiter Linie der Repräsentation. Und wie die Menschen, die sie durch all die Zeitläufe haben wachsen lassen, trägt sie Schrammen und Schminke, zeigt sie sich strahlend und düster, vereint sie Noblesse und Tristesse. Denn der Puls der Stadt schlägt nicht nur auf dem Ringplatz und in der Herrengasse, sondern ebenso in den Gemüsegärten und Kastanienalleen, zwischen Marktbuden und Balkonen, in den beschatteten Parks und den verrotteten Hinterhöfen.
Es ist das Charisma des Künstlers, all das spürbar werden oder zumindest ahnen zu lassen. Sein Blick geht über das Erkennbare hinaus, er berichtet von Erlebtem und Erfühltem, die dem Sichtbaren eine ganz persönliche Gestalt verleihen. Wenn zwei dasselbe Objekt betrachten, so können zwei gänzlich unterschiedliche Bilder entstehen – das ist der Reiz der Kunst, und das ist auch ihr Geheimnis.
Vielgestaltig wie die Stadt ist folglich auch dieses Buch. Es ist stadtgeschichtlich genauso interessant wie stilgeschichtlich, ist kalligraphisch wie topographisch und biographisch. Ich habe unter all den Bildern meine Favoriten gefunden, aber auch manche, die mich eher verstören. Das bedarf keiner näheren Darlegung, denn jeder wird als Betrachter des Betrachteten eigene Empfindungen hervorbringen und damit neuerlich zum produktiven Interpreten.
Mehr als hundert Maler und Zeichner haben zu dieser grandiosen Sammlung beigetragen. Es ist unmöglich, sie alle zu nennen und zu werten – man muß ganz einfach nur schauen und schauen ... Wer Czernowitz kennt und liebt (und das liegt meist nahe beieinander), wird von dieser überraschenden Fülle gefesselt sein. Noch nie hat man diese Stadt so intensiv, weil so „vieläugig“ betrachten können. Das Blättern durch diese Seiten ist wie ein Spaziergang durch ein Wunderland, das auf denselben Wegen immer wieder neue Blicke auftut. Reale Existenz und persönliche Anschauung sind zwei gegenüberliegende Ufer, und dieses Buch ist ein Brückenkopf zwischen Gestalt und Wahrnehmung.
Helmut Lang
Einführung Tetyana Dugaeva

In dem Band „Czernowitz“ wird die Ikonografie der Stadtlandschaft von Czernowitz vom 19. bis zum 21. Jahrhundert vorgestellt. Darin wird die Entwicklung der urbanen Landschaft von den malerischen Architektur-Reisen von Topografen der längst vergangenen Zeit bis zu den lyrischen Betrachtungen und konzeptuellen Deutungen des Stadtlebens durch zeitgenössische Künstler nachgezeichnet.
Das Buch enthält Werke von mehr als 120 Künstlern aus Czernowitz und anderen Orten der Ukraine sowie aus einigen anderen Ländern. Die Werke unterscheiden sich in Bezug auf die Zeit ihrer Entstehung und auf die Form der Realisierung. Eine Reihe von Stadtportraits stellt auf einprägsame Art und Weise die einzigartige Architektur der alten Stadt vor. Gleichzeitig machen diese Abbildungen möglich, die ganz spezielle Stimmung von Czernowitz wahrzunehmen, die von den Künstlern wiedergegeben und gleichzeitig geschaffen wird. Die Publikation richtet sich an heutige und künftige Leser.
Die ersten Stadtlandschaften von Czernowitz entstanden aus der Hand von reisenden Meistern Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Panoramabild der Gegend am Pruth schuf der bekannte Kartograf aus dem deutschen Würzburg Eduard Greipel. Er ist Autor des Aquarellbildes „Czernowitz. Ansicht von Norden“ (um 1823). Dieses Bild gibt nicht nur realitätsnahe Umrisse der Stadtbauten wieder, sondern verzaubert auch durch die morgengrüne Stimmung der Komposition aus Hügeln und Flusswindungen, die vom gemächlichen Stadtpanorama überragt wird. Der Autor zeigt seine Begeisterung über die lokalen Einwohner und fügt Genreszenen in das Bild ein: Menschen am Floß mit Fässern, ein Fischer am Flussufer oder ein Wagen mit einem Gehilfen auf der altertümlichen Schwimmbrücke.
Im Anschluss an seine Reise brachte der Maler aus Lemberg und Absolvent der Wiener Akademie der Bildenden Künste Antoni Lange das Landschaftsbild „Ansicht von Czernowitz mit der Schiffsbrücke über den Pruth“ (um 1810, Lithografie, getont nach 1823) hervor. Diese Arbeit ist voller Lyrik, Durchsichtigkeit und Zartheit und gibt ein für ihn sehr typisches Beispiel der Idealisierung von Natur, starrer Darstellung von Menschengestalten und seinem Streben, topografische Besonderheiten wiederzugeben. Eine hochqualitative Lithografie dieser wahrscheinlich ältesten Darstellung der Stadt wurde 1823 in der Werkstatt von Piotr Piller in Lemberg hergestellt.
Das Buch von Theophil Bendella „Die Bukowina im Königreiche Galizien“ mit Bildern von J. Schubirß bildet eine wertvolle Quelle für das Studium der frühen Ikonografie von Czernowitzer Stadtlandschaften. Diese Rarität von 1845 ermöglicht tiefe Einsichten in die zentralen architektonisch-künstlerischen Merkmale der Stadtlandschaften des damaligen Czernowitz. J. Schubirß hinterließ eine Reihe von Arbeiten, die das Stadtbild dokumentieren: von der Landschaft mit der alten Jochbrücke über die „Ansicht von Czernowitz von Norden“ bis zu den einzelnen Gebäuden. Ein Beispiel ist die Abbildung der einem Wohnhaus ähnelnden landesfürstlichen Kirche Maria Himmelfahrt (um 1840, Lithographie), die am Hügel neben dem Türkischen Brunnen und später neben dem Kursalon im 1830 angelegten Volksgarten stand.
Zur selben Periode gehört auch das idyllisch anmutende Pastoralpanorama von A. Malchus. Durch die Abbildungen von nicht mehr existierenden Bauten und früheren Landschaften werden diese Werke zu bedeutenden künstlerischen und historischen 16 Dokumenten. Die Betrachtung dieser Bilder wird zum emotionalen Erlebnis der Bewunderung, zum Beispiel einer alten Pfahlbrücke oder eines längst verschwundenen Parkbades mit Säulen, das einst einen Czernowitzer Park zierte.
Spannende Beispiele der sukzessiven Entwicklung der Stadtlandschaft zu einer selbstständigen Kunstgattung liefern Werke einiger Czernowitzer Maler, wie zum Beispiel des Kartografen Anton Ritter von Borkowski, des Gymnasium-Lehrers Franz Emery oder von Johann Riebauer, der als Lehrer an einer Gewerbeschule tätig war. Ihre Werke aus den 1830er bis 1870er Jahren verkörpern die Intention, das architektonische Antlitz von Czernowitz rund um das Zentrum des urbanen Lebens am Ringplatz nachzuzeichnen, wo bereits damals das Rathaus das neue Gesicht der Stadt prägte. Damals standen auf diesem zentralen Platz weder der elegante Turm des historischen Gebäudes „Drei Kronen“ noch das architektonische Juwel des 20. Jahrhunderts, die Bukowinaer Sparkasse (heute Kunstmuseum).
Besondere Aufmerksamkeit verdienen Landschaften mit Menschengestalten, die in Gespräche vertieft unaufdringlich in Szene gesetzt werden. Sie repräsentieren Stadtcharaktere mit ihren Interessen, Konflikten und ihrer Heiterkeit. Bei der genauen Betrachtung der dargestellten Menschen kann man in Anton Borkowskis Bild auch sein Selbstporträt beim Malen entdecken („Czernowitz. Ringplatz“, um 1854). Borkowskis Studien der Alltagsszenen mit Musikern oder Schauspielern stellen eine lebendige Quelle für die Erforschung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens sowie der Kulturlandschaft dar. In diesen Jahren wird der Rahmen der Czernowitzer Urbanistik durch die Landschaftsmalerei erweitert.

So wird bei Franz Xaver Knapp, dem keine protokollartige Festhaltung der städtischen Umwelt nachgesagt werden kann, die Architektur in ihrer Verbundenheit mit Natur und Genreszenen präsentiert. In diesem Zusammenhang ist eine seiner Landschaften, „Ansicht von Czernowitz“ (um 1860), zu sehen, in der die Stimmung einer Czernowitzer Gesellschaft bei einem Ausflug in die Natur sinnenfreudig wiedergegeben wird. Die Vitalität des Bildes wird durch das statische Panorama im Hintergrund und die Dynamik im Vordergrund kontrastiert. Zu den prägnantesten Arbeiten von Knapp gehört eine Reihe seiner weiträumigen Sujets mit figurenreichen Darstellungen von Ringplatz, Straßen und Tempeln. Ein Beispiel dafür ist die poetische Abbildung des vom Schnee bedeckten Czernowitz („Wasserweihe am Jordansfeste beim Türkenbrunnen“, um 1860). Knapps Werke zeichnen auf einmalige Art und Weise die Ereignisse nach, die Czernowitz damals bewegten und deren Zeuge er war (z. B. „Der Brand von Czernowitz am 21. August 1859“, „Der Abend des 20. Juni in Czernowitz“). Einige urbane Motive der Landschaften dieses Künstlers stellen Gärten und Parks der Stadt dar.
Die 1867 in einem Bildband veröffentlichten Aquarellbilder des Volksgartens bereichern unsere Vorstellungen über die Architektur von Czernowitz und werden zum wertvollen Dokument mit Informationen über einige bereits verschwundene Bauten und Parkalleen. In der Geschichte der urbanen Landschaftsmalerei von Czernowitz wird das Jahr 1867 durch das Entstehen eines neuen architektonischen Motives gekennzeichnet, das mehrere Generationen von Künstlern beeinflusste. Es geht um die künftige erzbischöfliche Residenz und zahlreiche Aquarelle des tschechischen Architekten Josef Hlavka, der als Autor dieses – später zu einem Wahrzeichen der Stadt avancierten – Gebäudekomplexes bekannt geworden ist. Dazu gehören vor allem seltene Darstellungen wie das „Seminargebäude mit der Seminarkirche der drei Theologen“, „Der Synodensaal“ und „Die St.Johannes-Kapelle und das Klostergebäude“. Die Aquarelle von Josef Hlavka werden durch die schlanke Präzision und Feinheit, durch die Ganzheitlichkeit der Farbgebung und die Dokumentalität geprägt. Der Autor gibt nicht nur das äußere Bild einzelner Bauten auf makellose Weise wieder, sondern bildet in beindruckender Manier den historisch einzigartigen Charakter einzelner Bauten der Residenz ab, welche die unnachahmliche Besonderheit der Bukowiner Hauptstadt unterstreichen. Auffallend ist die wundervolle Energie dieser Werke, die das Gefühl von Unendlichkeit und Tiefe hervorruft. Diese Aquarellbilder wurden auch von Zeitgenossen hoch geschätzt. So hielt beispielsweise der Architekt Hans Auer ein Werk von Josef Hlavka, das auf der Wiener Weltausstellung 1873 präsentiert wurde, für eine technisch hervorragende Skizze des Interieurs der Czernowitzer Residenz.
Unschätzbar sind auch die Darstellungen der Innenräume der Residenz, die durch den Brand 1944 teilweise zerstört wurden. Vor allem geht es hier um das äußerst seltene Bild „Die St.Johannes-Kapelle“ des bekannten Malers Carl Jobst, der in den 1860er Jahren vor allem Sakralräume bildlich gestaltete. Dank ihm haben wir die Möglichkeit, die Innenausstattung der auf tragische Weise verloren 17 gegangenen Hauskapelle der Erzbischöfe kennenzulernen. Beeindruckend sind auch spätere grafische Kompositionen von Karl Siegl, in denen der Autor mit außerordentlicher Virtuosität die Größe des Synodalsaals und der Seminarkirche wiedergab. Die erzbischöfliche Residenz der Metropoliten der Bukowina, die wahrscheinlich erstmals von Josef Hlavka abgebildet wurde, zieht Maler mehrerer Generationen an, da ihr Motiv zum fixen Bestandteil der Czernowitzer Landschaftsmalerei geworden ist.
Zwischen der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sind wunderbare Einzelbilder und Illustrationen dieses architektonischen Ensembles entstanden. Dazu zählt Grafik von Johann Kirchner, Augusta Kochanowska, Rudolf Bernt, Julius Helzel, Eugen Maximowicz, Riccardo Righetti und Leon Kopelman. Die vertrauten Umrisse der Residenz finden sich auch auf den damals verbreiteten Panoramabildern von Czernowitz. Die in diesem Band abgebildeten architektonischen Landschaften von Franz Xaver Knapp, Ladislaus Żurkowski und Riccardo Righetti machen es möglich, eine Art Chronik der Stadtentwicklung nachzuzeichnen. Die protokollarische Realitätsnähe verleiht diesen Bildern nicht nur den Dokumentationscharakter, sondern stellt oftmals eine bewegte Geschichte dar.
Die zweiteilige Komposition „Die neue Universitätsstadt Czernowitz in der Bukowina“ ist ein mit Begeisterung erfülltes Beispiel dafür. Diese Gravur wurde gemeinsam mit dem Czernowitzer Fotografen Anton Kluczenko geschaffen. Lyrisch und märchenhaft mutet die üppige schneeweiße Landschaft des winterlichen Czernowitz von Johann Kirchner an („Czernowitz“ – eine Illustration im Reiseführer von A. Heksch, W. Kowszewicz, herausgegeben 1882 in Wien). Eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der Czernowitzer Landschaftsmalerei und des Stadtpanoramas spielen unter anderem die Veröffentlichungen zur Geschichte der Bukowina und ihrer Hauptstadt.
An der Entstehung solcher Werke wie „Die österreichischungarische Monarchie in Wort und Bild“ sowie einiger namhafter Arbeiten von Raimund Friedrich Kaindl, Тheophill Bendella, Аnton Nussbaum, James Baker etc. waren mehrere Illustratoren beteiligt, darunter die Czernowitzer Maler Franz Emery, Аnton Borkowski, Аugusta Kochanowska, Eugen Maximowicz, der Architekt Karl Adolf Romstorfer sowie Künstler wie Donald Maxwell, А. Kail, Rudolf Bernt, Julius Zuber, Theodor Ehrmanns, Аnton Kaindl, Hugo Charlemont und andere.
Wenden wir uns wieder den Bildern von Czernowitzer Plätzen, Märkten, Straßen und einzelnen Gebäuden zu, so stellen wir fest, dass neben den oben bereits erwähnten Künstlern auch andere diese Motive nutzten: Karol Mlodnicki, Erich Grüner, Riccardo Righetti und später Otto von der Wehl und Moritz Krynits. Als unvergessliche architektonische Werke bleiben Czernowitzern auch Kirchen Darstellungen von Josef Hlavka, Stanislaw Kobielski (Bisanz) (Armenische Kirche), Hugo von Rezori und Karl Adolf Romstorfer (Kirche in Horecza), Franz Emery, Rudolf Bernt, Franz Xaver Knapp (St. Paraskieva-Kirche, griechisch-orientalische Kathedrale), Jacob Eisenscher (Alte Synagoge) in Erinnerung.
Beliebt sind auch Motive der Czernowitzer Plätze, die in ihrer Rolle als Mitte des Stadtlebens während diverser Feierlichkeiten dargestellt werden. So auch in der informativen vielfigurigen Komposition des österreichischen Meisters der historischen Malerei Vinzenz Katzler „Die Festlichkeiten in Czernowitz“ (anlässlich der Eröffnung des Austria-Denkmals auf dem Austria Platz, heute Soborna Platz) und in der Arbeit von Johann Riebauer „Der Festzug zur Doppelfeier am 4. Oktober 1875“ (Festivitäten auf dem heutigen Zentralplatz aus dem Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Eingliederung der Bukowina zu Österreich und der Gründung der Universität). Die fröhlich-romantische Stadtlandschaft von Tadeusz Popiel stellt das abendliche Czernowitz im Licht des Feuerwerkes dar. Das Bild dieses Meisters aus Lemberg „Empfang des Kronprinzen Rudolf bei der Ehrenpforte in Czernowitz“ (1877) ist dem im Titel genannten Ereignis gewidmet.
Die zentralen Plätze von Czernowitz waren auch die Orte, die Menschen während historischer Ereignisse des Ersten Weltkrieges anzogen. Diesem Thema sind mehrere Bilder gewidmet. Der Militärmaler F. Höllerer wurde durch seine Serie von Postkarten für das österreichische Rote Kreuz bekannt. Zu den zahlreichen Kampfszenen mit den Siegesdarstellungen des österreichischen Heeres gehört auch eine Komposition mit der Unterschrift des Künstlers (“FH”), die den Einmarsch der österreichischen Kavallerie auf dem Zentralplatz thematisiert („Einzug unserer Truppen in Czernowitz“, Postkarte von 1915). An diese Zeit erinnert auch eine rare Lithografie mit der Signatur des Autors, die die zerstörte Eisenbahnbrücke über Pruth in Czernowitz zeigt. Es stellte sich heraus, dass der ungarische Maler 18 und Autor gleichartige Darstellungen von 18 weiteren zerstörten Brücken von Béla Kron zeichnete. Das Bild sehen wir auf einer Postkarte von 1914, einer der vielen patriotischen Postkarten, für die Bilder von Frontmalern verwendet wurden.
In Friedenszeiten war der Zentralplatz ein beliebter Ort für Spaziergänge und Geschäftstreffen. Nach den Arbeiten vom Ende des 19. Jahrhunderts zeigten auch spätere Landschaften von Czernowitz Elemente der Stadtkultur. Das Äußere von Stadtbewohnern, ihre Unterhaltungen, Gestik und Umgangsformen hielten markante Kriterien ihrer Lebensgeschichten fest und wurden von Künstlern gerne und genau wiedergegeben. Eine solche Ausführung bietet der Czernowitzer Berthold Klinghofer in seiner Arbeit „Czernowitz. Ringplatz“ (1911). Dieses Werk mit der Signatur des Autors wurde in einer Kopie von Viktor Volkov 2005 wiederholt, wobei der Vordergrund verändert und einige neuen Figuren, z.B. eine Frau mit Kind, hinzugefügt wurden. In den 1920er und 1930er Jahren verstärkte sich das Interesse an urbanen Motiven mit den Bewohnern von Czernowitz.
So bekommen wir beispielsweise in den Werken von Isiu Schärf, Jacob Eisenscher, Riccardo Righetti oder Karl Ewald Olszewski die einmalige Atmosphäre zu spüren, in der verschiedenen Bevölkerungsschichten damals lebten. Eines der Lieblingsthemen waren Märkte. In diesen Kompositionen wurden Szenen nachgezeichnet, welche die für Czernowitz charakteristische ethnische Vielfalt erkennbar machen. Verliebt in das lebhafte Treiben der Menschenmenge erzählt Oskar Laske in seiner Serie von Stadtporträts über die Bewohner von Czernowitz. Besonders deutlich sind sein Können und seine Beobachtungsgabe in den Aquarellen mit malerischen Darstellungen von belebten Marktplätzen zu spüren, denen der Künstler mit dem ihm eigenen Humor auf expressive Weise einen witzigen und manchmal satirischen Charakter verleiht („Czernowitz. Unirea-Platz mit Rathaus“, „Jüdischer Tempel in Czernowitz“, „Rathausplatz von Czernowitz“).
Dieses Thema finden wir in Werken von Julius Zuber, Karol Mlodnicki, Ladislaus Żurkowski und Eugen Maximowicz. Georg Löwendal setzte es in seiner Serie von Genrebildern mit den Skizzen der Stadtmärkte samt einprägsamen Porträts der Bewohner der Stadt und ihrer Umgebung fort. Mit den meisterhaften kubistischen Kompositionen der grotesk anmutenden Wandmalerei im Kaffeehaus „Astoria“ bringt Georg Löwendal neue Facetten in die Darstellung der Eigentümlichkeit der Stadt und der Freizeit ihrer Bewohner ein.
In der modernen Kunst des beginnenden 20. Jahrhunderts sticht das Thema der Architektur auch in der Grafik von Leon Kopelman „Eislaufplatz in Czernowitz“ sowie in der stilistisch raffinierten Arbeit von Artur Kolnik „Czernowitz. Stadtmotiv“ (um 1922) heraus, deren urbane Landschaften eine so verblüffende wie wertvolle Seite ihrer Malerei darstellen.

Einen traurigen Widerhall in der Czernowitzer Stadtlandschaft fand der Zweite Weltkrieg, dessen Beginn im Bild des Zeitzeugen dieser Ereignisse Arno Ed „Tempel in Brand“ festgehalten wird. Kurz darauf wurde der Maler mit seiner ganzen Familie im Ghetto eingesperrt und später in einem Konzentrationslager Transnistriens gequält. Eines der ergreifenden Werke zu diesem Thema stellt die Komposition von Arnold Daghani dar, die vor der Deportation seiner Familie in das Lager Michajlovka 1942 entstand. Bemerkenswert ist die bildliche Interpretation der Ereignisse in der Stadt durch ihre Einbettung in einen Innenraum: Der Künstler stellt seine Frau in einer Wohnung dar, wo sie angespannt aus dem Fenster schaut. Die intensive Ausdruckskraft der Frauengestalt betont wirkungsvoll ihre Besorgnis und ihr akutes Gefühl der drohenden Gefahr auf den Straßen von Czernowitz. Durch einen solchen Bildaufbau mit dem Innenraum gelingt es dem Künstler, den Vordergrund zu veranschaulichen, vor dem die tragischen Ereignisse in der Stadt stattfanden. Dieses nur scheinbar einen Innenraum darstellende Bild kennzeichnet nicht nur Veränderungen im Privatleben seines Autors, sondern auch grundlegende Brüche im Leben der Stadt und ihrer Bewohner. Dramatische historische Wendungen trugen zu weiteren Veränderungen des Stadtbildes bei.
Zwei Jahre später entstand das Bild „Einmarsch der Roten Armee in Czernowitz“ des Czernowitzer Malers Kornelij Dzerzhyk. Diese Stadtlandschaft war eines der ersten Werke historisch-militärischer Ausrichtung der damaligen Zeit, überladen mit dem sowjetischen Pathos. Gleichzeitig setzte Leon Kopelman in den 1940er Jahren die urbane Thematik kontinuierlich fort. Zu bemerken ist, dass es einige von ihm dargestellte Bauten aus der Vorkriegszeit nicht mehr gibt, zum Beispiel die Evangelische Kirche. In den zahlreichen Darstellungen schenkte der Künstler seine Aufmerksamkeit nicht nur den alten Baudenkmälern, sondern auch den morschen Bauernhäusern und Bruchbauten am Stadtrand 19 (Aquarell und Öl). Seine Malweise änderte sich: Expressive Form und Stilisierung wurden von der realistischen, durch bedächtige Lässigkeit gekennzeichneten Wiedergabe der städtischen Umgebung abgelöst. Landschaften dieser Art und spätere Hinwendung des Malers zu den mit dem Stadtbild abgestimmten Interieurs trugen die Zeichen der Zeit in sich und boten Zuflucht von der Arbeit an thematischen Bildern.
Die Kunst allgemein war damals immer stärker ideologisch beeinflusst. Die Epoche des ‚sozialistischen Realismus‘ brach an, auch im Bereich der Architekturlandschaft. Bezeichnend für diese Periode ist das in charakteristischen, pathetisch-munteren Tönen gehaltene Panorama von Czernowitz aus dem Jahr 1951 („Nach dem Regen“). Dieses Bild von Mykola Sowjetow wurde zu einer der ersten uns bekannten Ansichten vom Czernowitz der Nachkriegszeit, die die Tradition des 19. Jahrhunderts fortsetzten. Die urbanistische Malerei des ‚sozialistischen Realismus‘ wurde verstärkt durch die politische Realität jener Zeit geprägt. Auf diese Weise wurde das Interesse an Themen wie Industrielandschaften, Neubauten und Erholung der Werktätigen erklärt. Diese Themen finden sich insbesondere in den Werken von Sergij Chochalev, Leon Kopelman, Mychajlo Vilkov, Mykola Bondarenko und später von Valerij Kozlov und anderen Künstlern, die im System des sogenannten Bilderfonds tätig waren, von wo sie Aufträge bekamen.
Klarerweise konnte die Landschaftsmalerei nicht mit solchen patriotischen gesellschaftlichen Themen wie Lenin oder Revolutionsgeschichte konkurrieren. In den ersten Nachkriegsjahren war das Ansehen der Urbanisten unter den Malern nicht besonders hoch und ihre Arbeit stieß auf kein Wohlwollen. Gleichzeitig waren Gebirgslandschaften der Bukowina in den Werken von Moritz Krynits, Beklemischew, Elaida Neuman und Odarka Kyselytsja, Tschudinov, Volodymyr Sanzharov, Mischyn, und Mykola Bondarenko in Landesausstellungen immer präsent. Aber auch diese ideologisch neutralen Arbeiten wurden besonders in den 1950er bis 1980er Jahren mit wirtschaftlichen oder militärischen Themen pathetisch überladen.
Mit der Zeit änderte sich auch das architektonische Antlitz von Czernowitz, das durch die veränderte Lebensweise seiner Bewohner neue Züge erhielt. Das betrifft vor allem die Neubauten außerhalb der Stadtmitte. Die historische Altstadt blieb jedoch bei den Künstlern der Sowjetzeit ein beliebtes Motiv. Es eröffnete nicht nur die Möglichkeit, emotionale Empfindungen der Stadt darzustellen (Grigorij Vasiagin, Rudolf Lekalov, Volodymyr Symaschkewytsch, später Ivan Klets), sondern bot auch Gelegenheit zur künstlerischen Auseinandersetzung mit der Form. Äußerst klarer Stil, durch dynamische einzelne Pinselstriche entstehende Oberflächenstruktur, offene farbliche Lösung und Zierlichkeit kennzeichnen Stadtbilder solcher Künstler wie Elaida Neuman (Reihe „Meine Stadt“) und Moritz Krynits („Türkenbrücke“, „Gasse“).
In den 1960er und 1970er Jahren arbeitete in Czernowitz der Maler Jewgen Udin. Seine Arbeiten im Bereich der Landschaftsmalerei gewinnen immer mehr an Bedeutung als historische Dokumente. Die zahlreichen Zeichnungen neuer Stadtbezirke und Straßenszenen werden durch große Liebe zum Detail charakterisiert. Seine gefühlvollen Stadtpanoramen und architektonischen Kompositionen mit Darstellungen traditioneller historischer Bauten von Czernowitz stellen wertvolle künstlerische Beiträge dar. In seinen Erinnerungen beschreibt der Künstler ein Detail, dass für die Zeit des autoritären Regimes typisch war: Künstler, die auf den Straßen der Stadt nach der Natur malten, fielen auf und mussten Fragen der Polizei beantworten. Nach einigen solchen Befragungen war Jewgen Udin gezwungen, sich einen offiziellen Ausweis eines freischaffenden Mitarbeiters der Zeitung „Radjanska Bukowyna“ („Sowjetische Bukowina“) zu besorgen. In dieser Zeitung wurden oft zeitgenössische Bilder von Czernowitz seines Bruders Jurij Udin sowie eines anderen Künstlers, Mychajlo Moldovan, veröffentlicht. Diese Bilder stellen eine wichtige Quelle für das Studium der damaligen Landschaftsmalerei der Stadt dar.
Darüber hinaus entstand eine Reihe interessanter Arbeiten in den Werkstätten von jungen Künstlern: Volodymyr Symaschkewytsch, Oleksandr Litvinov, Josef Minskyj und andere. Für ihre Landschaften waren vereinfachte Stilformen und klare Verzierungen charakteristisch.

Bronislav Tutelman (geb. 1950), Czernowitz Weisse Landschaft (Aus dem Zyklus “Nicht kommunikationsfreudige Städte”) 1984, Leinwand
Die innovativen Werke von Shimon Okschtejn, Bronislav Tutelman, Petro Hrytsyk hielten keinen Einzug in die Ausstellungen, da ihr weltanschauliches Konzept nicht in den allgemeinen Rahmen der offiziellen Kunst des damaligen brutalen Zwangssystems hineinpasste. Die Stadtansichten bekamen in ihren Werken einen besonderen Touch. Bei Okschtejn bildet Czernowitz einen außergewöhnlichen urbanen Raum mit unnachahmlichem Inneren und eigenem Geist. Der in der Stadt fest verwurzelte Maler Bronislav Tutelman präsentiert 20 seine künstlerische Identität mit Erinnerungsmetaphern und Abbildungen von Motiven, die im Verschwinden begriffenen sind. Mit der Zeit veränderte sich Tutelmans künstlerische Ausdrucksweise von malerisch-expressiven Darstellungen seiner Lieblingsmotive mit den Straßenbahnen von Czernowitz bis zu assoziativen Linienkompositionen mit überkreuzten Pfeilern, Drähten, Pflastern und Röhren etc.
Verblüffend ehrlich ist in seinem Schaffen Oleksandr Weißmann, dessen urbaner Malerei epischer Charakter und starke Beobachtungsgabe eigen sind. Einige seiner Bilderreihen sind von nostalgischen Tönen und Gefühlen der Wärme zu seinem Czernowitz erfüllt. Petro Hrytsyk vermittelt seine Beziehung zur Stadt und somit zum damals vorherrschenden ideologischen Diktat durch Auseinandersetzung mit den Interieurs geschlossener Räume, wo der Bezug zu Ort und Zeit verloren geht. Ein Beispiel dafür ist das im dichten Grün gehaltene Bild im Bild „In der Malerwerkstatt“ (1974). Das Fenster stellt hier eine Grenze zwischen seiner persönlichen Welt und Czernowitz mit seiner ihm gegenüber feindlich eingestellten Gegenwelt der Ablehnung und Verständnislosigkeit dar. Die Aussicht hinter der Fensterscheibe ist kaum wahrnehmbar. Diese Komposition mit der Horizontlinie wird auf der gerahmten Leinwand wiederholt, die daneben am Boden liegt. Somit erhält die auf diese Weise markierte imaginäre Landschaft hinter dem Fenster im Zusammenhang mit der gleichen Darstellung auf der Leinwand eine symbolisch-konzeptuelle Bedeutung.
In den 1970er Jahren entstanden erste Werke des zeitgenössischen Künstlers Orest Kryworutschko, der im Laufe der letzten Jahrzehnte mehrere interessante Arbeiten im Bereich der urbanen Landschaftsmalerei schuf. Filigrane Kompositionen und Bilder einzelner Baudenkmäler helfen, seine Sicht der Stadt besser zu verstehen. Grafik und urbane Malerei dieses Ausnahmetalentes stellen eine unvergleichliche Chronik des architektonischen Antlitzes von Czernowitz und seiner besonderen Ausstrahlung dar, wozu der Maler selbst einiges beigetragen hat. Das Oeuvre von Orest Kryworutschko, sein sensibler Umgang mit den Bauwerken und mit dem kulturellen Erbe der Stadt bereichert im besonderen Masse das Genre der Stadtlandschaften durch die künstlerische Auseinandersetzung mit der Blütezeit und mit der Gegenwart von Czernowitz.
Das einzigartige Klima der Czernowitzer Architektur zieht nicht nur die Stadtbewohner, sondern auch Künstler aus anderen Städten und Ländern in seinen Bann. Im Laufe der Geschichte entwickelte sich eine lange und feste Tradition, die Stadt am Pruth zu besuchen, um sich beim Spazieren Inspiration für die eigene Arbeit zu holen. Besonders gerne besuchen Maler Czernowitz anlässlich traditioneller Kunsttreffen.
In den 2010er Jahren nahmen an solchen Treffen Maler aus mehr als zwölf Städten der Ukraine teil. In Erinnerung bleiben Werke von Bohdan Makarenko, Valerij Kozub, Wira Warwjanska, Andrij Koptschak, Natalia Lissova, Kateryna Rudakova, Anna Suscharnyk, die einen wichtigen Beitrag zur Czernowitzer Urbanistik leisten.
Mit Nostalgie denken an die Stadt Künstler zurück, die derzeit woanders leben, wie z.B. Marysja Rudska aus Kyiv oder Anna Rosenblat und Merle Kastner aus Kanada. Gleichzeitig werden Stimmen von digitalen Künstlern immer lauter, die zeitgenössische Kunstformen entwickeln. Czernowitzer Landschaften von Midori Harada aus Japan und Valentyn Bukovynets aus Russland strahlen lebhaftes Interesse und Begeisterung für die Stadt aus.

Die Darstellung von Czernowitz ist auch eines der wichtigen Themen von Oleg Lubkiwskij. In seiner aktuellen Bilderreihe bringt der Autor seine Sorge um die Veränderungen in der ehemaligen Hauptstadt der Bukowina zum Ausdruck, die dazu führen können, dass die Stadt zu einer provinziellen Ruine wird. Der Stadtgeist in den Werken von Lubkiwskij wird durch die hyperrealistischen Detaildarstellungen von durch Zeit und Menschen entstellten Verzierungen, verzerrten österreichischen Haustoren, Zäunen und Keramikfliesen reflektiert. Der Künstler verschärft den Blick auf die Problematik durch eine gehörige Portion an Ironie, mit der Widersprüche zwischen dem heutigen Zustand der Bauten und ihrem ursprünglichen Aussehen betont werden. Die Visualisierung dieser Widersprüche scheint für den Künstler ein Mittel zu sein, um sowohl seiner Besorgtheit um das Erscheinungsbild der Stadt Ausdruck zu verleihen, als auch die Marginalisierung des Stadtraumes zu überwinden.
Czernowitzer Urbanisten von heute haben ein eigenes Kunstverständnis. Sergij Kolisnyk pflegt auf interessante Art und Weise den Stadtmythos. Seine Temperabilder mit verhaltener Farbenpalette präsentieren ungewöhnliche Facetten von Czernowitz. Konzentriert, fokussiert auf das Wesentlichste, zeigt der Künstler die verborgene stille Stadt in ihrer manchmal mystischen Distanziertheit. In einigen zeitgenössischen Darstellungen der Lieblingsplätze und -straßen von Künstlern mit Wohnhäusern und Sakralbauten werden ihre 21 lyrischen Gefühle zum Ausdruck gebracht. So wird das Gelände der Universität und ihrer Bauten bei Anatolij Lymar als ein Ort dargestellt, wo Czernowitzer Kinder rodeln und der für das ganze Leben als ein Platz wunderbarer Kindheitserinnerungen im Gedächtnis bleibt.
In der poetischen Interpretation von Ivan Balan erscheinen die das Stadtbild beherrschenden Bauten als eine gerade weiße Säule an der Kapelle des Hl. Johannes („Herbstelegie“). Ihor Jurjev schafft klare architektonische Bilder auf expressive und temperamentvolle Weise, die für sein künstlerisches Schaffen typisch ist. Weiche Umrisse des Theaters für Musik und Drama stehen im Kontrast zur Größe der Kathedrale des Heiligen Geistes, deren massive Details mit plastischen Spachtelstrichen geformt sind.
Dank ihrer Vorstellungskraft schaffen Gennadij Horbatyj, Olexandr Harmider, Ludmyla Bohdan und Olena Mychajlenko spannende Stadtbilder mit urbanen Strukturen von unbegreiflicher Lebensenergie. Das symbolische Gesamtbild von Czernowitz bekommt spannende Facetten in den Werken von Orest Kryworutschko (Skizze zur Wandmalerei „Stadt“), Valerij Ionizoj (Platte „Czernowitz“), Sergij Majdukov („Czernowitz. Die beste ukrainische Stadt 2008“) und Alexander von Reden (Grafikreihe Baudenkmäler).
Ende des 20. bis Anfang des 21. Jahrhunderts wenden sich Czernowitzer Künstler ganz in alter Tradition dem Stimmungsbild der Stadt mit verschiedenen Straßenszenen, Gruppen von Stadtbewohnern, Verkehrsmitteln, Stillleben-Elementen, Porträts, Interieurs und Landschaften hin. Parks bilden aufregende ästhetische Elemente des Stadtbildes und schaffen emotionalen Ausgleich durch die Darstellung der Natur. Dieses Thema kommt in den Werken verschiedener Epochen vor: von Franz Xaver Knapp und Antoni Stefanowicz im 19. Jahrhundert bis Grigorij Vasiagin („Allee“), Valerij Hnatjuk („Czernowitz. Die Olga-Kobylianska-Strasse“) und Volodymyr Krasnov („Hlavka-Denkmal im Park der Universität von Czernowitz“) in den 2000er Jahren. In einem Werk von Jakiv Hnizdovskij wird die Stadt als ein Raum des menschlichen Daseins präsentiert, in den eine Menschenseele geraten ist, deren trauriges Aussehen auf die innere Welt dieses Menschen hinweist („Porträt eines Unbekannten“, 2003).
Straßenkreuzungen sind belebt bei Anatolij Lymar und märchenhaft bei Oleksandr Harmider. Czernowitzer Innenhöfe und Dächer von Volodymyr Sanzharov, Ivan Klets, Orest Kryworutschko, Borys Schebrjakov, Maryna Rybatschuk, Ihor Chilko, Oleksandr Litvinov, Natalija Jarmoltschuk, Oleksij Karlow und Olga Karlowa, Valerij Kozub und Bohdan Makarenko sowie Fenster- und Balkonausblicke von Amir Chalikov sind von Kindheit an vertraut und strahlen häusliche Wärme aus.

Auch heute bleibt das Stadtpanorama ein beliebtes Motiv, das die künstlerische Fantasie schon seit über 200 Jahren anregt. Darin äußert sich eine breite Gefühlspalette der Bewunderung und des Stolzes auf die Heimatstadt. Diese Kompositionen stellen unvergleichbar tiefe Sinnbilder dar, die bei vielen zeitgenössischen Künstlern der Stadt in ihrer Einmaligkeit zu beobachten sind, z.B. bei Orest Kryworutschko, Ivan Balan, Ihor Chilko, Olexandr Harmider, sowie Gennadij Horbatyj (derzeit in Deutschland tätig), Konstantin Flondor (Rumänien) und Bohdan Makarenko (Kyiv).
Für Kenner des Stadtpanoramas wird die Landschaft von David Margulis aus Israel zu einer interessanten Erfahrung. Seine Komposition besteht aus historisch getreuen Darstellungen einiger verschwundener Bauten zusammen mit der Gesamtansicht der Stadt aus der Luft („Czernowitz 1911. Ansicht von der Postgasse“). Dieses Werk mit auffallender Klarheit wurde 2013 von Viktor Volkov aus dem russischen Magnitohorsk (lebt heute in Israel) geschaffen.
„Meine Stadt“ von Artem Prysiazhnjuk – eine malerische Landschaft mit charakteristischen Umrissen – ist ein weiterer Edelstein in der Schatztruhe der Czernowitzer Urbanistik. Wie aus einem Guss ragen Baudenkmäler in der dekorativen Komposition des Künstlers im zarten Licht des lasursilbernen Sonnenaufganges empor. Das Leben der Menschen ist von der majestätischen Stadt namens Czernowitz zärtlich umhüllt. Dieses Bild markiert gemeinsam mit den anderen zeitgenössischen Werken einen würdigen Übergang in das nächste Jahrhundert der Landschaftsmalerei von Czernowitz. Wir hoffen, dass dieser Band mit seinen malerischen Darstellungen der ewigen Augenblicke von Czernowitz einen Beitrag für die weitere Entwicklung der Stadtmalerei leisten und zahlreiche Künstler und Kunstkenner inspirieren wird.
Tetyana Dugaeva
Kunstwissenschaftlerin Mitglied des Nationalen Malerverbandes der Ukraine
Übersetzung aus dem Ukrainischen von Vitali Bodnar
Das Kunstalbum Czernowitz wurde von Sergij Osatschuk am 19. November 2018 Musil im Literaturmuseum Klagenfurt vorgestellt. Zuvor sprach ich mit Igor Pomerantsev über seine Erinnerungen aus der Czernowitzer Jugendzeit und las aus seinem Essay-Band "Erinnerungen eines Ertrunkenen".
Sergij Osatschuk, Herausgeber des Czernowitz Kunstalbums: »Anstelle der üblichen Behauptungen mancher russischsprachiger Mitbürger, erst sie hätten die »Kultura« gebracht, kam Anfang der 90er Jahre die Erkenntnis, dass sie damals, 1940, die Kultur weggenommen haben. Infolge solcher Wandlungen der Perspektiven begann in den Köpfen engagierter Heimatforscher das Interesse für diese verschüttete Kulturepoche zu wachsen, in der Czernowitz noch ein Bestandteil des versunkenen k.u.k. Atlantis war.« Osatschuk spricht ausgezeichnet Deutsch. Er war u. a. österreichischer Honorarkonsul in Czernowitz, seit 2022 ist er Offizier der ukrainischen Armee. Ihm begegnete ich in Czernowitz, Klagenfurt – dort stellte er im November 2018 das Kunstalbum Czernowitz vor. 2025 ein Wiedersehen in
Dankeschön an Sergij Osatschuk* für den PDF Link zum Kunstalbum Czernowitz im März 2025 - in Prag steht ein signierter Buchband im Czernowitz Regal.

Der 1950 in Czernowitz geborene Künstler Oleg Lubkiwskij ist mit vier Aqarellen im Kunstalbum abgebildet. Im Oktober 2013 hatte ich im Rahmen der Bruno Schulz Tage eine Ausstellung von Oleg Lubkiwskij in Czernowitz besucht. Im Mai 2023 hatte er im KunstRaumRhein in Dornach über Vermittlung von Judith Schifferle die Ausstellung SPIEGELUNGEN - KONZEPTUELLE UTOPIEN mit 27 Werken.
Anfang Juni 2023 erhielt ich den Ausstellungskatalog vom Künstler direkt aus Czernowitz – mit Widmung – nach Prag gesandt. Oleg Liubkiwsky ist in seiner ukrainischischen Heimat ein mehrfach ausgezeichneter Künstler, gestaltet Fresken und Denkmäler. Für das Buch In-Ex-Terieur Czernowitz hat er den Umschlag gestaltet. Sein Schaffen beschreibt er als "künstlerische Widerspiegelungen einer Wirklichkeit, wie sie in meiner Vorstellung, meinen Ideen, meiner sinnlichen Erfahrungswelt und der Fantasie lebt".
Der 1950 in Czernowitz geborene Künstler Bronislav Tutelman ist mit sieben Bildern in dem Kunstalbum vertreten.
Ich traf
Bronislav Tutelman im November 2013: Er sprach Jiddisch mit ukrainischem Einschlag, ich ein Gemisch aus Österreich-Tschechisch. "Meine Religion ist die Kunst", erzählte er mir. Er hat mich in seine Wohnung eingeladen, wo u. a. das Foto links entstand.
Prag, September 2025, Milena Findeis
Czernowitz, Stadt der Zeitenwenden
Mitten im Ukrainekrieg: Ein Lyrikfestival: Das gute Leben nicht vergessen
6. September 2022, Süddeutsche Zeitung

Diskutierten beim "Meridian"-Dichtertreffen in Czernowitz im September 2022: "FRAGILE: Ein Briefwechsel zwischen Jurko Prochasko und Helmut Böttiger, Übersetzung – Juri Silwestrow.
Ein Herantasten, ein Austausch die Begegnungen in Tscherniwzi im Rahmen von Meridian Czernowitz XIII
Foto: von links nach rechts Juri Silwestrow, Jurko Prochasko, Helmut Böttiger
Im Berenberg Verlag erschien im August 2023, Czernowitz, Stadt der Zeitenwenden von Helmut Böttiger. 88 Seiten · Halbleinen · faden geheftet · 134 × 200 mm, ISBN 978-3-949203-71-8
Seite 55 III. September 2022
»Pomeranzews Kleinbus kann acht Personen aufnehmen und reicht gerade für uns aus, als Gäste seines Festivals. Er hat uns am Flughafen im rumänischen Iași abgeholt. Das liegt immerhin zweihundert Kilometer von Czernowitz entfernt, aber die Flugverbindungen nach Iași sind vom Westen aus am günstigsten. Wir kommen schon gegen 14 Uhr in Iași an. Dennoch sind die Organisatoren wegen der Zeit ein wenig nervös: Ab 22 Uhr gilt in Czernowitz absolutes Ausgeh- und Fahrverbot. Wir müssen spätestens dann im Hotel sein – das ist eine der Begleiterscheinungen des Krieges.
Dass das Meridian-Treffen in diesem Jahr überhaupt stattfindet, ist schon an sich eine Nachricht. Seit der sowjetischen Invasion am 24. Februar hat sich in der Ukraine alles verändert. Unter diesen Umständen, das seit 2010 bestehende Lyriktreffen fortzusetzen, geschieht aus Trotz, aus Stolz, aus Selbstbehauptungswillen. Gerade in dieser äußerst bedrohlichen Situation will man auch an ein kulturelles Selbstverständnis erinnern.«
Wie kann man im Krieg über Gedichte reden? Das Festival "Meridian" in Czernowitz zeigt eine Ukraine, die sich ihrer mehrsprachigen Identität versichert.
Von Helmut Böttiger
Dass das »Meridian«-Lyrikfestival in Czernowitz in diesem Jahr stattfand, ist schon selbst eine Nachricht. »Für die ukrainischen Streitkräfte« stand groß auf dem Programmplakat. Alles stand im Zeichen des Krieges. Jurko Prochasko, der bekannte Lemberger Intellektuelle, der an die galizische Tradition der Multikulturalität anknüpft, sagte: »Keinen Augenblick lang verlässt mich das Bewusstsein dieses Krieges und seiner erbarmungslosen Wirklichkeit«, und so war es bei allen Beteiligten. Alle Gedanken und Gefühle werden vom Krieg aufgesogen und durchdrungen, man kann sich als ukrainischer Schriftsteller auf nichts anderes mehr konzentrieren, die üblichen Arbeiten – literarische Essays, Übersetzungen, Gedichte – bleiben liegen.«
Die meisten haben in der ersten Zeit nach der russischen Invasion nichts mehr geschrieben. Langsam aber wurden die neuen Erfahrungen zum Thema, und das war bei diesem Treffen deutlich zu spüren. Es beginnt etwas kategorial Neues: Irena Karpa sprach von ihrer »Lähmung« und der Erkenntnis, sich jetzt auf den Krieg »einlassen« zu müssen, Kateryna Kalytko nahm die militärische Bedrohung direkt in ihre Metaphern auf, in denen die Panzerketten das Körpergefühl förmlich zu durchdringen scheinen. Dabei war es sehr berührend, dass Iryna Tsilyk bei alldem davon sprach, gerade jetzt die Sehnsucht nach einem »guten Leben« nicht zu vergessen. Ihr Mann Artem Tschech ist im Krieg und hatte gerade zwei Tage Fronturlaub. Als Jurko Prochasko sagte: »Er hat sehr traurige Augen« war das einer der Momente, die man so schnell nicht mehr vergisst.
Auf der dreitägigen Veranstaltung drängten sich die Programmpunkte, und es fiel auf, wie jung das Publikum war. Czernowitz ist eine Universitätsstadt, die alte habsburgische Grenzregion ist bisher vom Krieg verschont geblieben, aber die Literatur sieht sich hineingezogen in die barbarische Aktualität. Sviatoslav Pomeranzew, der Gründer des Festivals, sprach über den militärischen Begriff des »Hinterlands« als einer menschlichen und wirtschaftlichen Ressource für die Armee. Die Poesie aber sei ebenfalls »eine Ressource der Standhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung.«
»Mit welchen Katastrophen setzen sich Ihre Helden auseinander?«
Man konnte das in Czernowitz auf vielfältige und zunächst auch irritierende Weise erleben. Der aus den Befreiungsbewegungen stammende Ausruf »Slawa Ukrajini« am Ende der offiziellen Reden (»Ruhm der Ukraine«) und die Antwort aus dem Publikum »Slawa Herojam" (»Ruhm den Helden«) gehörten dazu, und so militärisch befremdend sich das für westliche Zugereiste ausnehmen mag: Das ist mittlerweile ein Akt der Selbstverständigung, die Versicherung einer neuen ukrainischen Identität. Und diese versteht sich vor allem als ein Gegenentwurf zum russischen Imperialismus. Der »ukrainische Nationalismus«, das lernte man hier, ist ein Begriff, der vordergründig von der russischen Propaganda lanciert wird und den man äußerst differenziert betrachten sollte.
Es gibt in der Ukraine zwar eindeutig nationalistische Strömungen, aber vorherrschend ist gerade im Kulturbereich etwas Anderes: eine Rückbesinnung auf die Tradition der Mehrsprachigkeit und des Zusammenlebens verschiedener Sprachgemeinschaften in demselben Raum. So wurden zu »Meridian« in den vergangenen Jahren immer auch bewusst Autoren aus Israel eingeladen, als Anknüpfung an die jüdische Geschichte von Czernowitz, so auch in diesem Jahr. Und es ist, angesichts der antisemitischen Haltungen in der ukrainischen Vergangenheit, nicht zu unterschätzen, wie Czernowitz sich in offiziellen Broschüren selbst darstellt: als eine Stadt, die »immer tolerant und offenherzig zu allen Nationen und Konfessionen« sein wollte. Man sollte das Bestreben der Ukraine, dem russischen Imperialismus inhaltlich etwas entgegenzusetzen, ernst nehmen. Wenn der deutsche Literaturhistoriker von einer Journalistin aus Kiew gefragt wird: »Mit welchen Katastrophen setzen sich Ihre Helden auseinander?« Dann ist das, trotz aller Verwirrung, vor allem als ein Versuch der Annäherung zu begreifen, eines gegenseitigen Verständnisses. Aber natürlich merkt man an solchen Formulierungen auch, welche Hürden dabei zu überwinden sind.
Der Krieg hat etwas ausgelöst, das Putins Intentionen gänzlich widerspricht
Die ukrainische Literatur sieht sich der Anforderung ausgesetzt, sich aus dem Schatten der russischen Sprache und Kultur zu befreien. Diese über Jahrhunderte aufgebauten Strukturen aufzubrechen, das ist das seit dem russischen Überfall alles beherrschende Thema, und jedes Gespräch in Czernowitz berührte zwangsläufig diesen Punkt. Das Ukrainische als Sprache der »Tölpel« und »Bauern«, die Ukrainer als »Kleinrussen« – auch bei den großen russischen Schriftstellern wie Tolstoi und Puschkin wird dieser imperialistische Anspruch Russlands ganz selbstverständlich mit transportiert. Die Auseinandersetzung mit der russischen Kultur zu vermitteln, ist für die Ukrainer momentan im Gespräch mit westlichen Autoren das sensibelste Thema: Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Ukraine politisch und kulturell nicht als eine Art russischer Filiale wahrgenommen werden darf. Die ukrainische Sprache hat beispielsweise mehr Berührungspunkte mit dem Slowakischen und Polnischen als mit dem Russischen.
Ver-ERB-t

ELKE ERB
1938 - 2024
MERIDIAN CZERNOWITZ 2010
verERBte Erinnerung
Treffpunkt Lemberg, Flughafen.
Es regnet, wir kommen aus verschiedenen Richtungen.
Ein Bus mit Aufschrift “MERIDIAN CZERNOWITZ” wartet.
Wir steigen ein, rattern Richtung Tscherniwzi. Werden durch- und wachgerüttelt.
Abends am Stadtrand in Holzhäuser geschlüpft.
Nächtens ein Stromausfall.
Morgens, an Ziegen und Wiesen vorbei, stadtwärts zur Universität.
Das erste Festival “MERIDIAN CZERNOWITZ” beginnt.
Milena Findeis

ZUGFENSTER, NACHTS
In einem kleinen Ort
drei Christbäume auf der Straße:
am Anfang, in der Mitte, am Ende.
Der menschliche Geist
der Behörde
im Gespräch
mit sich selbst.
1.1.95
S. 60, Elke Erb, Sonanz, 5-Minuten Notate, Engelers Backlist
2019

ZUGFAHRT
Hinter oben spitzgesägten Latten
auf gemähter Wiese helle Leiber, Schweine
nach dem Zuschnitt (Umrisse) von Schweinen.
Sehrest. Wie Gewinn.
3.11.03
S.84, Elke Erb - Das ist hier der Fall
Suhrkamp Verlag 2020

Mark Belorusez aus Kyjiw

übersetzt seit mehr als 30 Jahren deutschsprachige und ukrainische AutorINNen. Mit seinem zusammen mit Tanja Baskakowa veröffentlichten Band Paul Celan: Gedichte. Prosa. Briefe. Gedichte Deutsch und Russisch (Moskau: Ad marginem, 2008) hat er eine poetische Sprache für Celan im Russischen geschaffen.
Als Mitbegründer des Literaturfestivals Meridian Czernowitz hat er dazu beigetragen, das literarische Erbe der einst multiethnischen Stadt Czernowitz im 21. Jahrhundert neu zu beleben und die europäischen Lyrik - wieder - in die Bukowina zurückzubringen.
*Mark Belorusez hat am 31.1.2024 folgenden Beitrag in russischer Sprache geschrieben.
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Эльке Эрб (Elke Erb, 1938 - 2024)– немецкая поэтесса, эссеистка, переводчица. Жила и работала в Берлине, до объединения Германии - в гедеэровском Берлине. Первый сборник стихов и прозы вышел в 1975 г. С тех пор опубликовано около трех десятков книг, не считая переводов. Эльке Эрб переводила с французского, английского, греческого, но больше всего с русского, в том числе: пушкинский «Борис Годунов», гоголевская «Женитьба», есенинские «Пугачев» и «Анна Снегина», стихотворения и проза Цветаевой, «Реквием» Ахматовой, произведения современных поэтов Елены Шварц, Ольги Мартыновой, Олега Юрьева и др. Литературный труд Эльке Эрб отмечен десятком литературных премий и наград, в 2020 году она получила премию им. Георга Бюхнера, присуждаемую Дармштадтской академией языка и поэзии, - это самая значительная литературная премия в Германии. Она была замечательным человеком, добрым и отзывчивым. Не стоит забывать, что Эльке Эрб была первым немецким поэтом, ставшим участником первого украинского международного поэтического фестиваля Meridian Czernowitz. Эльке Эрб ушла 22 января этого года. Ниже несколько моих переводов её стихов. ЭЛЬКЕ ЭРБ УПРАЖНЕНИЕ Ветрено. Как принялась я из нечто (некой «данности», как всё еще говорят) делать слова. Ветрено. И свежо. Ветер разве тренирует деревья? Да нет, они без ветра готовы вполне. И для людей зачастую тренировки немыслимы, они cчитают, и в чем-то правы, что подготовлены. Где ты витаешь? Перенеслась: от себя в Сан-Франциско. Так вот оно сталось. Стал Сан-Франциско. Солоно. Тягостно. Железом окованные колеса фургонов. Скрипя от края к краю, с east'а на west. По причинам, что просто или непросто увидеть, я представляю, как занимали тот край европейские переселенцы. Словно под бровями у меня заволокло. 27.8.03 ЭТА ОСОБА, ПОХОЖЕ, она настроена отрешиться. Ну да, загруженное прежде ведь нужно однажды сгрузить. Понятно, раз была нагружена. Даёт о себе знать, что пора заканчивать, разделаться с тем, что было сделано. Время куда-нибудь отcтупить, тихо убраться. Прямую тянет теперь на сгиб, согнутое притягивает. Ее правды больше недостаточно. Недостаточна она. И точка. Камень или пыль. Кожа на лице уставшая, хоть дверь открыта на балкон. И без десяти двенадцать. Между лопаток кроткая, но ощутимая боль – ого, как сверкнуло! – там в хребте. 24.10.04 КАК МНЕ ПРИЙТИ ОТ ЭТОГО К ТОМУ? Мне не прийти от этого к тому, приду не я, а нечто третье, что третье, их связующее, нужно мне вызнать, выстеречь и выдумать, что в сердце Одного касается Другого кожи, что с плеч одних скользит в другое сердце, в Другого попадая жизнь, и как меж двух - Безместное и Общее – назвать, мне нужно вызнать, выстеречь и выдумать – как иначе? Тот хворост, что над ямою подламывается. Упасть – подняться снова. Да тут и тени нет сарказма. 16.1.05 КАСАТЕЛЬНО LADIES Пока я здесь (в каминной, наверху) на желтом руне половиц лежу, читая, как юный Ван Дейк писал Апостолов, возле меня в ожидании стоит пустота, и вспоминает о схожей с ней, тогда, в Эденкобене, возле меня, или потом в Фельдафинге, или в других местах; они, пустоты, вакуумы эти - ladies, неколебимые стоят бессмертны, кивком друг дружке отдавая честь; а та парит от каждой к каждой гармонично над временами, где их нет. 28.7.06 Переводы были опубликованы в киевском альманахе "Соты". |
Elke Erb (1938 – 2024) – deutsche Dichterin, Essayistin, Übersetzerin. Sie lebte und arbeitete vor der Vereinigung Deutschlands in Berlin – in der Rheinsberger Straße im Bezirk Mitte dicht an der Grenze zum Prenzlauer Berg. Die erste Gedicht- und Prosasammlung erschien 1975. Seitdem sind rund drei Dutzend Bücher erschienen, Übersetzungen nicht mitgerechnet. Elke Erb übersetzte aus dem Französischen, Englischen, Griechischen, vor allem aber aus dem Russischen, darunter: Puschkins „Boris Godunow“, Gogols „Hochzeit“, Jesenins „Pugatschow“ und „Anna Snegina“, Gedichte und Prosa von Zwetajewa, „Requiem“ von Achmatowa, Werke der zeitgenössischen Dichter Elena Schwartz, Olga Martynova, Oleg Yuryev und anderen. Elke Erbs literarisches Werk wurde mit einem Dutzend Literaturpreisen und Auszeichnungen gewürdigt; 2020 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Er ist der bedeutendste Literaturpreis in Deutschland. Sie war ein wundervoller Mensch, freundlich und empathisch. Elke Erb gehörte zu jenen deutschen Dichterinnen, die am ersten Internationalen Literaturfestival Meridian Czernowitz (September 2010) teilgenommen hat. Elke Erb ist am 22. Januar 2024 verstorben.
ELKE ERB ÜBUNG Windig. Wie komme ich dazu, aus etwas (etwas “Gegebenem”, wie man sagt, immer noch) Windig. Und kühl. Ob der Wind die Träume trainiert? Wo denkst du hin. Von dir nach San Francisco? vom Ostrand zum Westrand. 27.8.03 DIE PERSON, ES KÖNNTE SEIN sie zielt auf Auflösung. Freilich, die geladene Last Ihre Wahrheit ist nicht mehr genug. Stein oder Staub. Die Haut ist müde im Gesicht 24.10.04
WIE KOMME ICH VON DIESEM ZU JENEM? Ich komme nicht von diesem zu jenem, ich habe ein Drittes, sie Verbindendes, ein aus dem Herzen des einen die Haut des anderen Anrührendes, ein von der Schulter eines einen in das Herz eines anderen Rutschendes, in die Leben eines anderen Geratendes, ein Irgendetwas, Ortloses, Gemeinsames, zwischen beiden Ernanntes zu erfinden, erlauern, entdecken, wie sonst? Sturz & immer obenauf. Und es ist eben dies kein Sarkasmus. 16.1.05 LADIES BETREFFEND Während ich hier (Landkemenate) steht die Leere neben mir harrend oder dann auch in Feldafing und beliebig; sie sind, diese Leeren, die Vakuen, Ladies: standhaft unsterblich und grüßen sich mit Ehrerbietung; die gleitet harmonisch von der einen zur andern hin über die Zeiten, 28.7.06 Die Übersetzungen wurden im Kiewer Almanach „Honeycombs“ veröffentlicht. |
MERIDIAN CZERNOWITZ 3. bis 5. September 2010 mit ELKE ERB
Meridian Czernowitz XIII - 2022
Vom 2. bis 4. September 2022 fanden im Rahmen der internationalen Literaturveranstaltung Meridian Czernowitz XIII Aufführungen, Lesungen und Gespräche betreffend »Dialoge über den Krieg« statt.

An den Veranstaltungen dieses Sonderprogramms nahmen u.a. Andriy Lyubka, Iryna Tsilyk, Josef Zissels, Igor Pomerantsev, Andriy Bondar und Kateryna Kalitko teil. Sie sprachen über den Krieg, dessen kulturellen Frontverlauf und kreative Antworten in Kriegszeiten.
Claus Löser trug im Frühjahr dieses Jahres, kurz nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine, die Idee an mich heran, sollte das Festival stattfinden – gemeinsam auf eigene Faust nach Tscherniwzi zu fahren.
Die Hinreise mit dem PKW über Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumänien dauerte drei Tage – genauso lange wie Meridian Czernowitz XIII. Als Evgenia Lopata von Meridian Czernowitz erfuhr, dass ich auf eigene Kosten nach Tscherniwzi kommen werde, wurde ich kurzfristig um einen aktuellen Text gebeten. Ich übermittelte den weiter unten angeführten Text, der von Petro Rychlo ins Ukrainische übersetzt wurde. Die Lesung, moderiert und übersetzt von Petro Rychlo fand am 3.9. im Paul Celan Zentrum statt.
Ich war überrascht, wie viele junge Besucherinnen aufmerksam zuhörten. Inmitten des Lesens, traf mich der eine oder andere Blick so fragend, dass mir während des Lesens die Augen tränten. Sie, die Zuhörenden aus der Ukraine werden bleiben, die eine oder ein anderer in den Krieg ziehen. Ich hingegen werde wieder zurück in Prag, den Sohn wiedersehen, der wie gewohnt einen Zug lenken wird, sein altes Haus weiter renovieren wird. So anders die Zukunftsaussichten für die Menschen, die für die Freiheit ihres Landes kämpfen. Am Ende der Lesung bedankte sich eine der Zuhörerinnen mit den Worten »Danke für ihre Tränen«.*
Es war 2022 eine ganz andere Stimmung als bei dem ersten Festival im Jahre 2010. Sviatoslav Pomerantsev, den ich seit 2008 als »Slava« kenne umarmt mich mit den Worten »you are my hero«. Er arbeitete seit 2008 unterstützt von seinem Onkel Igor Pomerantsev und Iryna Vikyrchak an der Idee, die internationale Literatur zurück nach Czernowitz zu bringen – das wurde durch die Gründung von MERIDIAN CZERNOWITZ in die Tat umgesetzt. Die einstige Aufbruchsstimmung war durch den Krieg seit 2014 aufgesogen worden. Zu spüren war aufbegehrender Widerstand, der Mut und der Wille – weiterzumachen. Die herzhafte Leichtigkeit von einst ward zwölf Jahre später durch Professionalität ersetzt worden: Eine aus Kyiv angereiste Modefotografin fotografierte die TeilnehmerINNen - in einem Studio, ich entziehe mich dem, offiziell war das Wort »Festival« gestrichen worden und die Direktorin Evgenia Lopata durch ihre Aktivitäten allerorts präsent.
Was sich nicht geändert hat: an den Straßenrändern wird noch immer frisches Obst, eingelegtes Gemüse, Marmeladen von RetnerINNEn angeboten. Ich kaufte Äpfel und Blumen ein. Vor der Ausgangssperre um 23 Uhr hörte ich den Straßenmusikanten zu. Neu hingegen die kilometerlangen Schlangen von LKWs, deren Fahrer bis zu 14 Tage auf die Ein- bzw. Ausreise an der rumänisch-ukrainischen Grenze warten. Die Wand hinter dem Denkmal von Taras Schewtschenko ist von einer ukrainischen Fahne bedeckt, davor eine Fotogalerie mit den seit 2013 auf dem Maidan während des Krieges gefallenen Soldaten aus Tscherniwzi. Dort werden Tag für Tag frische Blumen niedergelegt, Kerzen angezündet. Aus den Kirchen waren die Chöre, die Fürbitten zu hören. Anstelle der Menschen, die Hochzeiten entlang der Olha Kobylanska Straße – der einstigen Herrengasse während der K&K Monarchie – feierten, waren Soldaten in Uniform zu sehen.
Das mir angebotene Honorar bat ich, als Spende zu verwenden. Vor der Anreise war Udo Puschnig vom Amt der Kärntner Landesregierung mit der Bitte an mich herangetreten, den Sponsorbeitrag der Georg Drozdowski Gesellschaft in bar an die Veranstalter des Meridian Czernowitz zu übergeben. Dieser Bitte kam ich nach.


Lesungen in deutscher Sprache, die ins Ukrainische übersetzt, waren Gedichte von Andrea Schwarz und Jan Snela, ein Briefwechsel von Jurko Prochasko mit Helmut Böttiger, Gedichte von Nora Gomringer und Judith Schifferle, die an der Volkshochschule Beider Basel einen Kurs »Der ukrainische Sonderfall: Lyrik aus dem Krieg« anbietet. Ich besuchte beinahe alle Gespräche der ukrainischen TeilnehmerINNen – da ich dank meiner Tschechisch Kenntnisse gesprochenes Ukrainisch verstehe. Der aus Israel angereiste Eran Tzelgov mailte mir nach den LesungenTexte, einige davon hat er auf Hebräisch gelesen, die ins Ukrainische übersetzt wurden.
Während des Vortrags von Josef Zissels, einen der Teilnehmer die ich vom ersten Meridian Czernowitz 2010 kenne, über Identität, einem Geflecht von Sprache, Raum, Abstammung, Gewohnheit, Bräuchen beobachtete ich den aus Tscherniwizi stammenden Fotojournalisten Maxym Kozmenko, der über das Geschehen aus der Ukraine berichtet.
Wie mir Petro Rychlo und Christian Weise erzählen, gibt es nach wie vor reguläre Busverbindungen in die Ukraine. Juri Andruchowytsch hat eine solche Reise vor zwanzig Jahren in dem Essay »Germaschka« beschrieben. So eine Reise anzutreten, das nehme ich mir vor.
Prag, 10. September 2022, Milena Findeis
Zum Auftakt der Lesungen, Gespräche
Svyatoslav Pomerantsev, 2.9.2022
Ich möchte hier einige Worte über das Hinterland sagen, da wir uns infolge geographischer Lage im Rücken eines Landes befinden, das einen Krieg zu führen gezwungen ist. Kriegstheoretiker betrachten das Hinterland vor allem als eine menschliche und wirtschaftliche Armeeressource. Dichter, die zu uns während des Kriegs gekommen sind, um ihre Gedichte hier vorzutragen, und Poesiefreunde, die bereit sind, während des Krieges den Gedichten zuzuhören, – das ist ebenfalls eine Ressource, obschon von einer anderen Art. Das ist eine Ressource der Lebensstandhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung. Natürlich ist es eine sehr bescheidene Ressource, doch ohne sie wäre es viel schwieriger zu leben. Im Gedicht von Rose Ausländer „Hoffnung“ finden sich solche Zeilen:
Wer könnte atmen
ohne Hoffnung
dass auch in Zukunft
Rosen sich öffnen
Atmen bedeutet Hoffnung zu haben. Wir leben in einem Land, in dem unser Feind Tausende von Häusern zusammen mit ihren Einwohnern vollkommen ausgelöscht hat. Anstelle der Häuser sind nur Löcher und Lücken geblieben. Poesie kann nicht die Ermordeten auferstehen lassen. Aber solange Gedichte erklingen, wird die Hoffnungsressource nicht versiegen.
Igor Pomerantsev, 2.9.2022:
Der Krieg gibt den halb vergessenen Wörtern, deren Stelle nur in den militärischen Wörterbüchern und alten Gedichten aufscheinen, einen neuen Sinn. Eines dieser Wörter heißt „Frontgebiet“. So nennt man ein Territorium nahe der Front. Aber es gibt auch eine andere Definition dieses Wortes. Alle Menschen, von Charkiw bis New York, die einschlafend an die Ukraine denken und aufwachen, um den neuen Tag mit dem Lesen der Kriegsnachrichten zu beginnen, sind Frontgebietsmenschen.
Gedichte, die hier vortragen werden, klingen wie Texte aus dem Frontgebiet – ob wir es wollen oder nicht. Die ganze klassische Poesie, sogar solche lyrischen Zeilen wie Taras Schewtschenkos „Ein Kirschengarten vor dem Haus“ oder „grenzenlose Felder / Und den Dnipr und seine Schnellen“ sind heute Frontgebietspoesie.
Wieso? Weil die Poesie dem Tode gegenübersteht, und der Krieg bedeutet Tod. Ich glaube an den Sieg der Poesie. Sicher, sie besitzt keine Haubitzen, keine geflügelte und flügellose Raketen, keine Bomben, aber sie besitzt hochpräzise Wörter, gegen die sogar die Kanonen machtlos sind.
Wir leben heute in solchen Zeiten – in den Zeiten der Frontgebietsgedichte, der Frontgebietsdichter, der Frontgebietsleser und -zuhörer.
Lesung Milena Findeis: Zersetzendes Jahrtausend
Moderiert und ins Ukrainische übersetzt von Prof. Petro Rychlo, Перекладач Петро Рихло: «У найжорстокіші часи з’являється найніжніша лірична поезія»
Im September 2025 wurden von Kate Tsurkan die Gedichte »Ein aus der Sprache gefallenes Wort«, »Zersetzendes Jahrtausend«, »Wort-Arbeit«, »Zersplittert« und »Mückenklang« für Apofenie aus dem Ukrainischen ins Englische übersetzt.

Ein aus der Sprache gefallenes Wortsich ausbreitetend wie ein Lauffeuer Kämpfend hallt es wider Diesen Feind definieren Dem inneren Kriegsvirus nachspüren Wo bin ich Opfer? *** ZERsetzendes JAHRtausendMit von Verbrechen Diktatoren oftmals im Duett *** Wort-ARBEITIm Mund das Wort Es summt in den Ohren Mit Hashtags verbreitet ***
ZersplittertInmitten all der Scherben Der Druck von Dort das Eis Eruption Ersteres ausgesprochen *** MückenKlangEingefangen von Dicht am Wasser Auf warmen Kieseln Aus dick verwobenem Über der abgeschürften Haut *** SchwesternDen Balken aus den Augen lösen Vorwürfe in den brennenden Scheiterhaufen versenken Erinnerungen ausatmen: lang und tief Von *** SeelensZug Zug für Zug *** |
Слово що випало з мовищо шириться мовби пожежа у лісі
Знову відчути внутрішній вірус війни Де я жертва? *** ДЕструктивне ТисячоЛІТТЯ
Диктатори часто виступають в дуеті ***
Словесна РОБОТАСмакувати Воно бринить у вухах Поширене у гаштеґах ***
Розбита на скалкипоміж усіх цих уламків Натиск Там – крига *** Комашиний співВ обіймах У воді Із густо тканої ***
СестриВийняти скалку з ока Докори вкинути у палаючу ватру Видихати спогади: довго й глибоко Звільнитися ***
Душевні крокиКрок за кроком *** |
Foto von der Prager Buchmesse 2022 vor dem Stand der Ukraine
GeborgenheitMitten im Gewühl der Prager Buchmesse Bücher, Autorinnen, Menschen, Kinder Es wird gelesen, gespielt, gesungen, gekocht Das sind die stillen Momente, die dem Herz Der “Wiederaufbau des Menschlichen” immer wieder zurückkehren *** |
Захищеність
яка несе картонну коробку книжок *** |
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Im Frühjahr 2022 der mit Claus Lösergesponne Plan, nach Tscherniwzi zu fahren Ich zitiere aus seinem Gedicht “Nicht einfach” Nein einfach ist es nicht
Jede Kunst überdeckt Narben Ich hänge an der Lebendigkeit Milena Findeis, Ins Ukrainische übersetzt von Petro Rychlo |
Навесні 2022 року в нас із Клаусом Льозером Я цитую з його вірша: «Непросто» Мілена Фіндайз, З німецької переклав Петро Рихло
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Claus Löser, Berliner Zeitung, Wochenendausgabe 17., 18. September 2022, Berichte über das Festival 2015, 2020
Helmut Böttiger,Deutschlandfunk Literaturfestival unter besonderen Bedingungen, Czernowitz, 6.9.2022
Jan Snela, Rose der Hoffnung in der Ukraine: Jan Snela über das Lyriktreffen in Czernowitz, SWR 2.9.2022
BILDERBOGEN MERIDIAN CZERNOWITZ 2022
Deutschjüdische Lyrik aus der Bukowina
Lyrikhandlung am Hölderlinturm
©Lyrikbrief Ulrike Geist, Februar 2022
Czernowitz, die Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Bukowina, war vor dem ersten Weltkrieg ein osteuropäisches, jüdisches literarisches Paradies. Durch seine Mehrsprachigkeit und in der Kreuzung verschiedener Kulturtraditionen war das dortige Kulturleben ohnegleichen. Czernowitz war ein Sammelbecken multikultureller deutschsprachiger Literatur und die heimliche Hauptstadt deutschsprachiger Lyrik.
Mit Auflösung der österreichischen Monarchie fiel die östlichste Provinz, das Buchenland Bukowina an das königliche Rumänien. Da die meisten jüdischen Intellektuellen deutschassimiliert waren, bildete sich hier unter dem Mentor Alfred Margul Sperber eine Gruppe deutschjüdischer Literaten, zu der Alfred Kittner, Moses Rosenkranz, Rose Ausländer und auch die nächste Dichtergeneration mit Immanuel Weissglas, Alfred Gong, Paul Celan und Selma-Meerbaum-Eisinger, Ilana Shmueli gehörten.
Zugleich waren die Bukowina und Czernowitz jahrhundertelang Spielball der deutschen Geschichte. 1940 überfielen die Sowjets das Gebiet und deportierten nicht nur Juden, sondern auch nichtjüdische Intellektuelle nach Sibirien. Mit Beginn des 2. Weltkriegs verbündete sich Rumänien mit Hitlerdeutschland, die Bukowina wurde von der Wehrmacht besetzt, 1944 von der Sowjetunion befreit; der nördliche Teil der Bukowina fiel an die Sowjets und gehört seit 1991 zur Ukraine; der südliche Teil blieb den Rumänen. Was mit der Macht totalitärer Regime und dem Beginn des 2. Weltkrieges über die Dichter dieses Landstrichs hereinbrach lässt sich kaum beschreiben, der Exodus des Überlebenden war unvermeidlich.
Paul Celan, der dem Abtransport nach Transnistrien entgangen und in ein Arbeitslager geschickt worden war, hat es sich bis ans Ende seines Lebens nicht verziehen, dass er in der Nacht der Aushebungen nicht bei seinen Eltern geblieben war; die Mutter wurde ermordet, der Vater starb im Lager an Typhus.
Oder Moses Rosenkranz, der während der antisemitischen Verfolgungen durch Verstecke und Arbeitslager überlebt hatte, floh aus der nun zur Sowjetunion gehörenden Nordbukowina nach Bukarest, fiel dort aber der sich neu etablierenden Diktatur zum Opfer: er verbrachte 10 Jahre in den sowjetischen Gulags, erst 1961 konnte er in den Westen entkommen.
Selma Meerbaum-Eisinger
Tragik
Das ist das Schwerste: sich verschenken
Und wissen, dass man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
dass man wie Rauch ins Nichts verfliesst.
23. Dezember 1941 (Aus: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt…)
Paul Celan
Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine:des Heiland Kranz aus tausend Körnchen Kummer.Von meinen Tränen hier erreicht dich keine
Von frühern Winken nur ein stolzer stummer…
Wir sterben schon: was schläfst du nicht, Baracke?Auch dieser Wind geht um wie ein Verscheuchter…Sind sie es denn, die frieren in der Schlacke –die Herzen Fahnen und die Arme Leuchter?
Ich blieb derselbe in den Finsternissen:
erlöst das Linde und entblösst das Scharfe?Von meinen Sternen nur wehn noch zerrissendie Saiten einer überlauten Harfe…
Dran hängt zuweilen eine Rosenstunde.Verlöschen. Eine. Immer eine…Was wär es, Mutter: Wachstum oder Wundeversänk auch ich im Schneewehn der Ukraine?
Aus: Blaueule Leid, Bukowina 1940-1944
Rimbaud-Verlag, (nur in der Lyrikhandlung)
Literatur und Lyrik aus dieser Zeit finden Sie bei mir in vielfältiger Form. Einige Bücher möchte ich hier besonders erwähnen, aber am besten kommen Sie selbst in die Buchhandlung, denn alle Titel des Rimbaud Verlages sind nicht über den Online-Shop, sondern nur in der Lyrikhandlung direkt zu erwerben.
Elisabeth Axmann
Fünf Dichter aus der Bukowina
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung)
Paul Celan
Mohn und Gedächtnis
DVA
Paul Celan
Werke
Suhrkamp, Bd 14
historische kritische Ausgabe(nur in der Lyrikhandlung)
Paul Celan
Gedichte
Suhrkamp
Klaus Reichert
Paul Celan
Erinnerungen und Briefe
Suhrkamp
Helmut Böttiger
Celans Zerrissenheit
Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist
Galiani
Rose Ausländer
Und nenne Dich Glück
Gedichte
Fischer
Rose Ausländer
Liebesgedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Rose Ausländer
Der Regenbogen
Gedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Rose Ausländer
Grüne Mutter Bukowina
Gedichte und Prosa
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Selma Meerbaum-Eisinger
Du, weißt du, wie ein Rabe schreit?
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Selma Meerbaum-Eisinger
ich bin in Sehnsucht eingehüllt
Gedichte
Hoffmann und Campe
Marion Tauschwitz
Selma Meerbaum-Eisinger
Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben
Biografie und Gedichte
zuKlampen
Immanuel Weißglas
Der Nobiskrug
Gedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Dusza Czara-Rosenkranz
Gedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
David Goldfeld
Der Brunnen
Gedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Klara Blum
Liebesgedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Illana Shmueli
Leben im Entwurf
Gedichte aus dem Nachlaß
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Und wenn Ihnen mein Lyrikbrief gefällt, dann leiten Sie ihn doch weiter an Freunde, Bekannte und Kollegen…Danke dafür!
…et n’oubliez pas de revenir!
Auf ein baldiges Wiedersehen, Ihre Ulrike Geist

Vom 3. bis zum 5. September 2021 veranstaltete das Paul Celan Literaturzentrum in Czernowitz die zwölfte Ausgabe des Internationalen Lyrikfestivals MERIDIAN CZERNOWITZ. Neben Lesungen, Performances und Filmvorführungen standen Diskussions-Veranstaltungen, die sich mit der Ukraine beschäftigen, im Mittelpunkt. Nachstehend sind jene Veranstaltungen angeführt, die in deutscher Sprache stattfanden bzw. übersetzt wurden.
3.9. 12:00-13:00 (OESZ) Lyrik-Lesung: Deutschland
Mitwirkende: Farhad Showghi, Christian Lehnert; Moderation und Übersetzung – Petro Rychlo, Mark Belorusez
3.9. 15:00-16:15 (OESZ): Diskussion: »Die Ukraine in den Augen der Welt. Im Fokus - Literatur«
Claudia Dathe (Deutschland-Online), Serhij Zhadan (Ukraine); Moderation – Igor Pomerantsev
4.9. 12:30-13:30 (OESZ) Lyrik-Lesung: Österreich
Veranstaltungsort: Österreich Bibliothek
Maja Haderlap, Antonio Fian; Moderation und Übersetzung – Petro Rychlo, Mark Belorusets
4.9. 20:15-21:30 (OESZ): Diskussion: »Die Ukraine in den Augen der Welt. Im Fokus – Kunst und Journalismus«
Peter Zalmajew, Kate Tsurkan, Claus Löser; Moderation – Evgenia Lopata
Tino Schlench: "Ich warte lange im Regen vor dem Haupteingang, bevor mich eine Mitarbeiterin des Paul Celan Literaturzentrums abholt. In den nächsten vier Wochen werde ich das Internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz unterstützen." Notizen aus der Ukraine – Aug/Sep 2021
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21.10.2025 Einen Bezug finden/ die Spannungen im Inneren/ ins Äußere verlagert/ erhöhen den Druck/ aufweichen üben




















