Czernowitz
Ver-ERB-t
ELKE ERB
1938 - 2024
MERIDIAN CZERNOWITZ 2010
verERBte Erinnerung
Treffpunkt Lemberg, Flughafen.
Es regnet, wir kommen aus verschiedenen Richtungen.
Ein Bus mit Aufschrift “MERIDIAN CZERNOWITZ” wartet.
Wir steigen ein, rattern Richtung Tscherniwzi. Werden durch- und wachgerüttelt.
Abends am Stadtrand in Holzhäuser geschlüpft.
Nächtens ein Stromausfall.
Morgens, an Ziegen und Wiesen vorbei, stadtwärts zur Universität.
Das erste Festival “MERIDIAN CZERNOWITZ” beginnt.
Milena Findeis
ZUGFENSTER, NACHTS
In einem kleinen Ort
drei Christbäume auf der Straße:
am Anfang, in der Mitte, am Ende.
Der menschliche Geist
der Behörde
im Gespräch
mit sich selbst.
1.1.95
S. 60, Elke Erb, Sonanz, 5-Minuten Notate, Engelers Backlist
2019
ZUGFAHRT
Hinter oben spitzgesägten Latten
auf gemähter Wiese helle Leiber, Schweine
nach dem Zuschnitt (Umrisse) von Schweinen.
Sehrest. Wie Gewinn.
3.11.03
S.84, Elke Erb - Das ist hier der Fall
Suhrkamp Verlag 2020
Mark Belorusez aus Kyjiw
übersetzt seit mehr als 30 Jahren deutschsprachige und ukrainische AutorINNen. Mit seinem zusammen mit Tanja Baskakowa veröffentlichten Band Paul Celan: Gedichte. Prosa. Briefe. Gedichte Deutsch und Russisch (Moskau: Ad marginem, 2008) hat er eine poetische Sprache für Celan im Russischen geschaffen.
Als Mitbegründer des Literaturfestivals Meridian Czernowitz hat er dazu beigetragen, das literarische Erbe der einst multiethnischen Stadt Czernowitz im 21. Jahrhundert neu zu beleben und die europäischen Lyrik - wieder - in die Bukowina zurückzubringen.
*Mark Belorusez hat am 31.1.2024 folgenden Beitrag in russischer Sprache geschrieben.
Эльке Эрб (Elke Erb, 1938 - 2024)– немецкая поэтесса, эссеистка, переводчица. Жила и работала в Берлине, до объединения Германии - в гедеэровском Берлине. Первый сборник стихов и прозы вышел в 1975 г. С тех пор опубликовано около трех десятков книг, не считая переводов. Эльке Эрб переводила с французского, английского, греческого, но больше всего с русского, в том числе: пушкинский «Борис Годунов», гоголевская «Женитьба», есенинские «Пугачев» и «Анна Снегина», стихотворения и проза Цветаевой, «Реквием» Ахматовой, произведения современных поэтов Елены Шварц, Ольги Мартыновой, Олега Юрьева и др. Литературный труд Эльке Эрб отмечен десятком литературных премий и наград, в 2020 году она получила премию им. Георга Бюхнера, присуждаемую Дармштадтской академией языка и поэзии, - это самая значительная литературная премия в Германии. Она была замечательным человеком, добрым и отзывчивым. Не стоит забывать, что Эльке Эрб была первым немецким поэтом, ставшим участником первого украинского международного поэтического фестиваля Meridian Czernowitz. Эльке Эрб ушла 22 января этого года. Ниже несколько моих переводов её стихов. ЭЛЬКЕ ЭРБ УПРАЖНЕНИЕ Ветрено. Как принялась я из нечто (некой «данности», как всё еще говорят) делать слова. Ветрено. И свежо. Ветер разве тренирует деревья? Да нет, они без ветра готовы вполне. И для людей зачастую тренировки немыслимы, они cчитают, и в чем-то правы, что подготовлены. Где ты витаешь? Перенеслась: от себя в Сан-Франциско. Так вот оно сталось. Стал Сан-Франциско. Солоно. Тягостно. Железом окованные колеса фургонов. Скрипя от края к краю, с east'а на west. По причинам, что просто или непросто увидеть, я представляю, как занимали тот край европейские переселенцы. Словно под бровями у меня заволокло. 27.8.03 ЭТА ОСОБА, ПОХОЖЕ, она настроена отрешиться. Ну да, загруженное прежде ведь нужно однажды сгрузить. Понятно, раз была нагружена. Даёт о себе знать, что пора заканчивать, разделаться с тем, что было сделано. Время куда-нибудь отcтупить, тихо убраться. Прямую тянет теперь на сгиб, согнутое притягивает. Ее правды больше недостаточно. Недостаточна она. И точка. Камень или пыль. Кожа на лице уставшая, хоть дверь открыта на балкон. И без десяти двенадцать. Между лопаток кроткая, но ощутимая боль – ого, как сверкнуло! – там в хребте. 24.10.04 КАК МНЕ ПРИЙТИ ОТ ЭТОГО К ТОМУ? Мне не прийти от этого к тому, приду не я, а нечто третье, что третье, их связующее, нужно мне вызнать, выстеречь и выдумать, что в сердце Одного касается Другого кожи, что с плеч одних скользит в другое сердце, в Другого попадая жизнь, и как меж двух - Безместное и Общее – назвать, мне нужно вызнать, выстеречь и выдумать – как иначе? Тот хворост, что над ямою подламывается. Упасть – подняться снова. Да тут и тени нет сарказма. 16.1.05 КАСАТЕЛЬНО LADIES Пока я здесь (в каминной, наверху) на желтом руне половиц лежу, читая, как юный Ван Дейк писал Апостолов, возле меня в ожидании стоит пустота, и вспоминает о схожей с ней, тогда, в Эденкобене, возле меня, или потом в Фельдафинге, или в других местах; они, пустоты, вакуумы эти - ladies, неколебимые стоят бессмертны, кивком друг дружке отдавая честь; а та парит от каждой к каждой гармонично над временами, где их нет. 28.7.06 Переводы были опубликованы в киевском альманахе "Соты". |
Elke Erb (1938 – 2024) – deutsche Dichterin, Essayistin, Übersetzerin. Sie lebte und arbeitete vor der Vereinigung Deutschlands in Berlin – in der Rheinsberger Straße im Bezirk Mitte dicht an der Grenze zum Prenzlauer Berg. Die erste Gedicht- und Prosasammlung erschien 1975. Seitdem sind rund drei Dutzend Bücher erschienen, Übersetzungen nicht mitgerechnet. Elke Erb übersetzte aus dem Französischen, Englischen, Griechischen, vor allem aber aus dem Russischen, darunter: Puschkins „Boris Godunow“, Gogols „Hochzeit“, Jesenins „Pugatschow“ und „Anna Snegina“, Gedichte und Prosa von Zwetajewa, „Requiem“ von Achmatowa, Werke der zeitgenössischen Dichter Elena Schwartz, Olga Martynova, Oleg Yuryev und anderen. Elke Erbs literarisches Werk wurde mit einem Dutzend Literaturpreisen und Auszeichnungen gewürdigt; 2020 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt. Er ist der bedeutendste Literaturpreis in Deutschland. Sie war ein wundervoller Mensch, freundlich und empathisch. Elke Erb gehörte zu jenen deutschen Dichterinnen, die am ersten Internationalen Literaturfestival Meridian Czernowitz (September 2010) teilgenommen hat. Elke Erb ist am 22. Januar 2024 verstorben.
ELKE ERB ÜBUNG Windig. Wie komme ich dazu, aus etwas (etwas “Gegebenem”, wie man sagt, immer noch) Windig. Und kühl. Ob der Wind die Träume trainiert? Wo denkst du hin. Von dir nach San Francisco? vom Ostrand zum Westrand. 27.8.03 DIE PERSON, ES KÖNNTE SEIN sie zielt auf Auflösung. Freilich, die geladene Last Ihre Wahrheit ist nicht mehr genug. Stein oder Staub. Die Haut ist müde im Gesicht 24.10.04
WIE KOMME ICH VON DIESEM ZU JENEM? Ich komme nicht von diesem zu jenem, ich habe ein Drittes, sie Verbindendes, ein aus dem Herzen des einen die Haut des anderen Anrührendes, ein von der Schulter eines einen in das Herz eines anderen Rutschendes, in die Leben eines anderen Geratendes, ein Irgendetwas, Ortloses, Gemeinsames, zwischen beiden Ernanntes zu erfinden, erlauern, entdecken, wie sonst? Sturz & immer obenauf. Und es ist eben dies kein Sarkasmus. 16.1.05 LADIES BETREFFEND Während ich hier (Landkemenate) steht die Leere neben mir harrend oder dann auch in Feldafing und beliebig; sie sind, diese Leeren, die Vakuen, Ladies: standhaft unsterblich und grüßen sich mit Ehrerbietung; die gleitet harmonisch von der einen zur andern hin über die Zeiten, 28.7.06 Die Übersetzungen wurden im Kiewer Almanach „Honeycombs“ veröffentlicht. |
MERIDIAN CZERNOWITZ 3. bis 5. September 2010 mit ELKE ERB
Meridian Czernowitz XIII - 2022
Vom 2. bis 4. September 2022 fanden im Rahmen der Internationalen Literaturveranstaltung Meridian Czernowitz XIII Aufführungen, Lesungen und Gespräche betreffend "Dialoge über den Krieg" statt.
An den Veranstaltungen dieses Sonderprogramms nahmen u.a. Andriy Lyubka, Iryna Tsilyk, Josef Zissels, Igor Pomerantsev, Andriy Bondar und Kateryna Kalitko teil. Sie sprachen über den Krieg, dessen kulturellen Frontverlauf und kreativen Antworten in Kriegszeiten.
Claus Löser trug im Frühjahr dieses Jahres, kurz nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine, die Idee an mich heran, sollte das Festival stattfinden - gemeinsam auf eigene Faust nach Tscherniwzi zu fahren.
Die Hinreise mit dem PKW über Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumänien dauerte drei Tage - genau so lange wie Meridian Czernowitz XIII. Als Evgenia Lopata von Meridian Czernowitz erfuhr, dass ich auf eigene Kosten nach Tscherniwzi kommen werde, wurde ich kurzfristig um einen aktuellen Text gebeten. Ich übermittelte den weiter unten angeführten Text, der von Petro Rychlo ins Ukrainische übersetzt wurde. Die Lesung moderiert und übersetzt von Petro Rychlo fand am 3.9. im Paul Celan Zentrum statt.
Ich war überrascht, wie viele junge Besucherinnen aufmerksam zuhörten. Inmitten des Lesens, traf mich der eine oder andere Blick so fragend, dass mir während des Lesens die Augen tränten. Sie, die Zuhörenden aus der Ukraine werden bleiben, die eine oder ein anderer in den Krieg ziehen. Ich hingegen wieder zurück nach Prag fahren, den Sohn wiedersehen, der wie gewohnt einen Zug lenken wird, sein altes Haus weiter renovieren wird. So anders die Zukunftsaussichten für die Menschen, die für die Freiheit ihres Landes kämpfen. Am Ende der Lesung bedankte sich eine der Zuhörerinnen mit den Worten "Danke für ihre Tränen".*
Es war 2022 eine ganz andere Stimmung als bei dem ersten Festival im Jahre 2010. Sviatoslav Pomerantsev, den ich seit 2008 als "Slava" kenne umarmt mich mit den Worten "you are my hero". Er arbeitete seit 2008 unterstützt von seinem Onkel Igor Pomerantsev und Iryna Vikyrchak an der Idee, die internationale Literatur zurück nach Czernowitz zu bringen - das wurde durch die Gründung von MERIDIAN CZERNOWITZ in die Tat umgesetzt. Die einstige Aufbruchsstimmung war durch den Krieg seit 2014 aufgesogen worden. Zu spüren war aufbegehrender Widerstand, der Mut und der Wille – weiterzumachen. Die herzhafte Leichtigkeit von einst ward zwölf Jahre später durch Professionalität ersetzt worden: Eine aus Kyiv angereiste Modefotografin fotografierte die TeilnehmerINNen - in einem Studio, ich entziehe mich dem, offiziell war das Wort "Festival" gestrichen worden und die Direktorin Evgenia Lopata durch ihre Aktivitäten allerortens präsent.
Was sich nicht geändert hat: an den Straßenrändern wird noch immer frisches Obst, eingelegtes Gemüse, Marmeladen von RetnerINNEn angeboten. Ich kaufte Äpfel und Blumen ein. Vor der Ausgangssperre um 23 Uhr hörte ich den Straßenmusikanten zu. Neu hingegen die kilometerlangen Schlangen von LKWs, deren Fahrer bis zu 14 Tage auf die Ein- bzw. Ausreise an der rumänisch-ukrainischen Grenze warten. Die Wand hinter dem Denkmal von Taras Schewtschenko ist von einer ukrainischen Fahne bedeckt, davor eine Fotogalerie mit den seit 2013 auf dem Maidan, während des Kriegs gefallenen Soldaten aus Tscherniwzi. Dort werden Tag für Tag frische Blumen niedergelegt, Kerzen angezündet. Aus den Kirchen waren die Chöre, die Fürbitten zu hören. Anstelle der Menschen, die Hochzeiten entlang der Olha Kobylanska Straße - der einstigen Herrengasse während der K&K Monarchie - feierten, waren Soldaten in Uniform zu sehen.
Das mir angebotene Honorar bat ich als Spende zu verwenden. Vor der Anreise war Udo Puschnig vom Amt der Kärntner Landesregierung mit der Bitte an mich herangetreten, den Sponsorbeitrag der Georg Drozdowski Gesellschaft in bar an die Veranstalter des Meridian Czernowitz zu übergeben. Dieser Bitte kam ich gerne nach.
Lesungen in deutscher Sprache, die ins Ukrainische übersetzt, waren Gedichte von Andra Schwarz und Jan Snela, ein Briefwechsel von Jurko Prochasko mit Helmut Böttiger, Gedichte von Nora Gomringer und Judith Schifferle, die an der Volkshochschule Beider Basel einen Kurs "Der ukrainische Sonderfall: Lyrik aus dem Krieg" anbietet. Ich besuchte beinahe alle Gespräche der ukrainischen TeilnehmerINNen – da ich dank meiner Tschechisch Kenntnisse gesprochenes Ukrainisch verstehe. Der aus Israel angereiste Eran Tzelgov mailte mir nach den LesungenTexte, einige davon hat er auf Hebräisch gelesen, die ins Ukrainische übersetzt wurden.
Während des Vortrags von Josef Zissels, einen der Teilnehmer die ich vom ersten Meridian Czernowitz 2010 kenne, über Identität, einem Geflecht von Sprache, Raum, Abstammung, Gewohnheit, Bräuchen beobachtete ich den aus Tscherniwizi stammenden Fotojournalisten Maxym Kozmenko, der über das Geschehen aus der Ukraine berichtet.
Wie mir Petro Rychlo und Christian Weise erzählen, gibt es nach wie vor reguläre Busverbindungen in die Ukraine. Juri Andruchowytsch hat eine solche Reise vor zwanzig Jahren in dem Essay "Germaschka" beschrieben. So eine Reise anzutreten, das nehme ich mir vor.
Prag, 10. September 2022, Milena Findeis
Zum Auftakt der Lesungen, Gespräche
Svyatoslav Pomerantsev, 2.9.2022
Ich möchte hier einige Worte über das Hinterland sagen, da wir uns infolge geographischer Lage im Rücken eines Landes befinden, das einen Krieg zu führen gezwungen ist. Kriegstheoretiker betrachten das Hinterland vor allem als eine menschliche und wirtschaftliche Armeeressource. Dichter, die zu uns während des Kriegs gekommen sind, um ihre Gedichte hier vorzutragen, und Poesiefreunde, die bereit sind, während des Krieges den Gedichten zuzuhören, – das ist ebenfalls eine Ressource, obschon von einer anderen Art. Das ist eine Ressource der Lebensstandhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung. Natürlich ist es eine sehr bescheidene Ressource, doch ohne sie wäre es viel schwieriger zu leben. Im Gedicht von Rose Ausländer „Hoffnung“ finden sich solche Zeilen:
Wer könnte atmen
ohne Hoffnung
dass auch in Zukunft
Rosen sich öffnen
Atmen bedeutet Hoffnung zu haben. Wir leben in einem Land, in dem unser Feind tausende von Häusern zusammen mit ihren Einwohnern total ausgelöscht hat. Anstelle der Häuser sind nur Löcher und Lücken geblieben. Poesie kann nicht die Ermordeten auferstehen lassen. Aber solange Gedichte erklingen, wird die Hoffnungsressource nicht versiegen.
Igor Pomerantsev, 2.9.2022:
Der Krieg gibt den halb vergessenen Wörtern, deren Stelle nur in den militärischen Wörterbüchern und alten Gedichten aufscheinen, einen neuen Sinn. Eines dieser Wörter heißt „Frontgebiet“. So nennt man ein Territorium nahe der Front. Aber es gibt auch eine andere Definition dieses Wortes. Alle Menschen, von Charkiw bis New York, die einschlafend an die Ukraine denken und aufwachen, um den neuen Tag mit dem Lesen der Kriegsnachrichte zu beginnen, sind Frontgebietsmenschen.
Gedichte, die hier vortragen werden, klingen wie Texte aus dem Frontgebiet – ob wir es wollen oder nicht. Die ganze klassische Poesie, sogar solche lyrische Zeilen wie Taras Schewtschenkos „Ein Kirschengarten vor dem Haus“ oder „grenzenlose Felder / Und den Dnipr und seine Schnellen“ sind heute Frontgebietspoesie.
Wieso? Weil die Poesie dem Tode gegenübersteht, und der Krieg bedeutet Tod. Ich glaube an den Sieg der Poesie. Sicher, sie besitzt keine Haubitzen, keine geflügelte und flügellose Raketen, keine Bomben, aber sie besitzt hochpräzise Wörter, gegen die sogar die Kanonen machtlos sind.
Wir leben heute in solchen Zeiten – in den Zeiten der Frontgebietsgedichte, der Frontgebietsdichter, der Frontgebietsleser und -zuhörer.
Lesung Milena Findeis: Zersetzendes Jahrtausend
Moderiert und ins Ukrainische übersetzt von Prof. Petro Rychlo, Перекладач Петро Рихло: «У найжорстокіші часи з’являється найніжніша лірична поезія»
Ein aus der Sprache gefallenes Wortsich ausbreitetend wie ein Lauffeuer Kämpfend hallt es wider Diesen Feind definieren Dem inneren Kriegsvirus nachspüren Wo bin ich Opfer? *** ZERsetzendes JAHRtausendMit von Verbrechen Diktatoren oftmals im Duett *** Wort-ARBEITIm Mund das Wort Es summt in den Ohren Mit Hashtags verbreitet ***
ZersplittertInmitten all der Scherben Der Druck von Dort das Eis Eruption Ersteres ausgesprochen *** MückenKlangEingefangen von Dicht am Wasser Auf warmen Kieseln Aus dick verwobenem Über der abgeschürften Haut *** SchwesternDen Balken aus den Augen lösen Vorwürfe in den brennenden Scheiterhaufen versenken Erinnerungen ausatmen: lang und tief Von *** SeelensZug Zug für Zug *** |
Слово що випало з мовищо шириться мовби пожежа у лісі
Знову відчути внутрішній вірус війни Де я жертва? *** ДЕструктивне ТисячоЛІТТЯ
Диктатори часто виступають в дуеті ***
Словесна РОБОТАСмакувати Воно бринить у вухах Поширене у гаштеґах ***
Розбита на скалкипоміж усіх цих уламків Натиск Там – крига *** Комашиний співВ обіймах У воді Із густо тканої ***
СестриВийняти скалку з ока Докори вкинути у палаючу ватру Видихати спогади: довго й глибоко Звільнитися ***
Душевні крокиКрок за кроком *** |
Foto von der Prager Buchmesse 2022 vor dem Stand der Ukraine
GeborgenheitMitten im Gewühl der Prager Buchmesse Bücher, Autorinnen, Menschen, Kinder Es wird gelesen, gespielt, gesungen, gekocht Das sind die stillen Momente, die dem Herz Der “Wiederaufbau des Menschlichen” immer wieder zurückkehren *** |
Захищеність
яка несе картонну коробку книжок *** |
Im Frühjahr 2022 der mit Claus Löser Ich zitiere aus seinem Gedicht “Nicht einfach” Nein einfach ist es nicht
Jede Kunst überdeckt Narben Ich hänge an der Lebendigkeit Milena Findeis, Ins Ukrainische übersetzt von Petro Rychlo |
Навесні 2022 року в нас із Клаусом Льозером Я цитую з його вірша: «Непросто» Мілена Фіндайз, З німецької переклав Петро Рихло
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Mitten im Ukrainekrieg: Ein Lyrikfestival: Das gute Leben nicht vergessen
6. September 2022, Süddeutsche Zeitung
Diskutierten beim "Meridian"-Dichtertreffen in Czernowitz im September 2022: "FRAGILE: Ein Briefwechsel zwischen Jurko Prochasko und Helmut Böttiger, Übersetzung – Juri Silwestrow.
Ein Herantasten, ein Austausch die Begegnungen in Tscherniwzi im Rahmen von Meridian Czernowitz XIII
Foto: von links nach rechts Juri Silwestrow, Jurko Prochasko, Helmut Böttiger
Im Berenberg Verlag erschien im August 2023, Czernowitz, Stadt der Zeitenwenden von Helmut Böttiger. 88 Seiten · Halbleinen · fadengeheftet · 134 × 200 mm, ISBN 978-3-949203-71-8
Seite 55 III. September 2022
"Pomeranzews Kleinbus kann acht Personen aufnehmen und reicht gerade für uns aus, als Gäste seines Festivals. Er hat uns am Flughafen im rumänischen Iași abgeholt. Das liegt immerhin zweihundert Kilometer von Czernowitz entfernt, aber die Flugverbindungen nach Iași sind vom Westen aus am günstigsten. Wir kommen schon gegen 14 Uhr in Iași an. Dennoch sind die Organisatoren wegen der Zeit ein bisschen nervös: Ab 22 Uhr gilt in Czernowitz absolutes Ausgeh- und Fahrverbot. Wir müssen spätestens dann im Hotel sein - das ist eine der Begleiterscheinungen des Krieges.
Dass das Meridian-Treffen in diesem Jahr überhaupt stattfindet, ist schon an sich eine Nachricht. Seit der sowjetischen Invasion am 24. Februar hat sich in der Ukraine alles verändert. Unter diesen Umständen das seit 2010 bestehende Lyriktreffen fortzusetzen geschieht aus Trotz, aus Stolz, aus Selbstbehauptungswillen. Gerade in dieser äußerst bedrohlichen Situation will man auch an ein kulturelles Selbstverständnis erinnern.”
Wie kann man im Krieg über Gedichte reden? Das Festival "Meridian" in Czernowitz zeigt eine Ukraine, die sich ihrer mehrsprachigen Identität versichert.
Von Helmut Böttiger
Dass das "Meridian"-Lyrikfestival in Czernowitz in diesem Jahr stattfand, ist schon selbst eine Nachricht. "Für die ukrainischen Streitkräfte" stand groß auf dem Programmplakat. Alles stand im Zeichen des Krieges. Jurko Prochasko, der bekannte Lemberger Intellektuelle, der an die galizische Tradition der Multikulturalität anknüpft, sagte: "Keinen Augenblick lang verlässt mich das Bewusstsein dieses Krieges und seiner erbarmungslosen Wirklichkeit", und so war es bei allen Beteiligten. Alle Gedanken und Gefühle werden vom Krieg aufgesogen und durchdrungen, man kann sich als ukrainischer Schriftsteller auf nichts anderes mehr konzentrieren, die üblichen Arbeiten - literarische Essays, Übersetzungen, Gedichte - bleiben liegen.
Die meisten haben in der ersten Zeit nach der russischen Invasion nichts mehr geschrieben. Langsam aber wurden die neuen Erfahrungen zum Thema, und das war bei diesem Treffen deutlich zu spüren. Es beginnt etwas kategorial Neues: Irena Karpa sprach von ihrer "Lähmung" und der Erkenntnis, sich jetzt auf den Krieg "einlassen" zu müssen, Kateryna Kalytko nahm die militärische Bedrohung direkt in ihre Metaphern auf, in denen die Panzerketten das Körpergefühl förmlich zu durchdringen scheinen. Dabei war es sehr berührend, dass Iryna Tsilyk bei alldem davon sprach, gerade jetzt die Sehnsucht nach einem "guten Leben" nicht zu vergessen. Ihr Mann Artem Tschech ist im Krieg und hatte gerade zwei Tage Fronturlaub. Als Jurko Prochasko sagte: "Er hat sehr traurige Augen" war das einer der Momente, die man so schnell nicht mehr vergisst.
Auf der dreitägigen Veranstaltung drängten sich die Programmpunkte, und es fiel auf, wie jung das Publikum war. Czernowitz ist eine Universitätsstadt, die alte habsburgische Grenzregion ist bisher vom Krieg verschont geblieben, aber die Literatur sieht sich hineingezogen in die barbarische Aktualität. Sviatoslav Pomeranzew, der Gründer des Festivals, sprach über den militärischen Begriff des "Hinterlands" als einer menschlichen und wirtschaftlichen Ressource für die Armee. Die Poesie aber sei ebenfalls "eine Ressource der Standhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung."
"Mit welchen Katastrophen setzen sich Ihre Helden auseinander?"
Man konnte das in Czernowitz auf vielfältige und zunächst auch irritierende Weise erleben. Der aus den Befreiungsbewegungen stammende Ausruf "Slawa Ukrajini" am Ende der offiziellen Reden ("Ruhm der Ukraine") und die Antwort aus dem Publikum "Slawa Herojam" ("Ruhm den Helden") gehörten dazu, und so militärisch befremdend sich das für westliche Zugereiste ausnehmen mag: Das ist mittlerweile ein Akt der Selbstverständigung, die Versicherung einer neuen ukrainischen Identität. Und diese versteht sich vor allem als ein Gegenentwurf zum russischen Imperialismus. Der "ukrainische Nationalismus", das lernte man hier, ist ein Begriff, der vor allem von der russischen Propaganda lanciert wird und den man äußerst differenziert betrachten sollte.
Es gibt in der Ukraine zwar eindeutig nationalistische Strömungen, aber vorherrschend ist gerade im Kulturbereich etwas Anderes: eine Rückbesinnung auf die Tradition der Mehrsprachigkeit und des Zusammenlebens verschiedener Sprachgemeinschaften in demselben Raum. So wurden zu "Meridian" in den letzten Jahren immer auch bewusst Autoren aus Israel eingeladen, als Anknüpfung an die jüdische Geschichte von Czernowitz, so auch in diesem Jahr. Und es ist, angesichts der antisemitischen Haltungen in der ukrainischen Vergangenheit, nicht zu unterschätzen, wie Czernowitz sich in offiziellen Broschüren selbst darstellt: als eine Stadt, die "immer tolerant und offenherzig zu allen Nationen und Konfessionen" sein wollte. Man sollte das Bestreben der Ukraine, dem russischen Imperialismus inhaltlich etwas entgegenzusetzen, ernstnehmen. Wenn der deutsche Literaturhistoriker von einer Journalistin aus Kiew gefragt wird: "Mit welchen Katastrophen setzen sich Ihre Helden auseinander?" - dann ist das, trotz aller Verwirrung, vor allem als ein Versuch der Annäherung zu begreifen, eines gegenseitigen Verständnisses. Aber natürlich merkt man an solchen Formulierungen auch, welche Hürden dabei zu überwinden sind.
Der Krieg hat etwas ausgelöst, das Putins Intentionen gänzlich widerspricht
Die ukrainische Literatur sieht sich der Anforderung ausgesetzt, sich aus dem Schatten der russischen Sprache und Kultur zu befreien. Diese über Jahrhunderte aufgebauten Strukturen aufzubrechen, das ist das seit dem russischen Überfall alles beherrschende Thema, und jedes Gespräch in Czernowitz berührte zwangsläufig diesen Punkt. Das Ukrainische als Sprache der "Tölpel" und "Bauern", die Ukrainer als "Kleinrussen" - auch bei den großen russischen Schriftstellern wie Tolstoi und Puschkin wird dieser imperialistische Anspruch Russlands ganz selbstverständlich mit transportiert. Die Auseinandersetzung mit der russischen Kultur zu vermitteln, ist für die Ukrainer momentan im Gespräch mit westlichen Autoren das sensibelste Thema: Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Ukraine politisch und kulturell nicht als eine Art russischer Filiale wahrgenommen werden darf. Die ukrainische Sprache hat beispielsweise mehr Berührungspunkte mit dem Slowakischen und Polnischen als mit dem Russischen.
Berichterstattung über Meridian Czernowitz XIII
Claus Löser, Berliner Zeitung, Wochenendausgabe 17., 18. September 2022, Berichte über das Festival 2015, 2020
Helmut Böttiger, Deutschlandfunk Literaturfestival unter besonderen Bedingungen, Czernowitz, 6.9.2022
Jan Snela, Rose der Hoffnung in der Ukraine: Jan Snela über das Lyriktreffen in Czernowitz, SWR 2.9.2022
BILDERBOGEN MERIDIAN CZERNOWITZ 2022
Deutschjüdische Lyrik aus der Bukowina
Lyrikhandlung am Hölderlinturm
©Lyrikbrief Ulrike Geist, Februar 2022
Czernowitz, die Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Bukowina, war vor dem ersten Weltkrieg ein osteuropäisches, jüdisches literarisches Paradies. Durch seine Mehrsprachigkeit und in der Kreuzung verschiedener Kulturtraditionen war das dortige Kulturleben ohnegleichen. Czernowitz war ein Sammelbecken multikultureller deutschsprachiger Literatur und die heimliche Hauptstadt deutschsprachiger Lyrik.
Mit Auflösung der österreichischen Monarchie fiel die östlichste Provinz, das Buchenland Bukowina an das königliche Rumänien. Da die meisten jüdischen Intellektuellen deutschassimiliert waren, bildete sich hier unter dem Mentor Alfred Margul Sperber eine Gruppe deutschjüdischer Literaten, zu der Alfred Kittner, Moses Rosenkranz, Rose Ausländer und auch die nächste Dichtergeneration mit Immanuel Weissglas, Alfred Gong, Paul Celan und Selma-Meerbaum-Eisinger, Ilana Shmueli gehörten.
Zugleich waren die Bukowina und Czernowitz jahrhundertelang Spielball der deutschen Geschichte. 1940 überfielen die Sowjets das Gebiet und deportierten nicht nur Juden, sondern auch nichtjüdische Intellektuelle nach Sibirien. Mit Beginn des 2. Weltkriegs verbündete sich Rumänien mit Hitlerdeutschland, die Bukowina wurde von der Wehrmacht besetzt, 1944 von der Sowjetunion befreit; der nördliche Teil der Bukowina fiel an die Sowjets und gehört seit 1991 zur Ukraine; der südliche Teil blieb den Rumänen. Was mit der Macht totalitärer Regime und dem Beginn des 2. Weltkrieges über die Dichter dieses Landstrichs hereinbrach lässt sich kaum beschreiben, der Exodus des Überlebenden war unvermeidlich.
Paul Celan, der dem Abtransport nach Transnistrien entgangen und in ein Arbeitslager geschickt worden war, hat es sich bis ans Ende seines Lebens nicht verziehen, dass er in der Nacht der Aushebungen nicht bei seinen Eltern geblieben war; die Mutter wurde ermordet, der Vater starb im Lager an Typhus.
Oder Moses Rosenkranz, der während der antisemitischen Verfolgungen durch Verstecke und Arbeitslager überlebt hatte, floh aus der nun zur Sowjetunion gehörenden Nordbukowina nach Bukarest, fiel dort aber der sich neu etablierenden Diktatur zum Opfer: er verbrachte 10 Jahre in den sowjetischen Gulags, erst 1961 konnte er in den Westen entkommen.
Selma Meerbaum-Eisinger
Tragik
Das ist das Schwerste: sich verschenken
Und wissen, dass man überflüssig ist,
sich ganz zu geben und zu denken,
dass man wie Rauch ins Nichts verfliesst.
23. Dezember 1941 (Aus: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt…)
Paul Celan
Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine:des Heiland Kranz aus tausend Körnchen Kummer.Von meinen Tränen hier erreicht dich keine
Von frühern Winken nur ein stolzer stummer…
Wir sterben schon: was schläfst du nicht, Baracke?Auch dieser Wind geht um wie ein Verscheuchter…Sind sie es denn, die frieren in der Schlacke –die Herzen Fahnen und die Arme Leuchter?
Ich blieb derselbe in den Finsternissen:
erlöst das Linde und entblösst das Scharfe?Von meinen Sternen nur wehn noch zerrissendie Saiten einer überlauten Harfe…
Dran hängt zuweilen eine Rosenstunde.Verlöschen. Eine. Immer eine…Was wär es, Mutter: Wachstum oder Wundeversänk auch ich im Schneewehn der Ukraine?
Aus: Blaueule Leid, Bukowina 1940-1944
Rimbaud-Verlag, (nur in der Lyrikhandlung)
Literatur und Lyrik aus dieser Zeit finden Sie bei mir in vielfältiger Form. Einige Bücher möchte ich hier besonders erwähnen, aber am besten kommen Sie selbst in die Buchhandlung, denn alle Titel des Rimbaud Verlages sind nicht über den Online-Shop, sondern nur in der Lyrikhandlung direkt zu erwerben.
Elisabeth Axmann
Fünf Dichter aus der Bukowina
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung)
Paul Celan
Mohn und Gedächtnis
DVA
Paul Celan
Werke
Suhrkamp, Bd 14
historische kritische Ausgabe(nur in der Lyrikhandlung)
Paul Celan
Gedichte
Suhrkamp
Klaus Reichert
Paul Celan
Erinnerungen und Briefe
Suhrkamp
Helmut Böttiger
Celans Zerrissenheit
Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist
Galiani
Rose Ausländer
Und nenne Dich Glück
Gedichte
Fischer
Rose Ausländer
Liebesgedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Rose Ausländer
Der Regenbogen
Gedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Rose Ausländer
Grüne Mutter Bukowina
Gedichte und Prosa
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Selma Meerbaum-Eisinger
Du, weißt du, wie ein Rabe schreit?
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Selma Meerbaum-Eisinger
ich bin in Sehnsucht eingehüllt
Gedichte
Hoffmann und Campe
Marion Tauschwitz
Selma Meerbaum-Eisinger
Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben
Biografie und Gedichte
zuKlampen
Immanuel Weißglas
Der Nobiskrug
Gedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Dusza Czara-Rosenkranz
Gedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
David Goldfeld
Der Brunnen
Gedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Klara Blum
Liebesgedichte
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Illana Shmueli
Leben im Entwurf
Gedichte aus dem Nachlaß
Rimbaud (nur in der Lyrikhandlung erhältlich)
Und wenn Ihnen mein Lyrikbrief gefällt, dann leiten Sie ihn doch weiter an Freunde, Bekannte und Kollegen…Danke dafür!
…et n’oubliez pas de revenir!
Auf ein baldiges Wiedersehen, Ihre Ulrike Geist
Vom 3. bis zum 5. September 2021 veranstaltete das Paul Celan Literaturzentrum in Czernowitz die zwölfte Ausgabe des Internationalen Lyrikfestivals MERIDIAN CZERNOWITZ. Neben Lesungen, Performances und Filmvorführungen standen Diskussions-Veranstaltungen, die sich mit der Ukraine beschäftigen, im Mittelpunkt. Nachstehend sind jene Veranstaltungen angeführt, die in deutscher Sprache stattfanden bzw. übersetzt wurden.
3.9. 12:00-13:00 (OESZ) Lyrik-Lesung: Deutschland
Mitwirkende: Farhad Showghi, Christian Lehnert; Moderation und Übersetzung – Petro Rychlo, Mark Belorusez
3.9. 15:00-16:15 (OESZ): Diskussion: »Die Ukraine in den Augen der Welt. Im Fokus - Literatur«
Claudia Dathe (Deutschland-Online), Serhij Zhadan (Ukraine); Moderation – Igor Pomerantsev
4.9. 12:30-13:30 (OESZ) Lyrik-Lesung: Österreich
Veranstaltungsort: Österreich Bibliothek
Maja Haderlap, Antonio Fian; Moderation und Übersetzung – Petro Rychlo, Mark Belorusets
4.9. 20:15-21:30 (OESZ): Diskussion: »Die Ukraine in den Augen der Welt. Im Fokus – Kunst und Journalismus«
Peter Zalmajew, Kate Tsurkan, Claus Löser; Moderation – Evgenia Lopata
Tino Schlench: "Ich warte lange im Regen vor dem Haupteingang, bevor mich eine Mitarbeiterin des Paul Celan Literaturzentrums abholt. In den nächsten vier Wochen werde ich das Internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz unterstützen." Notizen aus der Ukraine – Aug/Sep 2021
Heimkehr nach Tschernopol
Gregor von Rezorri
Der Beitrag erschien im Diners Club Magazin, Heft 6, Dezember 1990. Mit diesem Heft wurde die Zusammenarbeit von Diners Club Austria mit dem Verlag Orac, Herbert Völker beendet. Text: Gregor von Rezzori (* 13. Mai 1914 in Czernowitz; † 23. April 1998 in Donnini) Fotos Manfred Klimek. Seit 1991 gehört die Stadt Tscherniwzi wieder zur Ukraine.
Ich wurde geboren zu Czernowitz, der ehemaligen Hauptstadt des ehemaligen, zum cisleithanischen Teil der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie gehörigen Herzogtums der Bukowina, ein östlicher Landstrich längs der aus der Tatra auslaufenden Waldkarpaten, der 1775 als Entgelt für die Vermittlung im russisch-türkischen Krieg vom ehemaligen Reich der Ottomanen ans ehemalig kaiserlich-königliche Österreich-Ungarn abgetreten und zunächst dem ehemaligen Königreich Galizien zugeordnet gewesen, nach 1848 jedoch eines der selbständigen ehemaligen Kronländer des Hauses Habsburg geworden war. Bis auf die Stadt, deren Name im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung einige Veränderung erfahren hat – von Cernowitz über Cernăuți zum heutigen Czernowce – ist alles ehemalig, das heißt: nicht gegenwärtig, nicht eigentlich vorhanden, was meinem Geburtsort die Aura des Sagenhaften, also des Irrealen verleiht. Es erweist sich als müßig, dieses mythenhafte Zwielicht historisch aufzuhellen. Daß die ehemalige k. u. k. Monarchie seit 1918 nicht mehr besteht, dürfte sich herumgesprochen haben; gleichwohl tat man im ehemaligen Czernowitz, nun Cernăuți, als glaubte man nicht recht daran. Deutsch war immer noch die allgemeine Umgangssprache, Wien, die nächstliegende Metropole, der man den Rang der Hauptstadt nicht absprechen wollte. Zwar war die Realität so “shakespearescher” Königreiche wie Galizien und Lodomerien fragwürdig geworden; trotzdem sprach man davon, als gäbe es sie immer noch, obwohl sie seit 1940 nicht mehr besteht. Vom Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie bis damals hatte sie dem ehemaligen Königreich Rumänien zugehört, eine Zeitspanne, in welche mein Heranwachsen vom Kind zum Adoleszenten fiel. Das Heranreifen zum Mann vollzog sich anderswo.
Damals von 1919 bis 1940, herrschten die Rumänen mit einer Selbstgewißheit, die sich auf die Behauptung stützte, die Bukowina sei seit den Daciern rumänisches Urland, was angezweifelt werden kann. In Czernowitz, nunmehr auf rumänisch Cernăuți, nahm man sich nicht die Mühe, es in Frage zu stellen. Man sah im rumänischen Zwischenspiel kaum mehr als eine Umkostümierung der ohnehin operettenhaften Staffage. Die Uniformen österreichischer Ulanen waren von denen rumänischer Rosiori abgelöst, bei Infanteristen schaute man sowieso nicht genauer hin, der Unterschied war nicht gewichtiger als im Stadttheater der Szenenwechsel von der “Gräfin Mariza” zum “Zigeunerbaron” und schließlich zum “Bettelstudenten”. Es dauerte kaum mehr als zwei Jahrzehnte, bis der ehemalige schwarzgelbe Anstrich an Mautbalken und Türflügeln von Tabaktrafiken blau-gelb-rot überpinselt und der Doppeladler auf den Giebeln öffentlicher Gebäude durch das Staatswappen des Königreichs Rumänien ersetzt war; dann schon 1940, gilbte dort der Sowjetstern, Cernăuți wurde zu Czernowece, und die Bukowina war ehemalig geworden, es gab sie nominell nicht mehr. Durch einen Staatsvertrag zwischen dem ehemaligen Dritten Reich und Rußland, der sich souverän über die Legende vom rumänischen Dacierland hinwegsetzte, war sie zweigeteilt worden. Das Gebiet südlich des Sereth wurde mit der Moldau der heutigen rumänischen Volksrepublik vereint, der nördliche Teil mit Czernowitz der Sowjetrepublik Ukraine zugesprochen. Damit war das nunmehrige Czernowce auch keine Hauptstadt mehr, denn die Hauptstadt der Ukraine ist Kiew.
Immerhin steht fest, daß ich in Czernowitz, wenn auch im vor-rumänischen, im ehemaligen österreichischen, geboren bin, und auch das dürfte sich herumgesprochen haben. Es steht zu lesen in Kurzbiographien auf den Waschzetteln verschiedener Bücher aus meiner Feder und sogar – wenngleich nicht unbedingt löblich – in einigen Literaturgeschichten der Nachkriegszeit, sowie in Nachschlagewerken, welche die Aufnahme in die Namensliste prominenter Zeitgenossen nicht gerade abhängig machen vom Bezug mehrerer kostspieliger Exemplare, aber den Ankauf so dringlich nahelegen, daß man vermuten muß, sie werde bei Weigerung nicht erfolgen. Vor dieser Bekanntgabe meiner Herkunft, die ich nun leider nicht verleugnen kann, pflegte ich, wenn ich danach gefragt wurde, mit der Antwort zu zögern. Die Gründe dafür waren zweierlei: Erstens, weil die Angabe, aus Czernowitz zu stammen, ein kaum jemals unterdrücktes “Aha!” zur Folge hat. Das beschränkt sich nicht auf den Großraum der ehemaligen k. u. k. Monarchie, in dem der Name Czernowitz einen festen Begriff darstellt: auch in weniger epochenverschleppenden Regionen scheint man Czernowitz zu kennen, als den Schauplatz der meisten galizanischen Judenwitze und die Brutstätte eines Menschenschlags von unverwechselbarer Prägung. Meine Heimatstadt hat Weltruhm erworben als Schmelztiegel eines guten Dutzends von ethnischen Gruppen, Sprachen, Glaubensbekenntnissen, Temperamenten und Lebensgewohnheiten, wo sie zum Amalgam eines quintessentiellen Schlawinertums ausgebrodelt und sublimiert wurden. Wieweit die Zugehörigkeit als Vorzug aufgefaßt werden kann, steht dahin. Ich habe mich mein Leben lang bemüht, das Bestmögliche daraus zu machen. Dem Lyriker Celan, der gesagt hat, es sein ein Ort gewesen, an dem Menschen und Bücher lebten, ist Besseres gelungen.
Der zweite Grund für ein gewisses Zögern, wenn ich zugeben soll, daß ich ein Czernowitzer bin, ist wieder zweifach. Von den siebeneinhalb Jahrzehnten meines Erdendaseins war ich knapp das erste dort. Nach meinem neunten Lebensjahr bin ich nur noch sporadisch hingekommen – ich will gleich sagen: Leider, denn es gab viel zu lernen in Czernowitz. Das letztemal war ich dort mit zweiundzwanzig, 1936, also vor vierundfünfzig Jahren. In einer solchen Zeitspanne verwischt sich die ursprüngliche Prägung. Entscheidend aber hat zur Entfremdung das zunehmend Ehemalige und Irreale meiner Herkunft beigetragen. Es klingt, als hätte ich Czernowitz erfunden – und damit mich selbst.
Nun verhält es sich tatsächlich so, daß ich mein Czernowitz erfunden habe. Sieht man ab von den “Maghrebinischen Geschichten”, die ich nicht hätte schreiben können, wäre ich nicht dort geboren und – wenn auch nur zeitstreckenweise – dort aufgewachsen, so spielt die Stadt eine schicksalhafte Rolle in drei anderen meiner Bücher “Ein Hermelin in Tschernopol”, nebensächlich in den “Denkwürdigkeiten eines Antisemiten” und wieder schicksalsträchtig in einer weitgehend autobiographischen Darstellung der Protagonisten meiner Kindheit mit dem Titel “Blumen im Schnee”. Mit alledem habe natürlich nicht Reiseführer durchs konkrete Czernowitz-Cernăuți-Czernowce schreiben sollen, sondern Schilderungen eines mythenhaften Topos. Besonders im Roman, in dessen Titel ja der Name Tschernopol darauf hinweist, daß es sich um eine literarische Überhöhung handelt, diente mir die Erinnerung an die Stadt meiner Kindheit sozusagen als Knochengerüst für die Modellierung des mythischen Schauplatzes einer mythenhaften Handlung. Denn es ist der Roman einer Kindheit, und in der Kindheit ist alles mythenhaft. Das gilt auch für die Schilderung der Stadt in “Blumen im Schnee”, obwohl der deklariert autobiographische Charakter dieses Buches mich verpflichtet hat, das Tatsächliche – oder jedenfalls das Effektive – so wahrheitsgetreu zu beschreiben, wie ich es in Erinnerung hatte.
Bekanntlich aber ist die Erinnerung nicht unbedingt zuverlässig. Sie wählt willkürlich aus, was sie behalten will, schiebt weg, was ihr nicht behagt, rückt das Emotionelle in den Vordergrund, verklärt und verzerrt. Absichtlich sowohl wie unabsichtlich habe ich so zur Entwirklichung meines Herkunftsorts beigetragen und damit seiner – und wiederum damit meiner – ohnehin legendären Windigkeit auch noch den Nimbus des Unglaubwürdigen verliehen.
Das ficht mich wenig an, soweit es um die ethische Frage der Wahrheitstreue geht. Ich bin ein Schriftsteller und habe als solcher nicht nur das Recht, sondern geradezu die Verpflichtung, die Wirklichkeit bis hart ans Unglaubwürdige zu überhöhen. Wer aber wie ich, um das zu erreichen, beständig das Autobiographische heranholt, es paraphrasiert und variiert, fiktiv und hypothetisch einsetzt, der läuft Gefahr, sich selber auf den Leim zu gehen – das heißt: bald selbst nicht mehr zu wissen, was real und was irreal ist. Das geht übers Moralische hinaus. Es nähert sich bedenklich der Schizophrenie.
Weil ich ein gewissenhafter Mensch bin, habe ich mich auf das Abenteuer eingelassen, mein erfundenes Tschernopol mit dem in Czernowce tatsächlich weiterexistendieren Czernowitz zu konfrontieren. Ein um so kühneres Unternehmen, als ich ja nicht nur mir selbst, sondern auch meiner mythischen Heimatstadt mehr als ein halbes Jahrhundert Zeit gelassen hatte, sich ins Unvorhergesehene zu entwickeln. Natürlich mußte ich voraussetzen, daß das ukrainische Czernowce, vom Mischmasch aus Volksdeutschen, Rumänen, Polen, Russen, Juden, Ungarn, Slowaken und Armeniern reingefegt, nicht mehr das Czernowitz beziehungsweise Cernăuți sein konnte, das ich 1936 zum letztenmal betreten hatte. Desgleichen, daß das hybride Wachstum, das alle Siedlungen in aller Welt zum Auswuchern gebracht hatte, nicht auch Czernowce befallen haben sollte – dieses Chamäleon unter den Städten, das der Heimatdichter Karl Emil Franzos um 1890 als ein “Huzulendorf mit pseudo-byzantinischen, pseudo-gotischen und pseudo-maurischen Bauten”, wenig später als eine “Schwarzwald-Idylle” und schließlich als “Klein-Wien” beschrieben hatte: daß also mancherlei, was ich in Erinnerung behalten hatte, im Trend des pseudo-amerikanischen und pseudo-russischen Zukunftsgestaltungswillens niedergerissen, von Baggern ausgehoben und unter Tonnen von Eisenbeton verschwunden sein mochte. Solcherlei Entwicklung lief nicht dagegen, daß die Hauptstadt der nicht mehr existierenden ehemaligen Bukowina ein Provinznest der Sowjet-Union geworden war, in dem mir vermutlich an allen Winkeln die Verwahrlosung entgegentreten würde. Nichts von alledem war – zunächst – der Fall.
Ich fand mich vor in meinem Czernowitz, dem rumänischen Cernăuți zwischen zwei mörderischen Kriegen, als wäre ich nie weggewesen, ein Rip van Winkle, der sich den Schlaf aus den Augen reibt, ohne – zunächst! – wahrzunehmen daß es ein Schlaf von einem (für mich allerdings nur halben) Jahrhundert gewesen war. Um mich her stand alles an seinem Platz, genau so, wie ich es vor vierundfünfzig Jahren verlassen hatte. Nichts fehlte – auf den ersten Blick. Nur der zweite offenbarte winzige Veränderungen. Anders war, zum Beispiel, daß überall an beiden Straßenseiten Bäume gepflanzt waren. Sie prangten in jungem Grün, und das rückte die Stadt zusammen, machte die Straßen, Gassen und Gäßchen enger, gleichzeitig freundlicher, gewissermaßen kurorthaft. Es war ein Czernowitz, dem ich Abbitte tun mußte für meine skeptische Erwartung. Nichts war schmierig oder lotterig. Die Häuser waren frisch gestrichen, in einem kaiserlich-österreichischen Dottergelb, das abwechselte mit einem kaiserlich-russischen Erbsengrün. Das Pflaster war reingegefegt – dasselbe von Gummireifen der Fiaker blankpolierten Kopfsteinpflaster und dieselben Steinplatten der Gehsteige, über die meine Kinderschuhe hingetrippelt und die glatten Sohlen meiner ersten Tango-Versuche den Schönen auf dem Corso der Herrengasse nachgeglitten waren; und wohltätigerweise waren die Straßen auch heute noch frei von den blechernen Metastasen geparkter Autos. Der spärliche Verkehr rieselte ohne Stau und Stand und Getöse, beinah geräuschlos ab. So fehlten denn auch einige von damals her vertraute Geräusche. Es fehlte das rüde “Hoop!”, mit dem die jüdischen Fiakerkutscher achtlose Passanten vor ihren Gäulen weggescheucht, und es fehlte das schwirrende Gschilpe der Spatzenschwärme, die überall auf die reichlich niederfallenden, feucht dampfenden Roßäpfel gelauert hatten. Die Fiaker waren verschwunden, und es fehlte auch die elektrische Straßenbahn, deren eigenwillig funktionierende Bremsen der Anlaß zu mancher heillosen Verwirrung im Straßenverkehr gewesen waren. Wendige Trolleybusse schlängelten sich entlang der eingeebneten Schienen, in denen dereinst die vergilbt rot-weiß-roten, schmalfenstrigen, wie große Spielzeugschachteln auf den kleinen Eisenrädern schwankenden Wagen nach tapferer Überwindung des Steilhangs zum Pruth-Tal vor dem Rathaus auf dem Ringplatz aufgetaucht waren und starrsinnig bimmelnd und in den Biegungen kreischend die Stadt bis über den Volksgarten hinaus durchquert hatten. Es fehlte das Gezänk der Dohlen in den Akazien vor der Landesregierung und um die Zwiebeltürme der Metropoliten-Kathedrale und das Rattern der Leiterwagen, auf denen die Bauern aus den umliegenden Dörfern zum Markt gekommen waren, ihr Schnapsgeruch und das klirrende Trappeln ihrer schlecht beschlagenen ruppigen Panjepferdchen. Die Akazien waren auf italienische Weise gestutzt, und die Bauernkarren von den Lastkraftwagen der Kolchosen ersetzt, das machte das Stadtbild adretter und gleich auch ein wenig steril.
Ich kam nicht aus dem Staunen. Das war ganz unbzweifelbar, greifbar konkret und wirklich das Cernăuți meiner Kindheit – und war doch wieder nicht das Czernowitz, das ich ein halbes Jahrhundert visionär in mir getragen hatte: die Steppenstadt Tschernopol, der mythische Schauplatz mythenhafter Geschehnisse. Es war das Inbild einer provinziell behäbigen, hellen, sauber gehaltenen und immer noch unverleugbar kakanischen Provinzmetropole, phänotypisch eine ehemalige Landeshauptstadt aus dem östlichsten Bereich der ehemaligen Doppelmonarchie, umflort noch von einem Schimmer deren dereinstiger Glorie. Vernünftig angelegte Straßenzüge präsentierten baukünstlerisch wohlgemeinte, aber anspruchslose Fassaden von Bürgerhäusern aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und dessen Wende ins zwanzigste, und auch stilistische Extravaganzen hielten sich in der Mittelmäßigkeit der Epoche. Die neo-gotischen Türme der katholischen, die pseudo-byzantinischen Kuppeln der orthodoxen, die pseudo-maurischen Zinnen der armenischen Gotteshäuser (einzig der prunkvoll neo-assyrische Tempel der Juden war, wie ich hören sollte, seit der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg zerstört) überragten urban die gleichmäßig hohen Dächer, und gleicherweise gemessen überbot die Neo-Renaissance von staatlichen Verwaltungsgebäuden und die Pseudo-Klassizistik der Garnisonskasernen die Übergänge der Gründerzeit-Architektur zum gezähmten Jugendstil. Alles das war eingebettet ins frische Grün der neubepflanzten Alleebäume.
Das war für mich ein Sturz ins Irreale. Ich durfte meinen Sinnen nicht mehr vertrauen. Die Stadt vor meinen Augen war Stein für Stein dem legendären Czernowitz nachgebaut, so wie ich es in meinem Tschernopol beschrieben hatte. Aber ihr überwältigendes Jetzt-und-Hier war seelenlos. Sie war gewissermaßen aus ihrer Weltzeit herausgenommen. Nicht in der Entwicklung stehen geblieben, sondern sozusagen darüber hinaus zurückdatiert. Dieses gegenwärtige Czernowce war eine Verleugnung des Cernăuți zwischen den beiden Weltkriegen und sogar des altösterreichischen Czernowitz vor dem Ersten. In seinem äußerlich unveränderten Bestand hattes es sich in eine provinziell idylles Belle-Epoque zurückversetzt, ein Gründerzeit-Traum von sich selbst, nur freilich ohne den Geist und das Leben der Epoche. Es war die Theaterdekoration für ein Schauspiel, das nie aufgeführt worden war, ein Widerspruch in sich: ein reingefegtes, gelecktes und gelacktes, keimfreies Tschernopol. Nichts war zu spüren von dessen Dämonie. Unerfindlich, was dem niedlichen Provinzhauptstadt-Modell, als das Czernowce im Jahre 1989 sich darstellte, die Wachheit, die helle Intelligenz, die scharfäugige Beobachtung, die Spottlust, den beißenden Witz von – ja, eben von Czernowitz gegeben haben sollte. Nichts war hier wahrzunehmen von dem quirlig lebendigen, zynisch unverfrorenen und melancholisch skeptischen Geist, der die Kinder dieser Stadt unverwechselbar als Czernowitzer kenntlich und weltweit berühmt gemacht hatte. Und dennoch war’s eine Realität, die ich nicht wegleugnen konnte, und sie war überzeugender als der Mythos, den ich behauptete.
Man hat den Geist von Czernowitz dem nirgendwo anderswo ähnlich anzutreffenden Neben- und Miteinander der Völkerschaften in der Bukowina und dessen gärender Komprimierung in deren Hauptstadt zugeschrieben, der gegenseitigen Befruchtung und Abschleifung, der beständigen Herausforderung dort, der Notwendigkeit, sich anzupassen, rasch aufzufassen, richtig zu reagieren, die vor allem für die Juden eine Lebensbedingung gewesen war. Alles das schien im Jetzt-und-Hier des gegenwärtigen Czernowce hinfällig geworden zu sein. Die ethnische Buntscheckigkeit von ehemals hatte einem durchwegs homogenen Menschenschlag Platz gemacht. Vom unseligen Wechselbalg völkischer Gesinnung, dem fatalen Nationalismus, der doch auch hier, von außen her geschürt, walpurgisnächtliche Urständ gefeiert hatte, waren kaum noch die allegorischen Spuren zu sehen. Verblaßt unter den Wettereinflüssen eines kontrastreichen Klimas, versinnbildlichten an den Fronten des ehemaligen “Deutschen Hauses”, des “Dom Polski” und des ukrainischen “Narodny Dim” die Fresken hehrer Frauengestalten mit entblößten Brüsten und allerlei symbolischen Zubehör wie Schwert, Buch, Leier, Weizengarben, Adlern und erdrosselten Schlangen jugendstilistisch den Geist der jeweiligen Nationalität – jeweils nur eines der Ingredienzien, aus denen der Czernowitz spiritus loci die Grundstimmung einer zynischen Unbekümmertheit um hohe Gesinnungen jeglicher Art zusammengebraut hatte. Ein echter Czernowitzer schaute auch dem Spektakel überschäumender Nationalgefühle mit nicht mehr persönlicher Anteilnahme zu als zu Purim der Maskerade von Gassenbuben.
Aber es war nicht dieser achselzuckende Gleichmut, der zugelassen hatte, daß die Hochburgen chauvinistisch abgebeizter Kleineleutedünkelei so stehen geblieben waren wie man sie vor einem vollen Jahrhundert, in der Blütezeit des völkischen Romantizismus, erbaut und sinnbildträchtig hergerichtet hatte. Neben allen andern, ebenfalls gespensterhaft seelenlos erhaltenen Zeugnissen einer historisch lebhaft bewegten Vergangenheit wirkten sie als einzige vernachlässigt. Ich hatte den Eindruck, sie stünden leer, hinter ihren verschäbigten Fassaden, wie Häuser nach einem rücksichtslos gelöschten Brand, bei dem die Feuerwehr mehr Schaden angerichtet hat als die Flammen. Die Agression, die sie beherbergt hatten, war igendwann einmal zu heftig aufgelodert, und wer sie ausgerottet hatte, war so rigoros verfahren, daß damit auch alle fruchtbare Gegensätzlichkeit, alle Farbigkeit und Spannung des Neben- und Miteinanders von einem Dutzend Nationalitäten vernichtet war.
Ich versuchte, mir eine Szene aus meinem legendären Tschernopol zu rekonstruieren: Aus der “Casa Poporului” tritt ein Jüngling der rumänischen “Junimea” im ärmellosen, bunt bestickten Schafsfelljäckchen, das grobleinene Hemd über den leinenen Hosenröhren straff blau-gelb-rot gegürtet,den Fichtennadelduft der Waldkarpaten in den Locken und im Blick den Stolz des Daciers, den die Kohorten Trajans zwar zu besiegen, nicht aber zu bezwingen vermocht hatten. Zufällig kommt ein farbentragender Bursch der volksdeutschen “Arminia” vorbei, mit steifem Kragen und flotten Stürmer, das Band quer über der Teutonenbrust. Beim Anblick des Rumänen schnaubt er verächtlich durchs Pflaster über seinem frischen Schmiß – womit unmißverständlich bekundet ist, daß er in dem Rumänen einen “prosten Bauern” und potentiellen Widersacher sieht, obwohl sie beide auf der Universität im selben Hörsaal sitzen. Damit ist der Anlaß zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung gegeben. Aber sie werden voneinander abgelenkt durch den Anblick eines chassidischen Rabbiners in schwarzem Kaftan, bleicher Gelehrtenhaut und langen korkzieherhaft geringelten Schläfenlocken unter der Fuchspelzkappe; und unverzüglich sind sie sich einig, daß ihre Angriffslust in ihm ihr eigentliches Ziel gefunden hat. Vorderhand freilich begnügen sie sich mit Spötteleien, obszönen Gesten und nachgerufenen Schmähworten. Vorderhand –: Wir schreiben erst 1930. Das große Signal ist noch nicht gegeben.Es soll bald erfolgen und seine Folgen zeitigen. Heute, im Czernowce von 1990, ist eine Szene jener Art nicht vorstellbar. Sie spukt nur noch in meinem Hirn, nicht mehr in diesen ordentlich gehaltenen Gassen.
Was sich darin vor meinen verwirrt-verwunderten Blicken bewegte, war so durchgehend einheitlich von einem und demselben Schlag, daß gänzlich offensichtlich nichts vorhanden war, was das völkische Eigenwertgefühl hätte provozieren können. Es wanderte zu jeder Tageszeit dahin wie Arbeitervolk, das nach dem Ende der Werkstunden aus Fabriken strömt. Selbst bei gelegentlicher farbiger Ausstaffierung wirkte die Konfektionskleidung im Grundton grau. Auch die Physiognomien waren, wie man so sagt, aus einem Guß: slawisch breitkantig, mit derber Haut und hellem Haar. Es waren Ukrainer – früher nannten wir sie Ruthenen, eine der vielen Minderheiten, wo es gar keine Majorität gab. Im ganzen Bereich der ehemaligen Bukowina hatten sie wenig mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht, in der Stadt Czernowitz zu altösterreichischer Zeit einen viel geringeren Anteil, noch weniger im rumänischen Cernăuți. Jetzt gab es nur noch sie, die Genossen Volksgenossen der Sowjetrepublik Ukraine, die als das ehemalige Klein-Rußland, vermehrt um das ehemalige Galizien und die nördliche Bukowina, mehr als die Hälfte der europäischen Sowjetunion einnimmt.
Sie unterscheiden sich auch nicht von anderen Russen. Die Frauen waren fast ausnahmslos plump, die Männer untersetzt und schwammig. Ein Volk der Kohlesser, nicht darbend, nicht unzufrieden, zur Gottergebenheit veranlagt, ernst und sittsam. Sehr sittsam, offenbar. Weiblichkeit drückte sich ostentativ in kleinbürgerlicher Mütterlichkeit aus, allerdings auch in einer fatalen Vorliebe für feuerrot gefärbtes Haar. Nur sehr junge Mädchen gingen in Hosen, Halbwüchsige zeigten in der Haartracht Ansätze zur Elvis-Presley-Imitation. Aber das war eher modisch als weltanschaulich. Alles in allem war das keine Wohlstandswelt, es hatte nichts vom Wahnsinn der Verschwendung und Vergeudung unserer spätabendländischen Konsumparadiese. Nichts wurde einem hier aufgeschwätzt; nichts ärgerte durch seinen schundigen Überfluß. Diese Bescheidung wirkte wohltätig, gleichviel, ob sie unfreiwillig war. Ich fühlte mich verschont von Kaufzwang und Verbrauchsnötigung, und vielleicht bewirkte das den trügerischen Eindruck, die Menschen dieser Welt bewegten sich mit der Würde von absichtlich Verzichtenden. Ich mußte unwillkürlich denken, Adolf Hitler hätte Wohlgefallen an ihnen gefunden.
Es war auch nicht, wie’s auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte, eine Welt gänzlich ohne Farben. Vom ehemaligen Austriaplatz kam Militärmusik. Das war dereinst der große Marktplatz der Innenstadt gewesen, dorthin waren die ratternden Bauernkarren montags zum Wochenmarkt gestrebt, wo unter einer Wolke vom Knoblauch, frischgegerbtem Schafsfell, scharfem Käse, Machorka-Tabakrauch und Fusel, Bratöl und Kuhfladendunst Handel mit allem Erdenklichen getrieben wurde, von Ochsenhäuten über Kattunkopftücher zu rostigen Vorhängeschlössern, Fuhrmannspeitschen, gestickten Leinenhemden, Mundharmonikas, bündelweise an den Füßen zusammengebundenen Hühnern, Butter auf Huflattichblättern, Eiern in Körben, aus Autoreifen zusammengeschnittenen Opanken, Taschenmessern, Lammfellmützen und unaufzählbar ähnlich vielfältigem Zeug. Unter dem Blau des freien Himmels hatte das die Buntheit eines Tropfbilds von Pollok gehabt, das Durcheinanderschwärmen eines Ameisenhaufens. Dort hatten Juden um abgetragene Kleidungsstücke geschachert, Armenier Leinenballen, Wollestränge und Wagenladungen Kukuruz aufgekauft, Lipowaner ihr schönes Obst angeboten, Flickschuster ihre Dienste an Ort und Stelle. Huzulenweiber war mit Roscher Schwäbinnen in Streit geraten, Betrunkene in Prügeleien, Blinde, Lahme, Aussätzige hatten gebettelt, Zigeuner gefiedelt, die Kümmelblättchenspieler mit verwirrend geschwind hin und her geworfenen zwei schwarzen und einem roten As den stumpfsinnig gaffenden Hinterweltlern die sauer ergatterten Groschen so gründlich abgeknöpft wie die überall emsig arbeitenden Taschendiebe, immer wieder ängstlich nach den Polizisten ausschielend, die sie verhaften oder zu horrendem Bakschisch erpressen konnten. Es war ein Platz des Lebens gewesen, wimmelnd und gärend, Nabel der Kosmopolis, die Czernowitz in wörtlicherem Sinn gewesen war als manche Weltstadt.
Jetzt war der Platz eine auszementierte Aufmarschfläche, weit, leer, peinlich reingefegt. Aber doch nicht gänzlich steingrau. Eine der Schmalseiten, dort, wo der Hang zur Vorstadt Klokuczka abfällt, war von einer riesigen, knallroten Plakatwand eingenommen. Sattes Goldgelb schnitt daraus in streng stilisierter Schablone das Bildnis Lenins und ließ die vier- und fünfstöckigen Häuser an den Längsseiten des Platzes zwergenhaft erscheinen. Einige Dutzend Marschschritte davor saß jetzt an einem langen Tisch eine Handvoll Honoratioren, die Hälfte davon in Uniform. Achselstücke glitzerten reichbestirnt; weibliches Blondhaar wallte filmreif dauergewellt. Wiederum zwei Dutzend Marschschritte davor waren in drei Gruppen Militärkapellen aufmarschiert, jede kommandiert von einem knollenförmigen Major. Jeweils eine nach der anderen produzierte sich in flotten Märschen, heiteren sowohl wie getragenen Musikstücken.
Es handelte sich, wie man mir sagte, um einen Wettbewerb der Garnisonskapellen. Der Regimenter waren viele, sämtliche Waffengattungen waren in Paradeuniform vertreten, auch das gab ein buntes Bild, und jede einzelne der Kapellen tat sich nach der Pflichtübung, die mit der Staatshymne der Sowjetunion endete, mit der Kür einer Sondernummer hervor, vom Radetzkymarsch über das Andreas-Hofer-Lied bis zur Ouvertüre des “Freischütz” – russische Volksmusik mit einem Wort. Das dauerte nun schon den ganzen Vormittag, und weil es dazu noch ein Sonntagsvormittag war, hätte ich meinen sollen, daß das Spektakel eine schaulustige Menge anziehen müßte. Aber nur eine spärliche Anzahl von Vorübergehenden ergötzte sich kurz verweilend daran, selbst als am Ende Bataillone in historischem Kostüm auftraten, Soldaten des kaiserlichen Heeres, das über Napoleon gesiegt hatte, und weniger farbig, dafür unheimlicher in erdferkelhaften Tarnanzügen – die Überwinder der Armeen Hitlers. Beschlossen wurde die Vorführung von tanzenden Trachtengruppen. Aber deren folkloristischer Aufputz kam so offensichtlich aus dem Theaterfundus, daß sie hier, wo noch vor wenigen Jahrzehnten Volkstrachten zum alltäglichen Anblick gehört hatten, niemandem ein sonderliches Interesse abzulocken vermochten.
Auch ich, der Fremde, deutlich als ein solcher an Anzug und Gehabe zu erkennen, erweckte keins. Kein neugieriger Blick streifte mich, kein Zeichen gab mir zu verstehen, daß ich auffällig sein konnte. Es war, als wäre ich durchsichtig oder nicht vorhanden, und das Gefühl, hier zwar zu Hause, aber doch ein halbes Jahrhundert und eine ganze Welt fern zu sein, verstärkte sich zur irrealen Wirklichkeitsdichte des Traumzustands. Ich war da und doch nicht da. Ich träumte bei voller Wachheit – nicht allein diese handgreiflich reale Stadt, sondern mich selbst in ihr. Derart meinem Stand in Raum und Zeit enthoben, machte ich mich auf zum Haus meiner Kindheit. Um es vorwegzunehmen: Von allen Häusern dieser Stadt, an denen kein Stein verrückt zu sein schien, war es als das einzige nicht mehr da.
Das Haus einer Kindheit, die über ein halbes Jahrhundert zurückliegt, ist ohnehin ein luftiges Gebäudes. Es besteht aus Ein- und Ausblicken mehr als aus festen Wänden; aus Teilansichten, Winkeln, Ecken, einzelnen Möbelstücken, Vorder- und Hintergründen – kurz: aus Fragmentarischem, wie im Filmatelier die zusammengestückten Kulissen, für einen Film, der aus der Sicht eines Dreikäsehochs aufgenommen wird. Immerhin wußte – und weiß – ich, daß es ein Stück weit außerhalb des damaligen äußersten Randgebiets der Stadt in einem großen Garten gelegen war, an drei Seiten noch offen zum freien Land. Ich wußte – und weiß – , daß es wie ungezählte neoklassizistische Villen seiner Art eine säulengetragene Vorderfront mit einer schmalen Terrasse und einen tympanonartigen Giebel darüber hatte und an der Rückseite zur Gartentiefe eine glasverkleidete Veranda. Es war zu erreichen gewesen durch eine lange, gartenreiche Straße des Villenviertels, die Gartengasse. Ich fand sie ohne Schwierigkeit. Auch sie war gänzlich – oder jedenfalls zum größten Teil – unverändert. Traumwirklich so, wie ich sie vor vierundfünfzig Jahren verlassen hatte, lief sie durch dieselben zwei Zeilen gutbürgerlicher Einfamilienhäuser, die Karl Emil Franzos zum Vergleich mit Schwarzwaldhäuschen verführt hatten. Einzelne davon grüßten mich vertraut. Andere wieder, an der Straßenseite, die zu meiner Zeit noch halbwegs unbebaut gewesen war, verstörten mich: Ich wußte, daß sie nicht dagewesen waren, konnte es ihnen aber nicht absprechen. Sie wiesen keinerlei stilistisches Merkmal, keinerlei Neuigkeit, geringere Abgewohntheit auf, die sie hätten von ihren Nachbarn unterscheiden können. Nicht historisch Kennzeichnendes war ihnen abzulesen, weder die auch architektonisch nationalbewußte Rumänenherrschaft noch beinah fünfzig Jahre kommunistischer Wohnungsbau-Ideen. Hinter den Fliederbüschen und Königskerzen ihrer Vorgärten und efeuüberklettert bis an die Giebel, Erker, Türmchen ihrer von Franzos besungenen Idyllik sprachen sie der Behauptung hohn, daß sie nicht aus derselben irrealen Weltzeit stammten wie das übrige Czernowce. Ich verlor die Sicherheit, mit der ich meinem Ziel zugestrebt war. Diese Gartengasse war um beinah ein Drittel ihrer dereinstigen Länge länger geworden, eben wie in Träumen ein vertrauter Weg sich endlos hinzieht: und als ich schließlich doch ihr Ende erreichte, stiegen vor mir eng hintereinandergestaffelte Reihen von zehn-, zwölf-, vierzehn- und sechszehnstöckigen Hochhäusern auf und verstellten den Blick, wo er einstmals weit ins freie Land hinausgegangen war.
Ich hätte es erwarten müssen. Es war logisch und konsequent: Mit dem steil abfallenden Hang zum Pruth-Tal, das die Stadt umarmte, war diese die natürliche, die einzige Richtung, in die sie sich hatte entwickeln können – und daß sie sich in vierundfünfzig Jahren entwickelt haben würde, hatte ich ja im voraus angenommen. Sie hatte es ohnehin unter erstaunlicher Schonung des Vorhandenen getan – so konservatorisch, daß es mich in ein Niemandsland der Zeit und einen Zustand zwischen Traum und grellstem Wachsein versetzt hatte. Nicht nur war alles aus meiner Zeit unangetastet geblieben, es war auch noch Vergangenheitsträchtigeres dazugekommen. Daß einzig das Haus meiner Kindheit aussgenommen sein sollte von dieser denkmalschützerischen Pietät, wollte mir nicht einleuchten. In meiner Erinnerung stand fest, daß wir aus den Fenstern de Südostseite die Pappelreihen einer der großen Ausfallstraßen ins Land hinaus, der Siebenbürgenstraße, sehen konnten, weiterhin bis zum luftblauen Horizont: ein Sehnsuchtsweg meiner kindlichen Phantasie. In der Tat, auch jene Straße existierte noch; nur war sie nicht mehr einzusehen. Sie war nicht mehr flankiert von Pappeln, in deren Laub die Vögel ein und ausgeflogen waren, sondern von Wohnblocks und Kaufhäusern, in denen es nur sehr Dürftiges zu kaufen gab. Zwischen ihnen und dem Hochhausgeschwader lag unordentliches, teils unbebautes, teils auf Geratewohl bebautes Gelände, eine Studentensiedlung, ein nun doch rumänisch anmutendes Waisenhaus, eine Blindenanstalt in den Resten ehemaliger Baumbestände, eingestreut darein laubenkoloniale Einfamilienhäuschen. Dort dazwischen, daneben oder dahinter mußte das Haus gelegen sein. Aber es war nicht mehr dort. Es war spurlos verschwunden. Es half nichts, danach zu fragen. So entgegenkommend jedermann auch war, niemand wußte etwas davon, war entweder zu jung, zu spät hierhergesiedelt oder konnte sich nicht so weit zurückentsinnen. Je intensiver ich suchte, um so hoffnungsloser verlor ich mich im Unbekannten. Nach zwei Tagen ergebnisloser Suche war das Haus meiner Kindheit ein Gespenst, das allein in meinem Schädel spukte.
Um zu überprüfen, ob ich nicht das Opfer schizophrener Einbildungen sei, setzte ich noch einmal mit der Suche – nun nach mir selber – an, diesmal im Stadtkern. Meine Mutter hatte dort, nach der Trennung von meinem Vater, durch zwei Jahrzehnte ein Haus bewohnt, das gleichfalls in einem großen Garten gelegen war, einzig in seiner Art als Überbleibsel der kleinstädtischen, noch recht ländlichen Vergangenheit von Czernowitz. Es war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erbaut worden und verschont geblieben von der stürmischen Entwicklung der Stadt in den Gründerjahren. Dieses Haus war noch vorhanden. Es stand immer noch in seiner Lücke zwischen links und rechts und gegenüber liegenden respektablen Mietshäusern, und leider lag, was dereinst Garten gewesen war, unter einer Decke von Zement. Überdies schien mir das Haus unglaubwürdig gegen die Straße gerückt zu sein. Anstelle seines Schindeldachs war’s mit rostigem Blech bedeckt, und seine ehemals von Jasmin umwachsenen Wände waren nackt und kaffeebraun gestrichen. Auch fehlte die Veranda, die ich freundlich in Erinnerung behalten hatte. Aber das allein war’s nicht, was mich verstörte. Auch hier war einiges darum her gewachsen, was meinerzeit nicht dagewesen war, allerlei kleinstädtische und augenfällig von kleinen Leuten gemütlich bewohnte Häuschen, auch eine inzwischen verfallene Fabrikhalle in gelbem Klinkerziegel und eine Flucht von Wohnhöhlen bis in den tiefsten Hintergrund des ehemaligen Gartens. Und nichts, aber auch gar nichts wies darauf hin, daß das alles nicht schon immer darum her gestanden war. Es war von gleicher Bauart, schien aus derselben kleinstädtischen Vorzeit der Stadt zu stammen, war gleicherweise schäbig abgewohnt.
Ich glaubte, mein letztes Restchen Verstand zu verlieren. Wenn schon seit meiner Zeit hier etwas gebaut worden war, dann doch nicht diese Periökensiedlung. Schon in der Zwanzigerjahren war das Grundstück, wenige hundert Schritte vom Ringplatz gelegen, ein schieres Lustobjekt für Bauvorhaben gewesen, denen meine Mutter heroisch widerstanden hatte.
Seit der Aussiedlung meiner Mutter, 1940, war es herrenlos. Hier hätte ein imposanter Wohnblock hingestellt werden können. Was hatte das verhindert? Doch nicht denkmalschützerische Pietät für diese Krattlerhütten hier, die das Stadtbild verschandelten. Ich konnte schwöre, daß sie 1936 noch nicht dagestanden waren. Aber allen Augenschein sprach gegen meinen Eid. Auch hier vermochte ich nichts anderen, als etwas Unglaubwürdiges zu behaupten.
Zu meiner Rettung kam ein Engel in Gestalt einer der Bewohnerinnen. Nein, nein, sie waren tatsächlich nicht dagewesen, diese Nebenhäuser, nur das ganz alte in der Mitte stammte von früher, alles andere darum her war in den Fünfzigern dazugekommen, eine ärmliche Zeit, in der man nicht an große Bauten denken konnte. Nein, auch die abscheuliche Fabrikanlage war erst damals Hals über Kopf errichtet worden, und ja, gewiß war einmal auch eine Veranda am Haus gewesen, und dort, wo jetzt die Reihenwohnungen lagen, waren die ehemaligen Stallungen gelegen, die Böden ware dort immer noch feucht. Jawohl, da drüben waren große Kirschbäume gestanden – und ob ich nichts ins Haus kommen wollte, um zu sehen, daß die Räumlichkeiten die gleichen geblieben waren, es wohnten jetzt allerdings drei Familien darin.
Stein, der mir vom Herzen fiel, sank schwer in mein Gemüt. Es war also doch nicht alles schiere Phantasmagorie, die pure Einbildung, was ich von meiner Frühzeit in Erinnerung behalten hatte – das zu wissen tat wohl. Allerdings zahlte ich meinen Preis dafür. Niemals wieder würde ich ans Haus meiner Mutter denken können, ohne daß sich nicht darüber die häßliche Realität seines gegenwärtigen Zustands schob. Das eigentliche Haus meiner Kindheit war davon verschont geblieben, dafür aber nun gänzlich irreal geworden, umwittert von einer Sagenhaftigkeit, die mich fürchten ließ, ich selbst könnte niemals mehr recht an seine Wirklichkeit glauben. Wohlan! Im Bereich der Unglaubwürdigen, im Fabelreich phantastischer Einbilderungen war mein Tschernopol gelegen, das irreale Bild der Realität von Czernowitz. Die Realität, die ich in Czernowcze angetroffen hatte, drohte mir auch die zu zerstören. Ich mußte sie schleunigst wieder verlassen. Man soll die Suche nach der verlorenen Zeit nicht im Geist des nostalgischen Tourismus unternehmen.
Grüße aus der Bukowina - Erinnerungen an eine Welt von Gestern
ZDF Dokumentation, 1995, Videoabschnitt: ab 7,22 ein Interview mit Gregor von Rezorri
" Der deutsch-jüdische Topos von „Bukowina/Czernowitz“ umfasst neben dem Naturreichtum einen markanten urbanen Aspekt, die Stadt wird dabei als zivilisatorisches Modell, als "gesegneter Bereich des deutschen Geistes" begrüßt. Demgegenüber tut sich die Topographie der analysierten Autobiographie weniger in ihrer urbanen Ausprägung auf, vielmehr durch den Prisma des Kindes im Profil einer erinnerungshaft verschleierten, grandiosen Provinz, als eine verklärte Naturlandschaft, als Heimatsort mit mythischen Kenndaten." Brigitta Finta: Mitteleuropäische erinnerte, erzählte und imaginäre Topographien. Geschichts- und Identitätskonstruktionen des Grenzgängers Gregor von Rezzori, November 2012
Kunstalbum Czernowitz
Der 362 Seiten umfassende Bildband wurde von Sergij Osatschuk und Tetyana Dugaeva, unterstützt von der Österreichischen Nationalbibliothek und dem Land Kärnten, 2017 in ukrainischer und deutscher Sprache herausgegeben. ISBN 978-617-614-185-3. Nachfolgend aus diesem Buch das Vorwort von Raimund Lang.
Das Gemälde ist nichts als eine Brücke, welche den Geist des Malers mit dem des Betrachters verbindet. Eugen Delacroix (1798–1863)
Kunst ist immer subjektiv. Sie geschieht, wie uns die Theoretiker lehren, im Kopf. Das Produkt des Künstlers, üblicherweise „Kunstwerk“ genannt, ist also nur ein Medium zwischen Schöpfer und Betrachter und „Kunstbetrachtung“ folglich die persönliche Auseinandersetzung mit einer fremden Sichtweise. Die Frage der künstlerischen Qualität muß deshalb zwangsläufig zu oft ganz gegensätzlichen Antworten führen, je nachdem welches Maß an Zustimmung, Betroffenheit, Ratlosigkeit oder Ablehnung das Artefakt auszulösen vermag. Das gilt zwar für alle Künste, doch für die optische Wahrnehmung ganz besonders, da sie uns viel unmittelbarer und konkreter begegnet als die akustische, die Musik. Die kunstphilosophische Behauptung von der Kunstgenese im Kopf bedarf somit der Ergänzung, daß sie auch vom Gefühl bestimmt wird, also im Herzen entsteht. Dem obigen Zitat des französischen Spätromantikers Eugen Delacroix von der geistigen Brückenfunktion des Bildes sei deshalb ein Diktum seines älteren Landsmannes, des Literaten Denis Diderot (1713–1784), beigefügt, der die Malerei zu einer Kunst erklärte, welche die Seele durch Vermittlung der Augen zu bewegen vermag.
Czernowitz, die „vielzüngige“ (J. V. v. Scheffel) Perle am Pruth, wird nicht ohne Grund als hochrangige sprachliche Produktionsstätte gerühmt. Aber der idiomatisch begrenzten Ausdrucksform der Sprache steht auch hier die universelle des Bildes gegenüber, der Kunst des Wortes die Suggestion des Blicks. Erstaunlicherweise liegt dieser Blick bislang im Schatten. Denn während der Czernowitzer Literatur ganze Konvolute von Anthologien und Interpretationen gewidmet sind, ist eine umfassende Darstellung der regionalen Malerei und Graphik bislang unterblieben. Somit betritt dieses Buch Neuland auf dem alten Boden – auch wenn dieses Bild vordergründig pardox klingen mag. Es widmet sich dem Vertrauten, indem es Blicke sammelt, die in solcher Vielfalt noch nie auf so kleinem Raum gebündelt waren. Zwar liegt über Czernowitz ein hervorragender Fotoband aus dem Jahre 2007 vor, doch ist dieser eine Sammlung zufälliger und kalkulierter mechanischer Momentaufnahmen. Das vorliegende Buch aber ist eine Summe Epochen überspannender Sinneseindrücke, allesamt entstanden aus der empfindenden und erwägenden Seele eines Künstlers und durch seine gestaltende Hand.
Czernowitz genießt den Ruf der Besonderheit. Und es ist viel geschrieben worden, um deren Wesen auf die Spur zu kommen. Es ist keine Weltstadt, weder Bühne der Schönen noch Treffpunkt der Mächtigen. Seit sie sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts vom Lehmhüttendorf zur Landeshauptstadt emporgeschwungen hat, blieb ihre Pracht maßvoll, ihre Bedeutung provinziell. Was Czernowitz auszeichnet, ist seine unaufdringliche, schlichte, an manchen Stellen geradezu zweckmäßige Schönheit. Das Bild der Stadt überzeugt mehr durch seine Geschlossenheit als durch punktuelle Brillanz. Sogar das nach Anlage und Wirkung herausragende Bauwerk, die zum Weltkulturerbe erklärte Residenz, fügt sich eher zurückhaltend in das Gesamtbild ein, rundet es ab, ohne es zu beherrschen. Um das Besondere dieser Stadt zu begreifen, muß man um ihre Genese wissen. An einer europäischen Schnittstelle gelegen, wurde sie durch die Jahrhunderte zu einem ein Ort der Völkerbegegnung. Es ist wohl mehr ein gnädiger Zufall der Geschichte, als das Ergebnis planvoller Siedlungspolitik, daß hier langfristig nicht Völkerstreit dominierte, sondern Vielfalt auf engem Raum entstand, die zur Einheit wurde. Von dem runden Dutzend der hier zusammenlebenden Nationen war keine groß und stark genug, um sich über andere zu erheben. Die pragmatische Konsequenz daraus war das friedliche Nebeneinander, das vielfach auch ein Miteinander war und eine Atmosphäre entstehen ließ, die gleichermaßen duldsam wie fruchtbar war.
Deshalb werde ich nicht müde werden zu betonen, daß Czernowitz eben keine deutsche Stadt war, auch keine jüdische und keine rumänische, weder ruthenische noch polnische. Sie hatte von allem, und das machte sie besonders. Historisch wäre am ehesten der Sammelbegriff „österreichisch“ anzuwenden, denn er subsumiert diese Vielfalt. Czernowitz, das war das vorübergehend erfolgreiche Praktikum einer letztlich gescheiterten Idee, nämlich jener vom völkerreichen Donaustaat. Und sie war als binneneuropäische Konzeption wesentlich weiter gediehen, als die fragilen Konstrukte unserer europapolitischen Gegenwart.
Derlei Gedanken dürfen uns beschäftigen, wenn wir mit wachem Auge durch Czernowitz promenieren, durch die Menge der Tafeln und Denkmäler aus verschiedenen Perioden und zwischen den oft unkommentierten Jahreszahlen, die Anstoß für Assoziationen geben. Bei alledem ist aber entscheidend, diese Stadt als etwas organisch Gewachsenes zu verstehen und nicht allein als Relikt überwundener Herrschaftsstrukturen. Eines fügte sich zum anderen und gehört folglich dazu, ob Bild oder Text, ob Zweck oder Schmuck. Die Stadt ist vornehmlich ein Ort zum Leben und dient erst in zweiter Linie der Repräsentation. Und wie die Menschen, die sie durch all die Zeitläufe haben wachsen lassen, trägt sie Schrammen und Schminke, zeigt sie sich strahlend und düster, vereint sie Noblesse und Tristesse. Denn der Puls der Stadt schlägt nicht nur auf dem Ringplatz und in der Herrengasse, sondern ebenso in den Gemüsegärten und Kastanienalleen, zwischen Marktbuden und Balkonen, in den beschatteten Parks und den verrotteten Hinterhöfen.
Es ist das Charisma des Künstlers, all das spürbar werden oder zumindest ahnen zu lassen. Sein Blick geht über das Erkennbare hinaus, er berichtet von Erlebtem und Erfühltem, die dem Sichtbaren eine ganz persönliche Gestalt verleihen. Wenn zwei dasselbe Objekt betrachten, so können zwei gänzlich unterschiedliche Bilder entstehen – das ist der Reiz der Kunst, und das ist auch ihr Geheimnis.
Vielgestaltig wie die Stadt ist folglich auch dieses Buch. Es ist stadtgeschichtlich genauso interessant wie stilgeschichtlich, ist kalligraphisch wie topographisch und biographisch. Ich habe unter all den Bildern meine Favoriten gefunden, aber auch manche, die mich eher verstören. Das bedarf keiner näheren Darlegung, denn jeder wird als Betrachter des Betrachteten eigene Empfindungen hervorbringen und damit neuerlich zum produktiven Interpreten.
Mehr als hundert Maler und Zeichner haben zu dieser grandiosen Sammlung beigetragen. Es ist unmöglich, sie alle zu nennen und zu werten – man muß ganz einfach nur schauen und schauen ... Wer Czernowitz kennt und liebt (und das liegt meist nahe beieinander), wird von dieser überraschenden Fülle gefesselt sein. Noch nie hat man diese Stadt so intensiv, weil so „vieläugig“ betrachten können. Das Blättern durch diese Seiten ist wie ein Spaziergang durch ein Wunderland, das auf denselben Wegen immer wieder neue Blicke auftut. Reale Existenz und persönliche Anschauung sind zwei gegenüberliegende Ufer, und dieses Buch ist ein Brückenkopf zwischen Gestalt und Wahrnehmung.
Raimund Lang
Der 1950 in Czernowitz geborene Künstler Oleg Lubkiwskij ist mit vier Aqarellen im Kunstalbum abgebildet. Im Oktober 2013 hatte ich im Rahmen der Bruno Schulz Tage eine Ausstellung von Oleg Lubkiwskij in Czernowitz besucht. Im Mai 2023 hatte er im KunstRaumRhein in Dornach über Vermittlung von Judith Schifferle die Ausstellung SPIEGELUNGEN - KONZEPTUELLE UTOPIEN mit 27 Werken. Anfang Juni 2023 erhielt ich den Ausstellungskatalog vom Künstler direkt aus Czernowitz - mit Widmung - nach Prag gesandt. Oleg Liubkiwsky ist in seiner ukrainischischen Heimat ein mehrfach ausgezeichneter Künstler, gestaltet Fresken und Denkmäler. Für das Buch In-Ex-Terieur Czernowitz hat er den Umschlag gestaltet. Sein Schaffen beschreibt er als "künstlerische Widerspiegelungen einer Wirklichkeit, wie sie in meiner Vorstellung, meinen Ideen, meiner sinnlichen Erfahrungswelt und der Fantasie lebt".
Der 1950 in Czernowitz geborene Künstler Bronislav Tutelman ist mit sieben Bildern in dem Kunstalbum vertreten. Ich traf Bronislav Tutelman im November 2013: Er sprach Jiddisch mit ukrainischem Einschlag, ich ein Gemisch aus Österreich-Tschechisch. "Meine Religion ist die Kunst", erzählte er mir. Er hat mich in seine Wohnung eingeladen, wo u.a. das Foto links entstand.
Das Kunstalbum wurde im November 2018 gemeinsam mit dem Essay-Band "Erinnerungen eines Ertrunkenen" von Igor Pomerantsev im Musil Literaturmuseum Klagenfurt am 18. November 2019 vorgestellt.
Milena Findeis
КУДА СМОТРЕЛ КАФКА. Черновицкие истории. Раз, лет сто с небольшим назад) произошла удивительная перекличка между...Gepostet von Sergei Vorontsov am Sonntag, 30. August 2020
DOROTHY SINGER
Jänner 2024: Mit Ende Oktober 2023 hat der Book Shop Singer am Rabensteig geschlossen. Sie erreichen mich weiterhin per mail:
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. oder besuchen meinen online-shop: singer-bookshop.com. Bücher und Judaica-Artikel erhalten Sie ab sofort wieder im Shop des Jüdischen Museums in der Dorotheergasse 11; dort können Sie auch wie gewohnt alles Mögliche bestellen und abholen. Ich danke für Ihr Vertrauen Dorothy E. Singer
Jahrelang begannen meine Wien Besuche in der Bräunergasse mit einem Besuch in der Buchhandlung des Jüdischen Museums bei Dorothy Singer in der Dorotheergasse, danach Einkehr im Bräunerhof. 2017 wurde der Vertrag mit Frau Singer nicht verlängert, sie musste sich eine neue Bleibe für ihre Buchhandlung suchen und fand diese am Rabensteig 3, Wien erster Bezirk - Innenstadt. Im Mai 2019 trete ich ein, Frau Singer ist anwesend, telefoniert. Sie erzählt von der Gewerbeordnung der Stadt Wien, den Schließungszeiten, die für einen Kaffeehausbetrieb anders sind als jene für eine Buchhandlung und wieder anders für eine Galerie oder einem Servicebetrieb für den Tourismus.
Drei Bilder von Eva Beresin ziehen mich in den Bann. Alle drei Bilder eine Reminiszenz an Stefan Zweig, wobei mich das links abgelichtete Bild auf andere Gedankenwege brachte und auch bei anderen Besucherinnen und Besucher irrten die Gedanken in eine andere Richtung, wie Frau Singer bestätigt.
Telefonisch eine Anfrage, ob die Räumlichkeiten zu mieten sind. Ja die Räumlichkeiten können für Lesungen, Konzerte gebucht werden. Es gibt Informationsmaterial über das Jüdische Wien, geführte Touren, Veranstaltungen. Frau Singer hofft, dass die neue Adresse den Interessenten so geläufig wird wie die ehemalige. In mir haftet schon inwendig die "am Rabensteig", auch deshalb weil ich Raben mag und ich lieber im Gegenwärtigen verweile als im Vergangenen.
Ich schaue mich bei den Büchern um, wende mich dem letzten Buch zu, das in deutscher Sprache von Aharon Appelfeld erschienen ist "Meine Eltern" — mit Appelfeld und Czernowitz fühle ich mich verbunden. In Czernowitz findet im September 2019 zum zehnten Mal das Lyrikfestifal Meridian Czernowitz statt.
In Frau Singers Buchhandlung, Café, Galerie entfaltet sich der Blick nach vorne. Der integrierte "Info Point Jewish Vienna" bietet Informationen über das jüdische Wien und aktuelle Veranstaltungen. Die Balance zwischen gestern und morgen schafft das Gegenwärtige, darin verweile ich vertieft in einem Buch bei einer Schale Kaffee und das laute touristisch-geschäftige Wien-Getriebe bleibt draußen.
10. Mai 2019, Milena Findeis
Singers Book-Shop ist zurück
Dorothy Singer hat wieder, diesmal beim Stadttempel, eine jüdische Buchhandlung eröffnet. Die soll auch als Café und Infopoint fungieren. Die Presse, Doris Kraus 10.12.2018
Aus dem Jüdischen Museum Wien musste Dorothy Singer ausziehen. Am Rabensteig (Ecke Seitenstettengasse) im ersten Wiener Bezirk hat die Buchhändlerin jetzt den Book Shop Singer (inklusive Café) eröffnet. Bis 1938 gab es hier bereits eine jüdische Buchhandlung. Video: Christa Zöchling, Philip Dulle - profil 21.12.2018
PS: Der Grund warum ich "Singer" mit Czernowitz verortne?
... das Café Singer in der Herrengasse.
Milena Findeis
Peter Rychlo
Entwurzeltes Wort
Mnemosyne Heft 19 (September 1995), CZERNOWITZ, Gesellschaft für Erinnerung, Klagenfurt herausgegeben von Armin A. Wallas, Andrea M. Lauritsch
Versunkene Dichtung der Bukwina. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik. Herausgegeben von AMY COLIN und ALFRED KITTNER. München: Wilhelm Fink Verlag 1994, 422 Seiten.
Bereits der Titel dieses von der amerikanischen Germanistin Amy Colin und dem verstorbenen Bukowiner Dichter Alfred Kittner herausgebrachten umfangreichen Bandes weist auf zwei grundlegende Umstände hin, die dieses einzigartige historische und literarische Phänomen charakterisieren: erstens, dass diese lyrische Produktion deutschsprachig war, und zweitens, dass sie seit einer gewissen Zeit als versunken gilt. Beide Determinanten haben letzten Endes einen gemeinsamen Nenner und hängen damit zusammen, dass die Bukowina von 1774 bis 1918 zur Donaumonarchie gehörte, und ihre Literatur als Bestandteil des österreichischen Literaturprozesses betrachtet werden kann. Mit dem Ende des Kaiserreiches - unter dem Doppeladler - sollte aber auch das Bukowiner deutschsprachige Schrifttum versiegen. Das letztere widerstrebt der genauen geschichtlichen Datierung, da die Blüte der deutschsprachigen Dichtung der Bukowina paradoxerweise in die Jahre nach 1918 fällt, als sie schon unter rumänischer Verwaltung stand. Seit 1945 war dieses Land "der Geschichtslosigkeit anheimgefallen" (Paul Celan), da es im "realen Sozialismus" — egal ob sowjetischer oder rumänischer Prägung — als vernachlässigtes Grenzgebiet jahrzehntelang eine elende Existenz fristen musste. Auch heute bleibt es gespalten: der Norden der Bukowina ist ukrainisch, der Süden rumänisch.
Vor diesem Hintergrund ist die Bukowina — wie sie sich in den Nachkriegsjahren im westlichen Bewusstsein etablierte — kaum ein geographischer, eher schon ein politisch-historischer (als "retrospektives Modell des Vielvölkerlandes mit friedlicher Koexistenz", als "Chiffre für ein vereintes Europa"), religiöser (Czernowitz als "Hochburg des Chassidismus", als "Vatikan des Ostens", als "Jerusalem am Pruth"), vor allem aber ein literarischer Begriff, gekennzeichnet durch Namen wie Karl Emil Franzos, Rose Ausländer, Paul Celan, Gregor von Rezzori und vieler anderer im binnendeutschen Raum wenig bekannter Autoren. Bernd Kolf hat in seinem Essay in Akzente (1982) eine treffende Formel für das Charakteristikum dieses Landstriches gefunden: "Bukowina als geistige Lebensform" (S.337). Das bezog sich insbesondere auf Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina. Wie sich diese "Lebensform" in Wirklichkeit realisierte, erfährt man aus Rose Ausländers Erinnerungen an eine Stadt: "Man las viel, nicht nur Zeitungen, Zeitschriften, Sekundärliteratur und Unterhaltungslektüre, sondern gute, beste Literatur. Man diskutierte mit Feuereifer, musizierte und sang. Das Stadttheater war immer gut besucht, bei Gastspielen ausverkauft. Ein beträchtlicher Teil der Jugend, geistig aufgeschlossen, war von unersättlicher Wissbegier. Das zentrale Interesse vieler Intellektuellen galt nicht dem ehrgeizigen Planen einer einträglichen Karriere, nicht einem technisch höheren Lebensstand, es ging ihnen vielmehr um erkenntnisreiche Einsichten, sei es auf Wegen der Wissenschaft, Philosophie, Politik oder durch das Erlebnis von Mystik, Kunst, Dichtung und Musik [...]. Czernowitz war eine Stadt von Schwärmern und Anhängern. Es ging ihnen, mit Schopenhauers Worten, 'um das Interesse des Denkens, nicht um das Denken des Interesses' [...]. Hier gab es: Schopenhauerianer, Nietzscheanbeter, Spinozisten, Kantianer, Marxisten, Freudianer. Man schwärmte für Hölderlin, Rilke, Stefan George, Trakl, Else Lasker-Schüler, Thomas Mann, Hesse, Gottfried Benn, Bertolt Brecht [...]. In dieser Atmosphäre war ein geistig interessierter Mensch geradezu >gezwungen<, sich mit philosophischen, politischen, literarischen und Kunstproblemen auseinanderzusetzen oder sich auf einem dieser Gebiete selbst zu betätigen". (ROSE AUSLÄNDER: Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. von H. Braun. Frankfurt am Main 1991, S. 8-10)
Mißt man also die erschienene Anthologie an solch einem Maßstab, so erwartete man von ihr eine geistige Raffinesse und einen ästhetischen Genuß von höchster künstlerischer Prägnanz. Befriedigt sie nun diese Erwartungen? Die Idee einer beliebigen Anthologie besteht darin, charakterische Beispiele einer literarischen Entwicklungsperiode oder einer bestimmten geographischen Region, typische Exempel von nationalen oder sprachlichen Eigenschaften, Formen, poetischen Gattungen usw. zu sammeln, was auch der Etymologie dieser griechischen Bezeichnung entspricht (Anthologie: Blumen-, Blütenlese). Wenn aber in den meisten Fällen eine Anthologie vorwiegend die Schnittfunktion erfüllt, d.h. eine Vorstellung von den Meisterleistungen auf einem bestimmten Gebiet der literarischen Szene wiedergibt, so bekommt eine Anthologie der relativ leicht übersehbaren Dichtung der Bukowina noch eine zusätzliche Funktion, die hier beinahe die wichtigste ist: sie soll diese Lyrik für die Nachkommenden aufbewahren, sie dem Vergessen entreißen. Angesichts des Zustandes, dass diese Dichtung für ihre Entfaltung nur über wenige Möglichkeiten verfügte, da sie weder ein entwickeltes Verlagswesen noch eine breitere Leserschaft hatte, bleibt das anthologische Prinzip beinahe >ontologisch< — als einzige Chance, dass die in Manuskripten oder in verschiedenen Tageszeitungen verstreuten Gedichte ihre Schöpfungszeit überleben. Das erklärt auch den ständigen Hang der Bukowiner Dichtung zur Anthologisierung, und so ist auch die vorliegende Sammlung bei weitem nicht der einzige Versuch solcher Art.
>Habent sua fata libelli< — pflegten die alten Römer zu sagen, und das trifft auf das rezensierte Buch ganz und gar zu. Schon 1864 erschien in Czernowitz die erste Kostprobe deutscher Lyrik unter dem Titel Buchenblätter: Dichtungen aus der Bukowina, herausgegeben von Wilhelm Capilleri, einem Schauspieler und Dichter aus Salzburg, der einige Jahre in der Bukowina wirkte. Sie enthielt 118 Gedichte von 15 Dichtern. Ihr schlossen sich dann weitere Folgen von Buchenblättern an, gedacht als Jahrbücher für deutsche Literaturbestrebungen in der Bukowina (1870, 1871, 1932), deren Inspiratoren Karl Emil Franzos, Johann Georg Obrist, Alfred Klug und Franz Lang waren. Zwar trugen diese Ausgaben den Stempel eines unüberbrückbaren Provinzialismus und konnten nur mit einem lokalen Erfolg rechnen. Der binnendeutsche Leser konnte von dieser Landschaft erst nach dem Erscheinen des von Erich Singer im Leipziger Xenien Verlag herausgebrachten schmalen Bändchens Bukowiner Musenalmanach (1913) ein wenig Notiz nehmen, obwohl seine Bedeutung als Anthologie ziemlich gering war, da es nur fünf Autoren enthielt.
Profundere anthologische Projekte entstanden erst in der Zwischenkriegszeit seit der Mitte der dreißiger Jahre und können als Vorstufen zu dem vorliegenden Band betrachtet werden. Gemeint sind die Bemühungen des unermüdlichen geistigen Anregers und Förderers des Bukowiner Schrifttums Alfred Margul-Sperber und seines Freundes Alfred Kittner. Ihnen ist die Idee einer großangelegten Anthologie deutschsprachiger jüdischer Dichtung aus der Bukowina zu verdanken, die den Titel Die Buche tragen sollte. Der Versuch, solch eine Anthologie 1937/38 im Schocken Verlag Berlin herauszugeben, scheiterte, da in Deutschland die Nationalsozialisten an der Macht waren. Die Herausgeber versuchten es weiter, es entstanden noch zwei weitere Fassungen der Buche-Gedichtsammlung, die letzte offensichtlich bereits in Bukarest nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Buch erblickte aber nicht das Licht der Welt, trotz der beispiellosen Beharrlichkeit beider Enthusiasten. — Hingegen erschien 1939 im Stuttgarter Eugen Wahl Verlag das von Alfred Klug herausgegebene >völkische< Bukowiner Deutsche Dichterbuch, in dem bereits kein jüdischer Autor vertreten war, obwohl der Band etwa 300 Seiten zählte.
Alfred Margul-Sperber war es nicht mehr beschieden, seine Idee auszuführen. Alfred Kittner, der nach dem Tode Sperbers die wichtigste Integrationsfigur der Bukowiner Dichtung blieb, veröffentlichte 1971 in der deutschsprachigen Bukarester Zeitschrift Neue Literatur (Nr. 11/12) eine größere Auswahl der Bukowiner Lyrik unter dem Titel Verhallter Stimmen Chor. Gedichte aus der Bukowina, worin er 37 Dichter aufnahm (die meisten sind nur mit einem oder zwei Gedichten vertreten). Mit dem großen Anthologieprojekt musste er auf günstigere Zeiten warten. Inzwischen erschien 1991 in der Reihe "Insel-Bücherei" ein schön ausgestatteter Band mit dem Titel Fäden ins Nichts gespannt. Deutschsprachige Dichtung aus der Bukowina, herausgegeben vom Leipziger Germanisten Klaus Werner (siehe dazu: Mnemosyne, 1992, H. 12, S. 47-49). Der Herausgeber stellt 22 Dichter aus der Blütezeit der Bukowiner Lyrik vor, die zumindest einen veröffentlichten Gedichtband (in vielen Fällen doch aber mehrere) nachweisen konnten. Dieses Kriterium ist zwar nicht einwandfrei, weil nicht unbedingt die Publikation der Gedichte ihren künstlerischen Wert bestimmt. Zum erstenmal aber seit 1939 hat man hier die deutschsprachige Lyrik der Bukowina im gesamtdeutschen Raum zugänglich gemacht. Man kann vermuten, dass das Erscheinen dieses Buches dem Dichter Alfred Kittner wiederum Zuversicht und neue Impulse gab, um sein lang ausgetragenes Anthologieprojekt schließlich zu verwirklichen. Leider konnte er sich desselben nicht mehr erfreuen: der Anthologieband erschien posthum und wurde von Amy Colin redigiert, eingeleitet und mit einem aufschlussreichen Apparat versehen.
Die Versunkene Dichtung der Bukowina. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik ist in vieler Hinsicht eine besondere Leistung. Sie ist die umfangreichste Auswahl deutscher Dichtung des Buchenlandes von ihrer Entstehungszeit bis 1990. Der Band umfasst über 400 Gedichte von 78 Autoren. Das Werk war nicht die Sache einiger Monate oder Jahre — mehr als ein halbes Jahrhundert dauerte diese zeitraubende, Anstrengung und Geduld fordernde Anhäufungs- und Sortierungsarbeit, die Alfred Kittner als Andenken an Margul-Sperber und als seine eigene Pflicht verstand. Tausende von Gedichten wurden im Laufe dieser Zeit durchsiebt, in aller Welt verstreute Texte sorgsam gesammelt und klassifiziert. Nicht nur Dichter vom Format eines Isaac Schreyer, Heinrich Schaffer, Viktor Wittner, Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Rose Ausländer Alfred Kittner, Alfred Gong, Immanuel Weißglas oder Paul Celan, deren Gedichte weit bekannt sind, kommen in diesem Buch zu Wort, sondern viele Dichternamen, die kaum je ins Blickfeld der Bukowina-Forschung gelangten, wie z.B. Verse von Moritz Paschkis, Eleazar Ladier, Adalbert Paul, Josefine Kanel, Gerty Rath, Louis Hafner u.a.
Noch breitere quantitative Horizonte legt der von Amy Colin zusammengestellte biographisch-bibliographische Teil dieser Gedichtsammlung, in dem über 100 Lebensläufe der Bukowiner Dichtung samt ausführlichen Werkbibliographien, Sekundärliteratur und Gedichtnachweisen enthalten sind. Eigentlich kann dieser Teil als kleines Dichterlexikon der Bukowiner Literatur für alle Interessierte dienen. Solch ausführliche Quellenangaben sind sonst nirgends mehr zu finden, abgesehen von den bibliographischen Arbeiten Erich Becks (Bibliographie zur Landeskunde der Bukowina. München 1966, und Bibliographie zur Kultur und Landeskunde der Bukowina. Dortmund 1985). Auch der chronologische Bogen dieser Anthologie ist weit gespannt. Das Buch wird von dem ersten in der Bukowina auf Deutsch geschriebenen Dichterzeugnis, einem Kirchenlied des pfälzischen Pfarrers Stefan Daniel Wilhelm Hubel eröffnet, der 1791 vor den Kriegswirren in den deutschen Landen in die Bukowina flüchtete. Das Kirchenlied ist mit Im kriegerischen Klageton betitelt und wurde am 11. Oktober 1792 bei der Einweihung der neugebauten evangelischen Kirche gesungen. Für die deutschsprachige Literatur der Bukowina ist es der Anfang aller Anfänge, so ungefähr wie die Meresburger Zaubersprüche oder das Wessobrunner Gebet für die gesamtdeutsche Literatur. Einer der letzten Texte der Anthologie, das Gedicht des in Jerusalem lebenden Manfred Winkler Mitten im hymnisch-roten Gebet stammt aus dem Jahre 1990. Also rund zwei Jahrhunderte Bukowiner deutschsprachige Dichtung umfasst die vorliegende Anthologie, und man verfolgt auch in der historisch aufgebauten Architektonik des Bandes die wichtigsten geschichtlichen Tendenzen der Zeit: von den romantischen Landschafts-, Liebes- und Heimwehgedichten in klassischer Strophenform zu den modernistischen Gefügen in freien Rhythmen mit den elliptischen, suggestiven Bildstrukturen. Für ein winziges Land, in dem mehrere nationale literarische Bewegungen und Strömungen zuhause waren, und in dem auch Deutsch nicht immer die dominierende Stellung einnahm, war diese Ununterbrochenheit der Entwicklung nicht leicht zu erreichen. Beim Aussieben der Texte scheinen die Herausgeber den Brief von Rose Ausländer an Alfred Margul-Sperber aus dem Jahre 1932 vor ihren Augen gehabt zu haben, in dem die damals noch junge Dichterin, auf eines der früheren Anthologieprojekte eingehend, schrieb: "Aber mit dieser Anthologie wird mehr geplant, sie soll eine ganz andere literarische Physiognomie haben - alles Durchschnittliche und Kitschige soll möglichst ausgeschaltet werden, nur Sachen von echtem dichterischen Wert sollen Eingang finden." (zit. nach In der Sprache der Mörder. Eine Literatur aus Czernowitz, Bukowina. Ausstellungsbuch. Hrsg. von Ernest Wichner und Herbert Wiesner, Berlin 1993, S. 186).
Dass die >Physiognomie< der vorliegenden Ausgabe unverwechselbar ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass hier zum erstenmal die ganze multinationale Bukowina zu Worte kommt — nicht nur Deutsche und deutschsprachige Juden, sondern auch der Ukrainer Jurij Osyp Fedkowicz, die Rumänen Janko und Theodor Lupul oder Ionel Kalinczuk. Eben darin zeigt sich der echte Geist der Bukowina, und in diesem Sinne sprach im Bukowiner Landtag der erste Rektor der Czernowitzer Universität, Dr. Constantin Tomasczuk, als er betonte: >Wehe der Nation, die sich fürchten musste vor dem Einfluss fremder Kultur. Diese hat sich selbst das Todesurteil gesprochen<. Diese Worte könnten als Wappenschild über der kulturellen Bühne der Bukowina von jeher hängen. Darum nimmt es uns nicht wunder, wenn wir im brilliant geschriebenen Nachwort Alfred Kittners lesen, dass in dem Elternhause eines seiner Jugendfreunde vier Gipsköpfe der Nationaldichter der vier wichtigsten die Bukowina bewohnenden Volksgruppen >thronten<: des Deutschen Friedrich Schiller, des Ukrainers Taras Schewtschenko, des Polen Adam Mickiewicz und des Rumänen Mihai Eminescu.
Natürlich stößt man auch in der vorliegenden Anthologie auf stärkere und schwächere Texte — in einer Sammlung von solch einem Umfang ist dies fast unvermeidlich — keiner davon steht aber unter dem Niveau der ästhetischen Kritik, obwohl sehr viele Gedichte auf Manuskripten und Typoskripten fußen und Erstdrucke sind. Manchen Leser wird es wundern, dass einer der 'bodenständigsten' Vertreter dieser Dichtung, der letzte seiner Generation, Moses Rosenkranz, merkwürdigerweise 'herausgefallen' ist. Dass es nicht die Schuld der Herausgeber ist, zeigt das "Verzeichnis der Dichter und Gedichte" (S. 32), woraus ersichtlich ist, dass Rosenkranz mit 21 Gedichten vertreten sein sollte, aus irgendeinem Grund wurden aber diese Gedichte in die Anthologie nicht aufgenommen, wahrscheinlich entzog der Dichter im letzten Moment seine Autorenrechte. Zweifelsohne ist das ein spürbarer Nachteil der Anthologie. Anstatt der Gedichte von Moses Rosenkranz finden wir Verse von Norbert Feuerstein, Jakob Schulsinger und Erwin Chargaff, die die Qualität dieser Sammlung nicht verringern.
Die Auswahl der Gedichte, die hauptsächlich von Alfred Kittner getroffen wurde, ging nicht nur von der Bedeutung der Dichter im Bukowiner literarischen Prozess aus, sondern auch davon, ich welchem Maße dieser oder jener Lyriker mit seinem Werk schon vorher dem Lesepublikum vorgestellt wurde. Daher sind manche Dichter, die bereits in früheren Anthologien figurierten, weniger berücksichtigt als jene, deren Gedichte erst in dieser Ausgabe repräsentiert sind. Das bezieht sich z.B. auf Silvius Hermann, Lotte Jaslowitz, Johann Kaufmann, Alfred Klug, Josef Kunz, Tina Marbach, Gustav Adolf Nadler, Johann Georg Obrist, Friedrich Sauerquell u.a., über die wir zwar bio-bibliographische Angaben finden, aber keine Gedichte von ihnen lesen können. Einerseits scheint solch ein Verfahren berechtigt zu sein, andererseits aber bleibt ein recht großer Teil der in der Bukowina entstandenen Dichtung außerhalb der Anthologie.
Leider ist auch der wissenschaftliche Apparat, insbesondere in seinem bio-bibliographischen Teil, trotz aller Bemühungen Amy Colins, sich nur auf >mehrfach überprüfte Informationen< zu stützen, nicht einwandfrei. Da sind manche Fehler faktischer Art sowie Verballhornungen einzelner Namen und Begriffe unterlaufen. So irrt sich z.B. die Verfasserin, wenn sie im Zusammenhang mit Klara Blum Lion Feuchtwanger und Brecht als Herausgeber der in Moskau erschienenen antifaschistischen Zeitschrift Internationale Literatur nennt, da diese Zeitschrift unter der Leitung von Johannes R. Becher stand. Was die Zeitschrift Das Wort betrifft, so müsste hier zu den beiden vorhin genannten noch der Name Willi Bredels hinzugefügt werden. Es gibt noch immer keinen Gedichtband von Klara Blum in russischer Übersetzung, die Rede kann hier nur von einzelnen Gedichten aus dem in Moskau 1955 in russischer Sprache herausgebrachten Buch Deutsche demokratische Dichtung 1914-1954 sein (S.352). Der Band von Johanna Brucker ... schaut dir ein Geheimnis Gottes entgegen ist keine Prosa, sondern Lyrik (S. 353) und Georg Drozdowskis Buch Odyssee XXX. Gesang dagegen keine Lyrik, sondern ein Hörspiel (S. 359). Der deutsche Maler und Schriftsteller, ein Freund des jungen Jurij Osyp Fedkowicz, hieß nicht Rotkegel, sondern Rudolf Rotkähl (S. 361). Fedkowicz selbst war nie Leiter des ukrainischen Theaters in Lemberg, als Schulinspektor gab er keine Grammatik der ukrainischen Sprache, sondern eine Fibel und ein Lesebuch für ukrainische Kinder heraus. Sein Theaterstück ist nicht Jurko Dowbusch, sondern Dowbusch, oder Donneraxt und Kurpfuscherkreuz betitelt (gemeint ist der berühmte huzulische Räuberhauptmann des 18. Jahrhunderts Olexa Dowbusch). Die Versdichtung Alexander Dobosch von Ludwig Adolf Simigionwicz-Staufe, die dieselbe historische Persönlichkeit aufgreift, verarbeitet nicht Motive aus rumänischen, sondern aus ruthenischen (ukrainischen) Volkssagen (S. 399). Seine erste Gedichtsammlung war Die Hymnen (1850) und nicht Heimatgrüße aus Niederösterreich (1856), wie es auf S. 399 behauptet wird, und in der Tradition der 'Neuen Sachlichkeit' steht neben Erich Kästner natürlich nicht Franz, sondern Walter Mehring (S. 400). Große Verwirrung herrscht manchmal auch in der Datierung der Entstehungs- und Erscheinungsjahre vieler Werke, wobei es kein einheitliches System gibt. Auch auch einfache Druckfehler entstellen zuweilen den Sinn bis zur Unkenntlichkeit, was zu logischen Verdrehungen führen kann (z.B. beim Titel des Gedichtbandes von Ernst Rudolf Neubauer — Schiff und Weide anstatt Schilf und Weide, S. 391).
Auf keinen Fall verfolgen diese kritischen Bemerkungen den Zweck, den Wert dieser langerwarteten Ausgabe zu verringern, da es jedem, der ein wenig Einblick in die Geschichte der Bukowiner Literatur gewinnen konnte, klar ist, welch enorme und fachkundige Arbeit der Herausgeber dahintersteckt, so dass jeder echte Literaturfreund für diese beispiellose Sammlung zutiefst dankbar sein soll. Die oben angeführten Einwände, die sich nicht auf das allgemeine Konzept des Buches, sondern auf einzelne Versehen beziehen, mögen bei einer zweiten Auflage des Bandes berücksichtigt werden.
Vom heutigen Standpunkt aus ist die deutschsprachige Literatur der Bukowina historisch ein völlig abgeschlossenes Kapitel, wie z.B. die Literatur des alten Griechenlands oder Roms. Man dichtet jetzt in Czernowitz auf ukrainisch, auf russisch, auf rumänisch, sogar Jiddisch hat in der Gestalt seines letzten Statthalters, Josef Burg, ein Stück geistigen Bodens untern den Füßen behalten. Deutsch wird in der Bukowina, abgesehen von ein paar alten Czernowitzern, nicht mehr gesprochen, geschweige denn geschrieben, weil fast alle Bukowiner Deutschen noch 1940 nach dem Ribbentrop-Molotow-Pakt >heim ins Reich< zwangsweise übersiedelt, und die deutschsprachigen Juden, auf deren intellektuelles Potential sich diese Literatur hauptsächlich stütze, im Holocaust vernichtet worden waren. Die Überlebenden wanderten dann nach 1945 aus, so dass ihre Wohnsitze von Bukarest bis New York und von Düsseldorf bis nach Jerusalem reichen, aber auch die meisten von ihnen sind nicht mehr am Leben. Wir, die wir heute dieses merkwürdige Buch zur Hand nehmen und >verhallter Stimmen Chor< wieder lauschen, müssen diese traurige Tatsache stets im Auge behalten, denn erst im Bewusstsein des unvergänglichen Verlustes kann man diese von ständiger Bedrohung überschattete, vom dunklen, wehmütigen, östlich gefärbten Tonfall durchdrungene Lyrik lesen, deren Dichter von sich mit den Versen Rose Ausländers sagen könnten:
Das Erbe
Wo in der österreichlosen Zeit
wächst mein Wort
in die Wurzeln
Ans Buchenland
denk ich
entwurzeltes Wort
verschollene Vögel
"Verschollene Vögel" kehren noch manchmal zu ihren alten Nestern zurück. Ein entwurzeltes Wort wird nie mehr Keime schlagen.
Czernowitz Buch
Erinnerungen eines Ertrunkenen
Auf der Buch Wien wurde am 11. November 2017 von Meridian Czernowitz das Buch "Erinnerungen eines Ertrunkenen" vom Autor Igor Pomerantsev vorgestellt. "In meiner Schulzeit beneidete ich die Schulkinder aus Schule 23, weil sie vom Dach ihrer Schule aus, einen örtlichen Gefängnishof sehen konnten. Der italienische Kriminologe und Arzt Cesare Lombroso prägte den Begriff "Gefängnispalimpsest": Gefangene kritzeln Schwüre, Bitten, letzte Wünsche auf die Wände der Zellen. Im Gefängnis von Czernowitz wurden diese auf Deutsch, Rumänisch, Jiddisch, Ukrainisch und Russisch an die Wände gekritzelt. Dieses Palimpsest spiegelt das Muster der Toleranz in Czernowitz."
Das Buch ist eine Sammlung von Erzählungen und Essays, die direkt und indirekt mit Pomerantsevs Jugendjahren (1953 bis 1971) in Czernowitz verbunden sind. In lyrisch dichten Assoziationen wird das Leben eines Heranwachsenden im geschichtsträchtigen Czernowitz geschildert.
Es legt dem Außenstehenden, speziell aus dem deutschsprachigen Raum, Zeugnis davon ab, dass trotz Holocaust und dem totalitären Kommunismus der Sowjetunion die Tradition einer intensiven literarischen und intellektuellen Auseinandersetzung auch nach 1945, nun vorwiegend in russischer und ukrainischer und teils rumänischer Sprache, fortgesetzt wurde - somit für den Rest der Welt im Verborgenen. Rumäniens Nationaldichter Mihail Eminescu lebte damals ebenso in der einstigen habsburgischen Hauptstadt der Bukowina wie die poetische Ikonen der heutigen Ukraine Olga Kobylanska und Dmytro Zahul, der in Stalins Gulag umkam.
Mit den Worten des Autors Pomerantsev “Zuerst lebte ich in dieser Stadt - danach wechselten wir die Seiten: jetzt lebt sie um so vieles länger in mir als ich in ihr. Von Zeit zu Zeit heftet sie sich an meinem Atem fest. Um nicht an ihr zu ersticken muss ich über sie schreiben. Wörter sind das einzige mir zur Verfügung stehende Arbeitsmaterial - gibt es etwas, das der Dauer näher kommt als Wörter?”
Die Stadt in der Bukowina, heute zur Ukraine gehörend, hat dem russischen Dichter mit britischem Pass ihren Stempel aufgeprägt. “Nicht nur Menschen werden zu Dissidenten, auch Städte können solche sein. Die Czernowitzer Architektur war im sowjetischen Imperium dissidentisch. Wer an diesen Häusern vorbeiging oder in ihnen lebte, der wurde zwangsläufig von ihrem Geist angesteckt. Die Stadt Czernowitz selbst war Dissident, und sie gab uns, ihren Bewohnern, Unterricht in Fragen der Schönheit, Freiheit und Pflicht.”
Dirk Schümer, Welt-Korrespondent: “Für diesen Dichter aus der Ukraine, der in London und Prag lebt, gehören auch Wein und Gespräche, Essen und Poesie, Träume und Geschichten zu dem, was seit der Antike unter einer erfüllten Existenz verstanden wird. Bereits Wörter sind für Pomerantsev Erscheinungsformen des Begehrens, die ihre eigene Schönheit und ihre wilde Geschichte haben. Für jemanden, der in Czernowitz aufgewachsen ist, wirkt diese polymorphe Sprachverliebtheit fast schon selbstverständlich, denn in dieser verwunschenen, geschundenen Stadt atmete (und atmet) man die Luft von Paul Celan, Rose Ausländer, Erwin Chargaff. Ihre geschriebene Zärtlichkeit lebt weiter im Werk von Igor Pomerantsev.”
Milena Findeis, Prag 14.11.2017
Links:
*** Jugendträume 1975/76 ein lyrisches Stück Prosa im Czernowitz Buch
Igor Pomerantsev "Erinnerungen eines Ertrunkenen"- Essay aus dem Erzählband in deutscher Sprache
Verlag Der Konterfei, Robert Jelinek, Wien, Oktober 2017. Das Foto der Titelseite wurde aufgenommen im russischen Teil des Wolschaner Friedhofs in Prag im April 2017. DER KONTERFEI 036 / Paperback / Deutsch / 90 Seiten / ISBN 978-3-903043-25-1 / www.derkonterfei.com
Rezension von Simone Brunner in der Wiener Zeitung "Die Stadt der Worte", 6.11.2017
VIII. Internationales Lyrikfestival
MERIDIAN CZERNOWITZ 2017
7. bis 10. September 2017
Vom 7. bis zum 10. September öffnet das achte internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz seine Bühnen für siebzig Autoren und Autorinnen, Künstler und Künstlerinnen, Übersetzer und Übersetzerinnen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Israel, Liechtenstein, Rumänien, Moldawien, Polen und der Ukraine. Unter den TeilnehmerInnen: aus Deutschland - Nancy Hünger, Andreas Altmann, Elke Schmitter, Österreich: Sonia Harter, Hans Eichhorn, Max Pravin, der Schweiz: Eugen Gomringer, Levin Westermann, Israel: Abi Mishol und Yonatan Kunda, Polen: Krzysztof Czyzewski, der Ukraine: Serhiy Zhadan, Igor Pomerantsev, Juri Izdryk, Dmytro Pawlytschko, Iwan Malkowytsch, Andrij Ljubka.
Internationale Lyriklesungen, Vorträge u.a. jener des Gründers der konkreten Poesie, Eugen Gomringen über dieses Lyrikgenre und des polnischen Autors Krzysztof Czyzewski zum zeitgenössischen Meridian der Stadt Czernowitz, Musikkonzerte - deutschsprachige und ukrainische Elektro-Pop Poesie, eine Aufführung jüdischer Musik am zentralen Theaterplatz unter freiem Himmel -, Lyriklesung in der renovierten Synagoge Sadgora und Diskussionen zum Thema “Gedächtnis und Konflikt”, Präsentationen der neu erschienenen ukrainischen Bücher (u.a. des neuen Romans von Serhiy Zhadan „Internat“), Filmdokumentation von Igor Pomerantsev und Lidia Starodubtseva „Amputation“, einem Dokumentarfilm zum Thema Krieg und Dichtung in der Ukraine.
Das internationale Projekt BABELSPRECH ist ein Teil des umfangreichen Meridian Czernowitz Festivalprogramms - um neue Kohorte deutschsprachiger Dichter und Dichterinnen international zu vernetzen. Im Rahmen dieses Projekts treffen Autoren aus Deutschland (Ronya Orthmann, Alke Stachler), Österreich (Marco Dinic, Franziska Füchsl), der Schweiz (Alessandro, Sascha Garzetti), Liechtenstein (Manuel Beck), Rumänien (Dosa Andrei, Claudiu Komartin) und Moldawien (Paula Erizanu) ihre ukrainischen Kollegen Andrij Ljubka, Iryna Tsilyk u.a. Kuratiert wird BABELSPRECH von Max Czollek (Deutschland), Robert Prosser (Österreich) und Michelle Steinbeck (Schweiz). Die Ergebnisse der Zusammenarbeit werden dem Festivalpublikum präsentiert.
Zum ersten Mal präsentiert das Festival Meridian Czernowitz die regionale ukrainische junge Lyrikbühne – DichterInnen aus den verschiedenen Städten der Ukraine – neue Stimmen der zeitgenössischer ukrainischen Lyrik (Kurator – Serhiy Zhadan).
Alle Veranstaltungen werden ins Deutsche und Ukrainische übersetzt bei freiem Eintritt.
Milena Findeis
Stand 15/06/2017
Kontakt:
Lilia Schutjak, Pressesprecherin
http://www.meridiancz.com/de/
Poesie- und Lyrikfestival: Meridian Czernowitz
von Ann-Marie Struck
Geschichte und Bedeutung für die Stadt
Die multiethnische Stadt Czernowitz ist die heimliche vergessene literarische Hauptstadt Europas, denn in ihr lebten beispielsweise Größen, wie Olha Kobylanska, Josef Burg, Gregor von Rezzori und Mihai Eminescu. Auf ebendiesem kulturellen Erbe baut das 2010 gegründete Poesie- und Lyrikfestival „Meridian Czernowitz“ auf. Der Name des Festivals spielt auf Celans Metapher „Meridian“ an, mit welcher der aus Czernowitz stammende Literat seine bekannte Georg- Büchner-Preis-Rede 1960 betitelte. Das Motiv des Meridians, eine gedachte, die Erde von Pol zu Pol umspannende Linie, steht für die Verbindung, die durch Poesie entsteht. Der Meridian soll zur Begegnung führen, die Celan, wie er sagt, „[…] mit unruhigen Fingern nach dem Ort seiner eigenen Herkunft suchend auf einer Kinder-Landkarte findet.“ Die Verbindung, ein Zeichen für die Begegnung, die im Fokus von Celans poetologischem Manifest steht, wird im Gedicht hergestellt. Auf der Suche nach einem Gegenüber findet Celan in der Poesie etwas „[…] wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes – ich finde…einen Meridian.“
Celans Poetologie der Individuation des Künstlers, als auch des Lesers durch das Sprechen in der Poesie, steht in Verbindung mit dem Konzept des Festivals, welches versucht, die zeitge-nössische, ukrainische Literaturszene ins rechte Licht zu rücken und sich wieder innerhalb der europäischen Literaturszene zu etablieren. Ziel von „Meridian Czernowitz“ ist der Dialog zwischen ukrainischen und internationalen Künstlern und die Etablierung Czernowitz’ in der Kulturlandschaft Europas. Dabei greift das Festival auf das vielfältige kulturelle Erbe der Stadt und das historische Gedächtnis seiner Einwohner zurück. In Anlehnung an den geographischen Terminus kann „Meridian Czernowitz“ als Metapher sowohl für Celans Poetologie als auch Czernowitz selbst gelesen werden. Die von Celan erwähnten Tropen symbolisieren die Mehrsprachigkeit der Bukowina vor dem Zweiten Weltkrieg, in dem das Jiddische, das Deutsche, das Rumänische und das Russische gesprochen wurden. Die daraus resultierende außergewöhnliche, vielsprachige Literaturtradition spiegelt sich in der Veranstaltung „Czernowitz Meridian“ wieder, wobei dabei der Fokus auf die Rückkehr zur Amtssprache Ukrainisch in die Sprache der Poesie liegt. Demzufolge ist es eine ukrainische Veranstaltung mit überwiegend ukrainischen Autoren, Lyrikern, Übersetzern, Essayisten und Künstlern, die versuchen, trotz der Problematik der Sprachbarriere, international wahrgenommen zu werden.
Konzept
Das Ziel des Festivals ist neben der literarischen Renaissance in Czernowitz eine Neuintegration der ukrainischen Literatur in die Kulturlandschaft Europas. Im Fokus steht der Dialog zwischen den internationalen Dichtern der Gegenwart. Das Konzept der Begegnung überschneidet sich mit der Arbeit des 2014 im Zuge des Lyrikfestivals eröffneten Paul-Celan-Literaturzentrums. Beide Institutionen widmen sich der Popularisierung der multinationalen und vielsprachigen Literatur der Bukowina, wobei das Celan Zentrum vor allem vergessene rumänische, polnische oder jüdische (überwiegend jiddischsprachige) Autoren der Bukowina untersucht. Die im Westen bereits geschätzten Literaten, wie Karl Emil Franzos, Alexander Morgenbesser, Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, Alfred Kittner, Paul Celan, Gregor von Rezzori, Selma Meerbaum-Eisinger, Manfred Winkler, Ilana Shmueli, Itzig Manger, Moshe Altmann, Josef Burg, Aharon Appelfeld und andere, sind in ihrer Heimat weiterhin unbekannt, da sie aus ideologischen Gründen oftmals nicht publiziert wurden. Ziel ist es, diese historische Ungerechtigkeit auszugleichen, weshalb das Celan Zentrum als Sammel- und Forschungsstelle agiert. Zudem organisiert das Zentrum das Festival mit und seine Räumlichkeiten dienen ebenso als Hauptbühne.
Die Dichterlesungen, Vorlesungen, Diskussionen und Buchpräsentationen finden aber ebenfalls in der Nationalen Jurii-Fedkowytsch Universität Czernowitz und dem Kulturpalast statt. Doch auch die Stadt selbst wird zum Hauptakteur des Festivals, indem literarische Spaziergänge, Musik-Poesie-Abende, Wein-Zigarren-Abende, Theatervorstellung, Konzerte und Buchvor-stellungen überall in der Stadt verteilt stattfinden.
Meridian Czernowitz ist durch den für bestimmte Projekte des Festivals extra gegründeten Verlag mehr als nur ein Poesiefest. Dieser publiziert im Laufe eines Jahres fünf bis sieben Bücher von teilnehmenden Autoren in allen Sprachen.
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