Victoria Amelina
Victoria Amelina (1.1986 – 1.7.2023) war eine ukrainische Schriftstellerin, Essayistin und Menschenrechtsaktivistin. Romane: Herbst-Syndrom oder Homo compatiens und Ein Haus für Dom. Sie gewann den Joseph-Conrad-Literaturpreis und war Finalistin für den Literaturpreis der Europäischen Union. Sie war Mitbegründerin des New York Literary Festivals, das in einer kleinen Stadt namens New York in der Region Donezk stattfindet. Aufgrund der russischen Invasion im Jahr 2022 hatte das Team anstelle des Festivals die Initiative „Fight Them with Poetry“ ins Leben gerufen, um die ukrainische Armee bei der Verteidigung der Region zu unterstützen. Victorias Prosa, Gedichte und Essays wurden ins Englische, Polnische, Italienische, Deutsche, Kroatische, Niederländische, Tschechische und Ungarische übersetzt. Seit 2022 arbeitete Amelina mit ukrainischen Teams zusammen, um russische Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Zuletzt arbeitete sie an einem Sachbuchprojekt War and Justice Diary. Victoria Amelina starb an ihren Verletzungen, nachdem eine russische Rakete ein Pizzarestaurant in der Stadt Kramatorsk getroffen hatte.
Im Oktober 2017 sandte mir Christian Weise diese beiden von ihm aus dem Ukrainischen übersetzten Passagen der ukrainischen Autorin Victoria Amelina (1.1986 - 1.7.2023) per Mail zu. Mit Genehmigung der Autorin wurden diese Passagen auf dem Zeitzug publiziert. Nach einem halben Jahr bat mich Christian Weise diese wieder offline zu stellen "auf Verlangen des deutschen Verlags". Nach dem Tod der Autorin erfahre ich von Christian Weise, dass das Buch in deutscher Sprache nie veröffentlicht wurde. Daher ist der Beitrag seit 5.7.2023 wieder online.
Prag, 5. Juli 2023, Milena Findeis
Schienen und Flughäfen
... Der General hatte die Angehörigen seiner Frau nicht wirklich so emporgezogen, aber der Fall war doch schmerzhaft. Von einem Offizier in einer hübschen deutschen Kleinstadt zu einem Arbeitslosen am Rande von Donezk – das mag nicht jeder durchstehen, überlegte Tamara. Auch sie war nicht aus Stahl. Nach dem Verschwinden von Mascha sprach sie daher immer mehr mit mir, sie suchte den Schlüssel in der Vergangenheit: denjenigen Moment, an dem sich die Zukunft der Tochter entschied.
Die Berliner Mauer, beichtete Tamara, brach gerade da zusammen, als der Zug, mit dem sie nach Schwerin zurückkehrten, die Grenze überquerte. Der Zug stand am Bahnhof von Brest. Dort, an diesem Bahnhof, nahm das ein Ende, was Sowjetmenschen für ihr großes Haus hielten, wie im Lied „Meine Adresse das ist die Sowjetunion ...”
„Der Unterschied zwischen der Breite der Gleise hier und da beträgt alles in allem ein paar Zentimeter, aber mit den sowjetischen Rädern geht kein Weg weiter“, - brummelte Tamara, und winkte sogleich mit der Hand, wobei sie den scharfen Wodka verspritzte. „Das, was Du verstehst, sind ja doch nur Dummheiten. Früher war das ‚russische Gleis’ noch breiter...“ Sie öffnet ihre Arme, als wollte sie jemanden umarmen, um die Breite der russischen Gleise zu demonstrieren.
Vielleicht war die Idee ja die, diese Gleise allmählich zu verkleinern, bis sie wie europäische aussehen.
Ich schließe meine Augen und stelle mir vor, dass Mascha im Zug an der Grenze schläft und nicht weiß, dass Leute auf der Berliner Mauer tanzen, dass sie sie zerlegen und Bruchstücke als Souvenirs verkaufen. Der Zug steht am Bahnhof, die Zeit vergeht. Mascha ist zwölf, sie ist Pionierin, sie ist in einen Klassenkameraden verliebt, sie kehrt in ihr Deutschland zurück, sie weiß, was morgen passieren wird - so denkt sie. In Berlin brechen sie die Mauer ein. Die Wachen zögern: sollen sie schießen? Und sie schießen nicht. Der Zug fährt ein in die Umspuranlage. Schwer nur hält er an, wie alles Große. Es vermag das nicht. Für einige Zeit scheint es, dass nichts weiter passieren wird. Vielleicht sind die Arbeiter eingeschlafen, schauen sich die Fernseh-Nachrichten an und hören verbotenes Radio? Der Zug steht nur. Die Werkzeuge, Wagenheber und die Räder für die europäischen Schienen warten und lauschen dem Regen. Es scheint, das Warten kann wirklich ewig dauern. Was wenn ja, und sie die Räder nicht auswechseln – von den sowjetischen zu den europäischen? In Berlin umarmen Deutsche Deutsche. Der Vorgang des Austauschens der Räder beginnt mit dem Entkoppeln der Waggons. Den ganzen Zug kann kein Wagenheber anheben. Also wird getrennt, rums, rums, rums. Die Scheinwerfer der Wachtürme fangen die Gesichter der Menge ein, erschrocken und glücklich. Die Gesichter der Grenzschutzbeamten waren nicht zu sehen. Ich frage mich, ob sie Grenzhunde hatten? Sie wissen schon, solche gehorsamen deutschen Schäferhunde. Die Grenzwachen und Schäferhunde waren auch eine Mauer, die in dieser Nacht zerstört wurde. Und der Major, Maschas Stiefvater, gehörte auch dazu. Sogar Mascha, ein kleines Mädchen, das in Deutschland aufwuchs, mag ein Teil dieser schrecklichen Mauer gewesen sein.
Der Zug fuhr in den Bahnhof Schwerin ein. Die Kindheit ging weiter. Aber Maschas Stiefvater war kein sehr kluger Mann. Er stellte dem General, mit dem er verwandt war, dumme Fragen: Wohin ist der unbenutzte Treibstoff geflossen, wohin sind die Autos aus dem Militärfuhrpark verschwunden, woher sind die ausländischen Autos gekommen, die in der Sowjetunion fahren ... Folglich hat der General nicht lange gezögert und den Major auf die Suche nach ausländischen Autos hinterhergeschickt, mit wertvoller technischer Ausrüstung, und einem älteren Zug. Der Major brachte den Zug erfolgreich zum Ziel – an einen Punkt auf der Karte in der Mitte von Sibirien. Neben dem eigentlichen Punkt auf der Karte gab es ein schneebedecktes Feld und eine Kaserne, die fast fertig war. Der Major versuchte, das Hauptquartier anzurufen, dann den Familienangehörigen, dann wieder das Hauptquartier. So sehr er konnte, bewachte der Major mit den Soldaten, die auf diesem Feld festgehalten wurden, das Eigentum der sowjetischen Armee als eine wahnsinnig wichtige strategische Sache. Dort fing er auch an zu trinken, und dann bat er um Entlassung. 1991 ging zu Ende.
So kam auch Mascha von Schwerin nach Donezk, in die Heimatstadt ihres Stiefvaters. Schlösser gab es dort nicht.
Das einzige, was Mascha an dem neuen Ort gefiel, war vom Balkon aus zuzuschauen, wie die großen silbernen Flugzeuge einflogen – aber weniger und weniger.
Bald musste sich Mascha auf dem Balkon mit ihrer Mutter und der Schwester des Stiefvaters Halyna, dem ehemaligen General, verbarrikadieren.
Mascha wollte zurück, in die Kindheit, nach Deutschland oder zumindest zu Romka, nach Leningrad. Und dann fuhr der Major seinen blaue Opel zu Schrott und konnte nicht einmal mehr als Taxifahrer schwarz Geld verdienen. Es war nicht mehr möglich, sich vor ihm zu verstecken, selbst auf dem Balkon mit Blick auf den Flughafen.
Man sagt allgemein, dass in diesen Jahren viele sowjetische Offiziere verunglückten: vielleicht passten die schnellen deutschen Autos nicht zu den sowjetischen Fahrern und Straßen. Vielleicht waren sie unvereinbar, so wie die unterschiedlichen Gleise.
Tamara und Mascha flohen nach Lemberg.
Der übrige Treibstoff
Mascha hat mir einmal eine von diesen Geschichten erzählt, die die Erwachsenen einem so nicht erzählen. Aus der Kindheit haben sie etwas so Süßes wie den Duft von Mandarinen oder den Wind vom ersten Aufenthalt am Meer in Erinnerung. Oder erzählen sie etwa über den ersten Tod? Aber Mascha erzählte. Mir allein, was sie noch niemandem erzählt hatte.
Vor der Abreise aus Deutschland wurde es plötzlich Winter. Mascha sauste in einem etwas zu großen Mantel herum - ihre Mutter und ihr Stiefvater kauften damals alles zum Hineinwachsen. Es war kalt, und Mascha erkundete alles näher, nicht einmal Gestank schreckte sie ab. Es war so interessant von nahem zuzusehen, wie Benzinpfützen brennen.
Die Pfützen loderten hoch und verbrannten die dünnen Schneeflocken in der Luft. Romka Lysytskyj hatte keine Angst zu springen. Auch wenn er auf dem Foto schmale Schultern und Hände hat, auch wenn er Sohn eines Generals war. Mascha schien es, dass er diesen Zeitvertreib sogar erfunden hatte. Doch vielleicht stellt sie immer Romka im Mittelpunkt, egal ob auf einem gemalten Blatt oder in einer Geschichte.
Es gab einfach nichts, wo man den Treibstoff hintun konnte. Damals gab es bei den sowjetischen Truppen insgesamt plötzlich viel zu viel Überflüssiges. Gerüchte wurden verstreut, einer der Generäle habe ein Panzerfahrzeug dem Schrotthandel übergeben. Nach einem anderen habe er einen legendären KrAZ* gegen zwei Mercedese eingetauscht. Romka sagte, das sei nicht wahr. Vielleicht stimmt das. Tante Galina hat zumindest kein ausländisches Auto gesehen.
Tanks mit Treibstoff schickte man nur wenige in die Sowjetunion zurück, wenn man denn überhaupt etwas schickte, man versuchte, alles vor Ort zu nutzen, genauer zu verkaufen. Am Ende goß man den Treibstoff einfach nur in den deutschen Boden.
Das sowjetische Militär hatte zum Teil bereits Deutschland verlassen. So waren diese Kinder noch zufällig dort - die letzten sowjetischen Kinder. Für die D-Mark des plötzlich vereinten Deutschlands kauften die Eltern ihnen Sachen zum Hineinwachsen, so, dass sie noch lange passen würden, für immer. Irgendjemand hat sogar einem fünfjährigen Mädchen ein Abendkleid für die Hochzeit oder zum Studienabschluss gekauft; Maschas Eltern fragten sich, ob sie nicht für alle Fälle auch ein Hochzeitskleid holen sollten.
„Sie holten es nicht“, - Mascha mußte lachen.
Jeder wusste, dass es in der Sowjetunion solche Kleider, Jacken, Turnschuhe nie gab. Zwar gab es auch die Sowjetunion selbst auch schon nicht mehr, aber in den Militärlagern glaubte daran niemand, außer natürlich denen, die KrAZe gegen Mercedese eintauschten. Doch Mascha glaubte Romka ...
Kurzum, in der leeren Garnison gab es ein bisschen übriges Benzin, und die sowjetischen Kinder, die noch in Deutschland waren, hatten ein bisschen Fantasie und viel Zeit. Folglich brannte es vor den leeren Garagenboxen, solange die letzten Erwachsenen konzentriert zerlegten, kauften, eintauschten und verpackten.
„Sie ist ein Mädchen. Sie wird nicht springen“, sagte einer der Jungs. „Ein kleines Mädchen!“
Diese Kinder wussten nichts von dem alten Feiertag Ivan Kupala, wo die Jungs und Mädchen durch das Feuer sprangen. Sie sprangen sogar Hände haltend - das Feuer verband. Das Feuer reinigte – radierte alles aus - so wie Krieg.
„Sie springt nicht, ich bin sicher!“, flüsterte Romka seinem Kumpel zu.
Und unsere Mascha sprang. Sie ist ja auch jetzt mutig. Sie floh aus dem Haus so, als wäre sie gerade auf die andere Seite gesprungen.
Aber sie ist ein richtiges Mädchen. Ihr Haar war lang, es fiel bis zum Hintern. Es wurde fast nicht angesengt. Sie war nur aufgeregt, sie atmete schwer, nur die Spitzen der langen Locken waren gebräunt.
„Na gut, und jetzt bei den Eltern sich beschweren“ ..., tuschelte jemand.
„Ich beschwere mich nicht“, sagte Mascha.
Dann begannen die Jungen miteinander zu beraten. Das Springen durch eine kleine Pfütze war nun eine Herausforderung, die auch Mädchen tun konnten.
„Schau mal, die Locken sind nicht angesengt“, schrien sie und sprangen alls weiter durch die Feuerlabyrinthe. Sie lachte. Und Mascha sprang mit ihnen – das lange Haar nun zusammengebunden mit einem Halstuch. Für die Jungs wurden die Sprünge zu wenig.
„Alle diese Pfützen sind Blödsinn!“, sagte jemand.
Mascha erinnerte sich nicht mehr wer. Es gab nur noch wenige Kinder aus verschiedenen Klassen ...
Und jemand schlug vor: „Und wenn wir Patronen ins Feuer werfen? Wer hat keine Angst?“ Nein, habe ich abgewunken ... aber nicht stark. Ich habe Romka angelogen, dass ich Magenschmerzen habe. Und er ging mit mir, um mich nach Hause zu bringen. Was hätten wir sonst tun sollen? Hätten wir uns vielleicht beschweren sollen? Wir sind keine Petzer.
Mascha kannte den Jungen nicht, der damals getötet wurde. Sein Foto wurde anschließend in der leeren Schule aufgehängt - die deutschen Kinder fanden ihn wahrscheinlich noch an der Wand.
Das war so ein verrückter Spaß - Patronen in ein Feuer zu werfen. Wie russisches Roulette, nur rücksichtsloser. Sie fliegen in alle Richtungen, und du kannst nichts mehr aufhalten. So wie - wenn man einen Krieg beginnt.
Die Eltern verprügelten ihre Jungs. Selbst die nicht ganz sauberen Generäle legten wahrscheinlich deshalb ihre gepanzerten Personenwagen und Mercedes beiseite. Die Mütter umarmten ihre Jungs, sie vergaßen eine Zeit lang die letzten Einkäufe und die Koffer, die sich sträubten, zugeschnürt zu werden.
Und dann sind alle in die Sowjetunion zurückgekehrt – also in die Ukraine, nach Georgien, Kasachstan, Armenien, Russland ... Alles begann neu. Nur im Inneren war bei den Menschen wahrscheinlich alles beim Alten. Bei niemandem wurde irgendetwas ausradiert, selbst wenn sie durch das Feuer sprangen, außer bei den Generälen.
*KrAZ ist ein ehemals sowjetischer, heute ukrainischer Nutzfahrzeughersteller in der Stadt Krementschuk, der für seine Lastkraftwagen bekannt ist.
Victoria Amelina, Ein Haus für Dom. Lwiw, Verlag des Alten Löwen, 2017. 379 Hier Ausschnitte der Seiten 192-195, 316-319 aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise, Oktober 2017
In der im Frühjahr 2023 bei Edition FotoTAPETA publizierten Flugschrift ALLES IST TEURER ALS UKRAINISCHES LEBEN enthielt den Beitrag von Victoria Amelina CANCEL CULTURE vs EXECUTE CULTURE
"Die Realität des Krieges
verschlingt die Satzzeichen
die fortlaufende Geschichte
die Zusammenhänge
verschlingt sie
als hätte ein Geschoss
die Sprache getroffen",
schrieb Viktoria Amelina in einem ihrer Gedichte aus dem letzten Jahr.
Der mörderische Krieg hat ihr Sprache und Leben genommen, und auch wir haben keine Worte mehr.
Gedenken wir ihrer!
Claudia Dathe
Die Spurensucherin
Die ukrainische Schriftstellerin Victoria Amelina ist durch einen russischen Raketenangriff getötet worden. Zur Erinnerung an die Autorin, die auch russische Kriegsverbrechen dokumentierte, veröffentlichen wir fünf ihrer Gedichte.
Von Victoria Amelina (Gedichte) und Claudia Dathe (Begleittext), 08.07.2023, Republik
On May 15, Ukrainian novelist Victoria Amelina spoke with the CCC podcast, #VelocityOfContent, about accepting the Prix Voltaire Special Award from the International Publishers Association for murdered Ukrainian children’s book author and poet, Volodymyr Vakulenko.