Wir sind mitten im Film Alien

Andrij Lyubka (Uzhorod)

 

Mittwoch den 23. Februar Abend war ich mit meinen Freunden in einem der Kyiwer Kinos bei einer ukrainischen Filmpremiere. Nach dem Kinobesuch hatten wir ein gutes Abendessen mit einer Flasche exklusiven Wein dazu. Danach gingen wir zu Bett.

Wir gingen als erfolgreiche Vertreter der mittleren Klasse zu Bett, deren Terminkalender für Monate im voraus verplant sind, als Bürger eines normalen europäischen Landes. Donnerstag Morgen sollte ich nach dem Erwachen ein weißes Hemd anziehen und zum Flughafen fahren, wo mich ein Flugzeug nach Vilnius bringen sollte, zur dortigen Buchmesse, bei der ich mein neues Buch präsentieren sollte. Ein ganz gewöhnliches Leben, nicht anders als bei Hunderten Millionen Europäern.

Donnerstag Morgen wurden wir aber in einer Hölle wach. Kyiw wurde in der Dunkelheit bombardiert, überall jaulten und bellten Hunde. Einen Moment lang schien das alles ein Albtraum zu sein. Das entfernte Grollen der Explosionen erinnerte an das Jenseits: etwas Ähnliches kann man empfinden, wenn man in der Badewanne untertaucht und dann das Herz in den Ohren betäubend schlagen hört. Man hatte den Eindruck, als ob die Explosionen irgendwo tief in unserem Inneren knallen. Ich muss ehrlich sagen: ich spürte Angst.

Seit der Zeit vergingen sechs Tage und die Explosionen und Tote sind für uns inzwischen Routine geworden. Friedliche und absolut gewöhnliche Menschen, die Gadgets benutzen und ihre Likes unter lustigen Memes in Sozialnetzen klicken, verwandelten sich in lebendige Organismen mit dem einzigen Ziel: zu überleben, die Verwandten zu beschützen, eigenes Heim und eigenen Staat zu bewahren. Vor einer Woche war ich unter meinen Bekannten der Einzige, der an den russischen Angriff glaubte, aber auch ich hätte nie glauben können, dass die Städte bombardiert werden und in der Hauptstadt meines Landes Straßenkämpfe geführt werden. Sie können mich für blauäugig und naiv halten, aber ich meinte im Ernst, dass nach dem Zweiten Weltkrieg ein solcher Krieg in Europa schier unmöglich sei, dass wir die historische Lektion recht oder schlecht doch gelernt hätten. Wie sehr täuschte ich mich.

Und das ist mehr als ein Krieg – in der Ukraine droht die Massenvernichtung von Menschen. Das ist kein Krieg, in dem in einem Kampfgebiet zwei Armeen gegeneinander kämpfen, das ist  ein Verbrechen, in dem die russischen Truppen in bestialisch heimtückischer Art die ukrainischen Städte überfallen. Die russischen Soldaten verkleiden sich in die Uniformen der ukrainischen Armee, ergreifen Besitz an ukrainischen Kampfmaschinen, Feuerwehr- und Nothilfewagen und greifen so getarnt wie Terroristen an. Russische Diversanten, als Zivilisten verkleidet, dringen in die ukrainischen Städte ein. Die friedlichen Bewohner werden getötet, Panik breitet sich aus. Kann man denn das Krieg nennen? Das ist Terrorismus, im Vergleich zu welchem sogar die afghanischen Taliban als Vorbild für Moral und Militärwürde gelten können.

Russen tauchen in unseren Städten in weißen Arztkitteln, in Feuerwehruniformen auf, kleben sich auf die Kleidung ukrainische Symbole oder stecken ukrainische Fahnen auf ihre Kampfwagen, minieren Wohnviertel, nehmen zivile Bevölkerung als Geisel. Das ist nicht der Krieg zwischen zwei Armeen, das ist ein Drehbuch zur nächsten Folge des Films „Alien“, wenn die Feinde aus jedem Spalt und jeder Ecke kommen, wie von einem unbekannten Virus erfasste Zombies. Es ist kein gewöhnliches Verbrechen, all das ist so ungeheuer skrupellos, abtrünnig und feige. Ich war immer überzeugt, dass Offiziere zu solcher Niedertracht nicht fähig sind, aber jetzt muss ich einsehen, dass der Begriff der Ehre in der russischen Armee atrophiert ist. Wie auch bei dem russischen Volk, das weiter schweigt und gegen diesen abscheulichen Krieg nicht protestiert.

In diesem Horror gibt es auch eine andere Realität – Ukrainer und Ukrainerinnen, die sich bemühen ihre Menschenwürde zu bewahren und nach Kräften zu helfen. Hunderte Tausende flüchten vor den Beschüssen, Millionen in anderen ukrainischen Städten einigen sich in Hilfe den Flüchtlingen, die sie entgegennehmen, ihnen Essen, Wärme und Unterkunft gewähren. Menschen machen ihre Wohnungen auf für andere, völlig unbekannte, Menschen. Unermüdlich machen die Ukrainer Volontärarbeit: bereiten Sporthallen in den Schulen für die Flüchtlinge vor, kaufen Arzneimittel für die Städte an der Frontlinie, flechten Tarnnetze für ukrainische Soldaten.

In dieser düsteren Zeit spielen Kindererzieher_innen und Psycholog_innen mit Kindern der Flüchtlinge, Menschen bringen den Kindern Kuscheltiere mit. All diese wunderbaren Menschen verbergen ihre Tränen, wenn sie humanitäre Hilfe bringen, und laufen schnell zurück in ihre Autos, wo sie endlich ihre Emotionen frei austoben lassen. Wir erlauben uns keine Tränen, weil wir standhaft sein müssen und einander ermuntern. Aber weinen, vor Rührung oder vor Wut, wollen alle. Weinen nach dem vergangenen Leben, das noch vor sechs Tagen normal war, aber nie mehr so wird, wie es früher war.

Während die Russen Dutzende kleinere und große ukrainische Städte unter Beschuss halten, wendet sich der ukrainische Präsident an die EU mit der Bitte, der Ukraine die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft zu gewähren. Ich persönlich habe nicht für Selenskyj gestimmt, und es ist mir wichtig, das zu betonen. Das, wofür wir kämpfen, ist nicht einfach ein Kampf um die Ukraine, es ist ein Kampf um Europa. Wir kämpfen um die Demokratie, um das Wahl- und Selbstbestimmungsrecht für die Staaten, um Basisrechte der Menschen und menschliche Würde. Wir haben unterschiedliche politische Überzeugungen, wir sprechen unterschiedliche Sprachen, beten oder halten uns für Agnostiker, lesen unterschiedliche Bücher und hören unterschiedliche Musik, aber heute sind wir einig und bereit, gerade für dieses Recht auf Vielfalt zu sterben. Denn eben dieses Recht bildet die Grundlage Europas, das ist Fundament der Achtung gegenüber allen, so unterschiedlichen, aber in gleicher Weise hervorragenden, Menschen. Russland will diese Vielfalt vernichten, es will die Ukraine vernichten allein dafür, dass wir anders als Russland sind, dass wir eigene Vorstellung von unserer Zukunft haben.

Deshalb unterstütze ich den Präsidenten Selenskyi voll und ganz und wende mich an alle Menschen des guten Willens in Europa: erkennen Sie unser Recht, in der Zukunft EU-Mitglied zu werden, an, signaliesieren Sie uns ein Zeichen Ihrer Unterstützung. Später, nach dem Krieg, werden wir über Bedingungen und Aufnahmeprozedur verhandeln, aber jetzt brauchen wir dringend das eine: dass Ihr Leuchtturm in dieser totalen Dunkelheit uns einen Lichtstrahl sendet, der zu einem Wegweiser wird. Denn es mangelt heute am meisten an der Hoffnung, die allein kann uns Kräfte und Mut geben. Geben Sie uns Hoffnung, geben Sie uns Zeichen, dass wir nicht einsam und verlassen sind.

Dieser Text wurde innerhalb einer Stunde geschrieben, und das war eine wunderbare Stunde, in der ich keine Nachrichten über Bombardierungen und neue Tote lesen musste. Das Einzige, was ich heute machen kann, ist mein Schreiben. Denn ich bin ein Schriftsteller. Das ist mein Beruf, und in jetzigen Umständen schäme ich mich beinahe, das zu behaupten. Es wird versucht, uns in die Steinzeit zurückzuschleudern, in der es kein Schreiben und keine Literatur existierte. Das ist der Kampf der Gegenwart mit der dunklen Vergangenheit, der Krieg des Jahres 2022 mit Zombies, die ohne jegliche Gründe beschlossen haben, unser Leben zu ruinieren.

Der Krieg dauert sechs Tage lang. Sechs Tage lebe ich mit dem Gefühl, wir wären alle unter Wasser und hörten unseren lauten Herzschlag. In der Realität aber donnern Explosionen in unseren bis vor kurzen friedlichen Städten und Dörfern. Helfen Sie uns aus diesem erschreckenden Wasser. Lassen Sie uns nicht ohne Luft ersticken.

Andrij Lyubka (Uzhorod), 01.03.2022 gepostet auf Facebook und wird auf dem Zeitzug veröffentlicht

Übersetzt von  Khrystyna Nazarkevych


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