Treffpunkt Germaschka

Juri Andruchowytsch

Germaschka1. Es lässt sich wohl kaum behaupten, dass sich die klimatischen Bedingungen des Landes, in dem ich geboren wurde und lebe, wesentlich von den mitteleuropäischen unterscheiden. Derselbe Sommer mit der schon üblichen Kälte im Juni und Hitze im August, derselbe unbeständige Winter mit kurzen Frost- und langen Tauwetterperioden, derselbe, nach Regen und absterbenden Pflanzen riechende Herbst, derselbe launische Frühling voll von aufgeregten Erwartungen. Ich nehme an, dass in den Familien der deutschen Kriegsveteranen bis heute alle möglichen Phantasmogorien über den härtesten aller Winter kursieren, nämlich den ukrainischen, der Finger und Zehen abfrieren und die Genitalien erstarren lässt. Ich nehme ferner an, dass das menschliche Gedächtnis in der Lage ist, das Reale ins Irreale zu transformieren und mit narrativen special effects anzureichern. Auch will ich gar nicht bestreiten, dass es natürlich Klimaveränderungen gibt und dass seit der Zeit der letzten Kampfhandlungen das Wetter in der Ukraine umgeschlagen und spürbar milder geworden sein mag. In jedem Fall aber kann ich mit der verbürgten Erfahrung des Weltreisenden der im Lauf der letzten zehn Jahre unzählige Male in die westliche Welt vorgestoßen und von dort auch wieder zurückgekehrt ist, sagen: Nein, ich kann keine Klimagrenze etwas zwischen Wien und Lwiw oder Berlin und Kiew erkennen.

Aber es gibt eine andere, eine real existierende Grenze, zu der der innere Weltreisende in mir seine Bemerkungen machen möchte. Diese verläuft an der westlichen Staatsgrenze der Ukraine, die millimetergenau den Verlauf der alten Grenze der UdSSR wiederholt und damit das Sein teilt in Europa und etwas anderes. In den letzten zehn Jahren habe ich eine beträchtliche Erfahrung des Grenzüberschreitens in beide Richtungen, hin und zurück, erworben. Ungeachtet der identischen meteorologischen und klimatischen Bedingungen auf beiden Seiten der Grenze, kann ich dennoch, wenn ich diese bei der Rückkehr aus dem Westen nach dem Osten überschreite, ein und dasselbe beobachten: Das Wetter ändert sich schlagartig, es verschlechtert sich regelmäßig, der Horizont verdunkelt sich und die Himmel entladen sich in Regen oder Schnee, im besten Fall bleibt es bei Nebel und grauer Feuchtigkeit, die den Ausblick verwehren. So als inszenierte jemand absichtlich für mich und meine zufälligen Reisegefährten ein gigantisches atmosphärisches Spektakel unter dem Titel "Die Heimat lässt grüßen!" Als würde schon an ihrer Schwelle die Prüfung im Fach Vaterlandsliebe beginnen: Halte ich auch dieses Mal durch?

 

Germaschka2. Was eigentlich trennt diese fatale postsowjetische Grenze von Europa ab? Mit anderen Worten, welche Notwendigkeit besteht für die so glänzende Europäische Union, die sich immer weiter nach Osten ausdehnt, sich von diesen verlottert-verblichenen Gebieten mit einem neuen Eisernen Vorhang abzugrenzen? Geht es vielleicht zum wievielten Male darum, das Licht von der Finsternis zu scheiden? Nur, warum ist dieses Licht im Westen und warum die Finsternis im Osten? Vielleicht geht es um unsere Probleme mit der Energieversorgung, die regelmäßigen Stromabschaltungen im Herbst und Winter, um das allabendliche Versinken unserer Städte, Kleinstädte und Dörfer in den Abgrund der Nacht? Worin also liegt der Unterschied?

Zunächst ohne Zweifel - eine andere Qualität der Straßen. Kaum dass ich die Grenze überschritten habe und in den Schoß des Vaterlandes eingefahren bin, spüre ich physisch diese Rumpelpiste, die, von tausenden Sprüngen durchzogen und ebenso oft geflickt, dennoch in einem ruinösem Zustand ist. Es wirft mich in die Höhe, und es rüttelt mich durch, der Fahrer kann kaum sechzig Stundenkilometer fahren, und jedes Schlagloch legt ein explizites Bekenntnis von der Nichtzugehörigkeit zur griechisch-römischen Zivilisation ab. Aber auch wenn man, um diesen Straßenverbindungen zu entgehen, sich der Eisenbahn anvertraut, die Grenze ist dennoch da, in der unterschiedlichen Spurbreite zwischen den russischen und den europäischen Schienensträngen. Und was soll man mit diesen Schienen machen, dem vielleicht unverwüstlichsten Erbe des Imperiums?

Aber es sind weder die Geleise noch deren breitere Spur, die in erster Linie vom faktischen ungebrochenen Bestand des Imperiums zeugen, sondern eine andere Musik und Massenkultur. Es ist diese Grenze, die jene Gebiete, wo man mit Begeisterung die sowjetischen Popschnulzen hört, von denen trennt, wo man diese verachtet. Das ist unglaublich, dass es nur zwei bis drei Kilometer weiter nach Westen braucht, und niemand hat jemals von Filip Krikorow gehört, von Alla Pugatschowa und schon gar nicht von Josif Kobson, jenem Frank Sinatra eines immer noch vereinigten postsowejetischen Raums. Geht man aber zwei bis drei Kilometer weiter nach Osten, so wachsen die erwähnten Filips, Allas und Josifs zu Superstars einer allgegenwärtigen Volkslegende, zu Fast-Familienmitgliedern, die einem viel näher und verständlicher sind als alle nationalstaatlichen Ideale und Ambitionen, die ukrainische Entscheidung für Europa mit eingeschlossen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass die UdSSR in diesem Sinne weiterbestehen wird - als gigantischer und ungeteilter Kontinent, der sechste Teil der Erdoberfläche, wo man sich für minderwertige russische Musik begeistert (nein, nicht für Tschaikowsky und Mussorgski, die hört man weiter westlich). Und daher kommt auch ein nur an diese Musik gebundener Lebensstil, kommen die Riten des Alltags mit anders geregelten zwischenmenschlichen Beziehungen und einer anderen - kollektivistischen - Ethik, mit anderen Vorstellungen von Kollegialität und anderen Getränken auf festlich gedeckten Tischen. Die Wodkazone, die schon weiter westlich beginnt, im benachbarten und an Vorzeigebeispielen reichen Polen, erreicht erst bei uns, jenseits dieser Grenze, ihre vollkommenste Ausprägung.

Die Grenze bestimmt auch die Art und Weise, wie man sich anzieht - die Pelzmützen aus Kaninchenfell, die weichen Wolltücher auf den Köpfen der Frauen, schwer und unförmig wie die sackförmigen Trainingsanzüge. Selbst die Berge an europäischen Secondhand zu Schleuderpreisen, die in den letzten fünf Jahren unsere endlos langen Straßenmärkte überschwemmten, haben vorläufig keine größeren prowestlichen Veränderungen in den Konturen der menschlichen Landschaft hervorgerufen.

Denn sie, diese Landschaft, wird durch etwas Gewichtigeres geprägt, als es das politische System des vergangenen oder auch des Jahrhunderts davor war, gewichtiger auch als das kyrillische Alphabet, diese exotisch-verlockende Fessel des echten, raffinierten Europäers, der sich seiner individuell-sprachlichen Einzigartigkeit mit dem bescheidenen Mittel diakritscher Zeichen versichern und seine eigene historisch-kulturelle Unwiederholbarkeit aus so etwas wie einem scharfen S ableiten muss. Es ist nicht die Schönheit der kyrillischen Lettern in ihrer ukrainischen Version, nicht die Mondsichel des Buchstabens ?, nicht die zartbrennende Kerze des ?, die jene Andersheit ausmachen, die jenseits der Grenze beginnt.

Nein, bei dieser Andersheit geht es um etwas Tieferes, Grundlegendes - vielleicht um eine byzantinische Mentalität, der zufolge die Wahrheit höher steht als das Gesetz; weil aber zur gleichen Zeit jeder seine eigene Wahrheit hat, steht jedem westlichen Versuch, jenseits der Grenze mindestens einen Ableger des Gesetzes einzupflanzen, das gleiche Schicksal bevor: sabotiert und ausgepfiffen zu werden. Die weitblickendsten unter den Soziopsychoanalytikern haben bereits ihre Diagnosen gestellt: Nur der Despotismus könne eine so byzantisierte Gesellschaft überhaupt regieren, keines der Modelle der westlichen Demokratie würde hier Fuß fassen können, ohne sich alsbald als sekundäre posttotalitäre Metamorphose oder, besser gesagt, Metastase zu entpuppen. Aber ich will mich damit nicht abfinden - offen gesagt, ist mir hier die Kurzsichtigkeit lieber als die Weitsichtigkeit, und ich bin nicht gewillt, meine letzten Rückzugsgebiete irgendeinem despotischen Zuchtmeister zu opfern.

Ich kann mich aber sehr wohl damit abfinden, dass es bei dieser letzten Teilung der Welt auch um die Andersheit menschlicher Gesichter geht. Und das ist mir rätselhaft - woran erkenne ich sie immer und überall, diese Menschengesichter von meiner Seite der Grenze? Woran - gleich, an welchem Ort wir uns treffen, ob in der Wiener Oper oder in einem heruntergekommenen Schuppen, unabhängig von Auftreten und Kleidung? Bei all ihrer genetischen Vielfalt und typologischen Unterschiedlichkeit - woran?

 

Germaschka3. Diese Gesichter (ukrainische? postsowjetische? ukrainisch-sowjetische?) werden im Westen immer zahlreicher. Bei jedem neuen Aufenthalt stelle ich fest, dass sie wieder mehr geworden sind. Im bürokratischen Slang heißt das Ausreise zwecks DWS (Dauerwohnsitz). Die Vorliebe für Abkürzungen, jenes unabdingbare soziolinguistische Kennzeichen des Sowjetmenschen, hat sich auch beim postsowjetischen Menschen erfolgreich behauptet. Was meiner Ansicht nach nur jene geheime Ahnung bestätigt, dass der Homo postsovieticus de facto nur eine Abart des Homo sovieticus ist, so eine Art historischer Ableger. Ich könnte noch weiter gehen und diese Vermutung auf das System im Ganzen ausdehnen: Die UdSSR bewahrt, lebt im Inneren weiter, wo sie auch weiterhin ihr Sechstel auf den Hemisphären der Gehirne einnimmt, auf der Ebene des Unterbewusstseins, bei jenen Nervenzellen, die sich, ganz im Gegensatz zur üblichen Annahme, ständig erneuern. Ja, diese Zellen erneuern sich.

Aber kommen wir zurück zur erwähnten Ausreise zwecks DWS. Diese zweifellos in den labyrinthischen Eingeweiden der sowjetisch-postsowjetischen Abteilungen für Visa und Aufenthaltsgenehmigungen (AVAG) entstandene Abkürzung birgt in sich die ersten Buchstaben von drei russischen Wörtern: postojannoe (Dauer) mesto (Wohn) schitelstwo (Sitz). Verständlich, dass in ihr ein historisches Echo aus dem zaristischen Russland mitschwingt - die Leibeigenschaft und dazu die für Polizei und Verwaltung typische Vorstellung von der Unzulässigkeit oder zumindest Unerwünschtheit jeglicher von oben nicht kontrollierter individueller räumlicher Umsetzungen.

In der Sprache der normalen Menschen könnte die Ausreise zwecks DWS vielleicht eine Ausreise für immer heißen. Und deshalb ist die Information, dass N.N. zwecks DWS in die BRD reist, in dem Sinn zu verstehen, dass dieser N.N. eine Erlaubnis zur Übersiedlung nach Deutschland erhalten hat und dass ihm deshalb diese ganze Ukraine schon scheißegal ist und er sie verlässt, so schnell er nur kann, um sich so rasch wie möglich jenseits der Grenze zu befinden, ein normaler Mensch zu werden und nach Möglichkeit niemals wieder über diese Grenze zurückzukehren.

In den edleren Zeiten der jüngeren Vergangenheit, da es um den ideologischen Kampf mit einem feindlichen System ging, hieß die Ausreise zwecks DWS ganz einfach Emigration. Das waren seltsame Gestalten, die sich für die Emigration entschieden: dissidentische Professoren, Schriftsteller, Künstler und Theaterregisseure, politische Häftlinge, die man unter dem Druck von Amnesty International freigelassen hatte. Sie waren entschlossen wie Camus' Deserteur im Krieg. Das System verstand sich darauf, moralischen Druck auszuüben, und hatte dabei sofort die stereotypen Beschuldigungen von Abweichung und Verrat zur Hand: Jeder Emigrant wurde auf diese oder jene Weise öffentlich und lautstark gebrandmarkt und der Verachtung durch die Gesellschaft ausgesetzt. Die Vertreter der Emigration verkörperten vorwiegend den hinlänglich hartnäckigen und überzeugten Typ des Homo antisovieticus. Ihre Wahl war zweifellos eine "Grenz-Wahl", die Andersheit erforderte, eine andere Art, zu denken und zu empfinden.

Der Typ von Menschen, die heute Ausreise zwecks DWS betreiben, ist ein völlig anderer. Er tendiert nicht zur Andersheit, sondern zur typologischen Gleichheit. Er besteht primär in jenem absoluten Homo sovieticus, der es trotz allem nicht geschafft hat, sich einen Platz in den Überresten eines nur scheinbar zerstörten Systems zu erobern, der ohnehin ephemerische Begriff "Vaterland" hat für ihn endgültig jeden Sinn verloren, er stürzt besinnungslos dorthin, wo das Angebot in den Läden am größten ist. Ich möchte mir erlauben, diesen Menschen den Woolworth-Menschen zu nennen. Diese Bezeichnung ist allerdings völlig zufällig, statt Woolworth könnte es auch ein Aldi sein. Es sind Menschen, getrieben von der unbewussten Sehnsucht nach dem - auf ihrer Seite - verlorenen Sozialismus. Supermärkte vom Typ Woolworth entsprechen völlig dem sozialistischen Modell des ausgleichenden Wohlstands - mit einer nicht allzu großen Auswahl und einer nicht allerbesten Qualität der angebotenen Waren, zugleich aber, und das ist entscheidende, mit nicht sehr hohen Preisen und, wie man sagen könnte, einer äußerst egalitären Form des Angebots

Sozialismus ist, wenn man von oben versorgt wird. Das ist die Sozialhilfe (im Jargon der DWS-Leute das "Sozial"), mit der man ganz locker wohnen kann am neuen Wohnort, in der mit Woolworths der ewigen Seligkeit überfüllten Germaschka. DWS-Menschen, die seit Generationen schon an ein ständiges Warendefizit gewöhnt waren, brauchen auch nicht mehr - das Ziel ist erreicht, der Himmel auf Erden erobert und, wie bei ihnen im Spaß sagt, das Leben geglückt.

Ich erinnere mich an eine Sendung aus einem deutschen Fernsehprogramm, die ich vor zehn Jahren sah, als ich zum ersten Mal in meinem Leben die Gebiete jenseits der Grenze besuchte. In der Sendung kam ein Flüchtling aus der Ukraine vor, ein junger Mann von höchstens dreißig Jahren; er machte ein trauriges Gesicht und erzählte mit weinerlicher Stimme, dass er von dort geflohen sei, wo nach dem Zusammenbruch der UdSSR eine totale Katastrophe herrsche und ein Bürgerkrieg in der Luft liege; all das wurde in russischer Sprache vorgebracht, wobei der unsichtbare Übersetzer aus mir unverständlichen Gründen bemüht war, die apokalyptischen Befürchtungen des Erzählers deutlich zu verstärken; in der Vorstellung der Zuschauer musste das Bild eines Schlachtfeldes entstehen, mit unbeerdigten, von verwilderten Hunden zerfleischten menschlichen Leichen im Vordergrund; zu guter Letzt erklärte Bursche, dass er schon Deutsch lerne und dass er der deutschen Regierung unendlich dankbar sei usw., denn dort, woher er geflohen sei, gäbe es kein Lebensmittel. Wahrscheinlich, war das eine der ersten deutschen Wörter, die er erlernt hat - Lebensmittel, das wiederholte er wohl zehn Mal, wie eine Beschwörung (hier viel Lebensmittel, dort kein Lebensmittel), wie ein Gebet, eine Art Woolworth-Mantra, na ja, verständlich, es ging um Religion, um die besondere Religion der Sowjetmenschen und ihren höchsten Gott, dessen Name ist zum Beispiel: Lebensmittel.

Germaschka4. Man könnte sagen, die Länder der Welt lassen sich einteilen in solche, aus denen die Leute weggehen, und in solche, in die sie gehen. Deutschland gehört zweifellos zu den letzteren. Ich lebe in einem Land, das man zu den Ländern des ersten Typs rechnen könnte. Aus diesem Land geht man weg, vorübergehend und für immer.

Die Ukrainer migrieren, und es gibt allen Grund anzunehmen, dass es sich dabei um eine Massenmigration handelt. Es gibt keine offizielle Statistik, denn diese Migration ist zu 90 % nicht legal. Nach der nicht offiziellen Statistik sind allein in Portugal an die 300 000 Ukrainer, ebenso viele in Griechenland und in Italien fast eine Million. Die Ukrainer wandern aus und verstellen sich, um nicht von der Polizei aufgegriffen, verhaftet und deportiert zu werden. Ungeachtet des beträchtlichen Risikos, in der Sklaverei, im Gefängnis oder im Bordell zu landen, migrieren sie auch weiterhin.

Schon seit einigen Jahren stelle ich mir immer wieder die gleichen Fragen: Was soll der Schriftsteller machen in einem Land, das man verlässt? Hier bleiben und alles ignorieren oder so tun, als wüsste er nichts davon? Sich ins eigene Innere zurückziehen und diese Flucht stolz als "Verbannung" bezeichnen? Welche Form der Niederlage wäre weniger schmerzlich? Welche käme einem Sieg gleich?

Vor einigen Tagen stieß ich auf einen Artikel der englischen Zeitschrift Economist, in dem das Land, in dem ich lebe, vielleicht zum ersten Mal seit seiner Unabhängigkeit vor zehn Jahren, als ein "bedauernswertes" Land bezeichnet wurde. Das Wort ist gefallen: "bedauernswert". Ich kann mich nicht dagegen wehren, höchstens nach einer Geschichte suchen, die diesem Thema entspricht. Wie zum Beispiel die folgende.

Mein Freund, zwölf Jahre jünger als ich, lebt in Prag. Er stammt aus der ukrainischen Emigration der zwanziger Jahre, gehört also schon zur dritten Generation ehemaliger Emigranten und hat - wie alle solchen Nachkommen - Schwierigkeiten in der Identitätsfindung. Einerseits ist er den Versuchungen der Assimilation ausgesetzt, ein normaler Tscheche zu werden und aus dem Ghetto der Familientradition auszubrechen, andererseits lockt die Treue zu diesem Ghetto und seinem Erbe, die Idee einer unverfälschten ukrainischen Identität zu bewahren. Hinzu kommt, dass mein Freund auch Dichter ist, die Frage der eigenen Identität also eine alles andere als leere Sache für ihn ist: Es geht schließlich um die Sprache, in der er seine Liebeserklärung an die Welt formuliert.

Mein Freund liebt die Frauen außerordentlich (ich drücke ihm - aus der Entfernung - brüderlich die Hand) und ist ständig verliebt. Und jede seiner neuen Leidenschaften fragt bei der erstbesten Gelegenheit, warum er einen so seltsamen Vornamen hatte. Sie wissen nicht, dass er nach dem größten ukrainischen Dichter des 19. Jahrhunderts benannt wurde - für unseren patriotischen Intellektuellen der geistige Vater des Volkes. Seit einigen Jahren hat mein Freund es aufgegeben, eine ehrliche Antwort auf die unschuldige Frage seiner Liebsten zu geben. Er hat dafür seine Gründe. Denn einmal kam ein Mädchen, das er nach einer Woche schon für den wichtigsten Menschen auf Erden hielt, zu spät zum Rendezvous. Sie erklärte ihre Verspätung damit, dass sie, kaum aus dem Haus getreten, von einem vorbeifahren Auto mit Regenwasser von Kopf bis Fuß nass gespritzt worden sei. "Stell dir vor", sagte sie und hatte zur Verdeutlichung einen Vergleich gefunden, "ich war schmutzig wie eine Ukrainerin!" Für meinen mit einem so großen Namen beschenkten Freund wurde aus diesem Vorfall eine intime Katastrophe. Er trennte sich von dem Mädchen.

Mir gefällt die Stadt, in der er lebt - Prag, diese Quintessenz aller möglichen Mysterien und Chimären, aller möglichen Verflechtungen von Geheimnissen und Liebschaften, jene Alchemie von großen und kleinen Gesten, eine von den wenigen Städten auf der Landkarte des Theatrum mundi, wo das Reale und das Surreale, das Physische und das Metaphysische eine unzentrennbare Einheit bilden. Aber es gibt noch ein anderes Prag, das ich auf meinen nächtlichen Streifzügen kennen lernte, das Prag der ukrainischen Billigarbeitskräfte, meine Landsleute, die in dieser Stadt legal oder illegal zu Zehntausenden leben und die ich betrunken und schlecht gekleidet in irgendwelchen Winkeln und Ecken antreffe. Für einen lächerlich geringen Lohn verrichten sie die härteste und schmutzigste Arbeit in dieser Stadt, in der sie verenden und dem Suff verfallen oder wie räudige Hunde jederzeit und ohne Grund vom erstbesten Capo der Mafia, der sie "vermittelt" hat, verprügelt werden.

Das Mädchen meines Prager Freundes hatte Recht: Hinausgedrängt aus einer menschlichen und menschenwürdigen Existenz, sind sie wirklich schmutzig. Nichts ist daran neu - wir haben es mit einer neuen Einwanderung von Proletariern nach Europa zu tun, und die Schuld daran kann man wohl nur einem wilden Kapitalismus geben.

Für jemandem wie mich, der immer noch in einem Land lebt und schreibt, aus dem die anderen weglaufen, bedeutet es das Ende einer Illusion, die ich wie eine in mir schlummernde Krankheit mit mir herumgeschleppt habe.

 

Germaschka5. Das Recht auf Illusionen gehört wohl zu den menschlichen Grundrechten. Objektiv - und da bricht in mir der hausbackene Metaphysiker durch - hat die Illusion in jenen Sphären ihren Sitz, wo auch die Hoffnung angesiedelt ist. Meine persönliche Illusion bleibt, wenngleich durchgerüttelt und durchgeschüttelt, bis heute für mich gültig, auch weil sie mich nach Westen schauen lässt, dorthin, wo über die Grenze die Sonne untergeht. "Europa - das ist ..." will ich immer wieder mit Worten sagen, die mich schwindeln machen - und dabei passieren mir immer wieder die gröbsten Fehler.

Es ist gerade zehn Jahre her, seit ich mich zum ersten Mal in meinem "Europa, das ist ..." befand. Meine Illusion war also damals um zehn Jahr größer und jünger, sodass Sätze sich von selbst schrieben, die ich heute mit einer Mischung aus Scham und Vergnügen lese, wie zum Beispiel."Den europäischen Menschen hat das Erbe geformt. Du kommst hier auf die Welt inmitten von Türmen und Gärten, die viele Jahrhunderte gesehen haben. Wenn diese Architektur auch der Landschaft abgeguckt ist, so sind doch alle ihre Schöpfer namentlich bekannt. Das ist der Sieg über die vanitas vanitatum, diese Koordinaten der Konstanz und des Fortschritts markieren bestimmte absolute Werte, zu denen auch der Wert der besonderen, einmaligen und unverwechselbaren Persönlichkeit des Menschen gehört."

Solche Lobeshymnen auf Europa habe ich vor zehn Jahren gesungen! Als ich damals das erste Mal im Westen war, glaubte ich, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein. Unsere ukrainische Unabhängigkeit war gerade zwei Monate alt, es war Januar und es gab keinen Schnee, der junge Staat lag in Schmutz und Dunkelheit, der elektrische Strom wurde zwischen sechs und neun Uhr abends abgeschaltet, Kerzen und Streichhölzer verteuerten sich rapide, die Inflation galoppierte, man musste das Geld so rasch wie möglich ausgeben, zumindest in Alkohol umsetzen, aber Wodka gab es nur auf Karte, dazu die Kälte in den ungeheizten Wohnungen, Engpässe mit der Wasserversorgung, und obendrein - dieser Heuler im Fernsehen hatte doch Recht! - kein Lebensmittel.

Und nach einem zweistündigen Flug bist du, Simpel, naives Kind des Ostens, in einer Welt, wo alles anders ist: eine Villa, ein Park, Kronleuchter und Kerzen, Jugendstilöfen, Kirschholzmöbel, Türklinken und -schlösser, Stille, heißes Wasser, Glühwein und aus dem Fenster kann man die Alpen sehen Dazu die Verlockung von Reisen und Abenteuer, Zügen und Autobahnen, Gebirgspässen und tausendjährigen Mauern, Bäumen und Türmen - alles, was nur in meinem hypothetischen "Europa, das ist ..." vorkam, war da. Wie sollte einem da nicht die Idee kommen, dass "den europäischen Menschen die Berge und Wälder geformt haben" und dass "das Sein nach Formvollendung verlangt"?

Ich war verliebt.

Wer kann mir sagen, warum heute, genau zehn Jahre später, da ich zufällig wiederum dieselbe Einladung in diese Villa im Park erhalten habe, mir das alles so entglitten und in meinen Augen verblasst ist? Woher kommt diese idiotische Einöde der Vorstadt, woher die Müllhalden? Woher diese Sowjetisierung des Raumes? Warum erinnert dieses Deutschland immer mehr an die Germaschka? Warum ist es zehn Jahre später um so viel weiter nach Osten gerutscht? Warum hat es seinen westlichen Glanz verloren, ohne von der Wärme des Ostens dazugewonnen zu haben? Wo ist es also geblieben? Ist meine Illusion um zehn Jahre kleiner und älter geworden? Hat die ukrainische Landschaft in diesem Jahrzehnt solche Fortschritte gemacht, dass mich die deutsche nicht mehr begeistern kann? Das scheint mir wenig glaubhaft.

 

Germaschka6. Vor kurzem hat sich in einem kalifornischen Gefängnis der siebenundzwanzigjährige ukrainische Emigrant Mykola Soltys erhängt. Er hatte im Jahr zuvor ganz Amerika erschauern lassen - nachdem er mit einem Messer sechs Menschen getötet hatte, alle aus der Immigranten-Gemeinde, alle aus seinem Kreis, unter ihnen auch seine schwangere Frau und sein dreijähriger Sohn. Die besttrainierte Polizei der Welt, die amerikanische, konnte ihn zehn Tage lang nicht fassen, die ukrainisch-russische Gemeinde von Sacramento mied jede Zusammenarbeit, ihre Abgeschlossenheit und Isolation, gepaart mit völliger Unkenntnis des Englischen, machte es unmöglich, Näheres über den Täter in Erfahrung zu bringen. Für einige Zeit befand sich Mykola Soltys auf der von Osama bin Laden angeführten Liste der zehn gefährlichsten Verbrecher der Welt (oder auch der Feinde Amerikas, gibt es da überhaupt einen Unterschied?), und sein Bild mit den üblichen Attributen des WANTED hing an allen amerikanischen Straßenkreuzungen. Aber die aus Hollywood-Filmen gut bekannten Superdedektive stöberten ihn schließlich doch auf - im Haus seiner Mutter. Bei der Verhaftung leistete er keinen Widertand. In einem Monat sollte die Gerichtsverhandlung beginnen. Aber er entzog sich diesem Prozess, indem er sich das Leben nahm.

Was hätte er gewollt? Was hätte er von diesem Amerika gebraucht? Von der Welt? Vom Sein?

Warum verlässt ein Mensch sein Land?

Der Fall Soltys ist ein besonderer Fall, und mein Freund übertreibt gewaltig, wenn er die ganze postsowjetische Emigration heute als die "Soltys-Emigration" bezeichnet. Mein Freund ist Schriftsteller und damit ein Recht auf Übertreibung.

Ich sehe das übrigens ähnlich: mentale Unbestimmtheit, eine Fremdheit der ganzen Welt gegenüber, ein im tiefsten Inneren verborgenes Trauma. Eines Tages hat man ein Messer in der Hand, und schon gibt es kein Zurück.

 

Germaschka7. Im Autobus, mit dem ich am 2. November 2001 von Lwiw nach München fuhr, befanden sich fast siebzig Personen, er war voll bis auf den letzten Platz. Im Bus, mit dem ich am 30. Januar 2002 von München nach Lwiw zurückfuhr, waren sieben Personen, genau zehnmal weniger. Vielleicht ist das ein Zufall, vielleicht aber auch eine Gesetzmäßigkeit. Eher trifft das Zweite zu: Man fährt dorthin, aber man kommt von dort nicht mehr zurück.

Niemand hat das Recht, anderen die Suche nach einem besseren Leben zu verbieten, auch nicht der Schriftsteller. Die Migration, mit anderen Worten die Ausreise zwecks DWS, ist die Suche nach einem besseren Leben, unbestritten. Weshalb also machen mich all diese Menschen so gereizt? Woher kommt dieser zwanghafte Drang, sie nicht zwecks DWS in mein "Europa, das ist ..." ausreisen zu lassen? Zu den Gärten am Hang unter der Burg, zu den Bögen und Türmen, zu tausendjährigen Bäumen und Mauern, und vor allem - zu den Ketten der Alpen am Horizont hinter dem Fenster? Doch all das gibt es nur noch in meiner persönlichen Illusion, ordentlich durchgeschüttelt und immer wieder korrigiert, die nur noch irgendwo in mir, in meinem Innersten, existiert. Denn ich Wirklichkeit ist Europa ein sozialistisches Woolworth geworden, wo jeder nehmen kann, ohne irgendetwas dafür geben zu müssen.

Ja, daran liegt es wohl, mich ärgert nicht, dass sie ein besseres Leben suchen, sondern dass dieses bessere Leben für sie voll und ganz in den Dimensionen von Woolworth aufgeht. Mich ärgert, dass sie in der Tat von der Welt nur so bedauernswert wenig wollen: die Sozialhilfe. Dass sie sich vom Sein lediglich einen gebrauchten AUDI oder BMW erträumen. Dass sie von Deutschland die Germaschka wollen.


Ich sitze unter ihnen im Autobus, ein absurder Spion fast, der unfreiwillig ihre Gespräche anhört und schon durch seinen ausgeprägten Kommunikationsunwillen Verdacht erweckt. Irgendwie ist er keiner von uns. Vielleicht hat ihn der polnische Zoll eingeschleust? Die Interpol? Die Abwehr?

Der Bus ist ein exterritoraler Raum, deshalb geben sie sich wie zu Hause. Ich will nichts Schlechtes sagen: Sie sind immer noch echte Kollektivisten, teilen das Essen, den Alkohol und die Zigaretten, schauen sich die neuesten russischen Gangsterfilme, wo tapfere Moskauer Banditen in den Straßen von Chicago ukrainische Nationalisten und schwarze Untermenschen abschlachten ... 

Dann essen sie wieder, trinken und stellen Überlegungen an, dann essen sie noch einmal und tauschen Ratschläge aus, wie man zum Beispiel die nicht mehr fernen deutschen Beamten um den Finger wickeln kann, in ihrem Gesprächen tauchen, je näher man dem Grenzübergang in Görlitz kommt, immer mehr entstellte Germanismen auf (Wonchajm sagen sie und Fersischerung, und natürlich Finanzamp), denen man aber auch entnehmen kann, dass es keinen Sinn macht, diese Faschistensprache überhaupt zu lernen - sie werden ohnehin im russischen Rayon wohnen.

Dann ist die Zeit gekommen für weltanschauliche Verallgemeinerungen, wie zum Beispiel derart: Die Deutschen leben deshalb so gut, weil sie gut arbeiten; aber andererseits, wenn wir solche Löhne hätten, würden wir auch gut arbeiten. Eine solche Entdeckung folgt auf die andere, etwa: Die Deutschen sind aber wirklich ein kultiviertes Volk, oder: Verbohrt sind sie,diese Deutschen und Humor haben sie überhaupt keinen. Was soll man da machen, die Sowjetmenschen haben bis heute ein ausgeprägtes Gefühl für Xenophobie und Internationalismus zugleich.

Dann ist die Zeit für jene Witze gekommen, die sich vorwiegend um weibliche Geschlechtsorgane drehen. Ich kann daran nichts Witziges finden, ich bin wohl auch verbohrt und habe keinen Humor. Macht nichts, denke ich mir, noch sieben bis acht Stunden durchhalten und ich bin euch los für ganze drei Monate! Irrtum: Immer wieder werde ich während meines Aufenthalts diesen bekannten Gesichtern begegnen und auf Schritt und Tritt so viel russische Sprache hören, dass die hiesige, faschistische, in der Tat geradezu entbehrlich scheint.

Alles geht seinen gewohnten Gang: Erfahrene Personen mit DWS erklären den Neuankömmlingen von oben herab die Spielregeln in Deutschland, verschreckte Pensionisten (sind sie gekommen, um hier zu sterben?) sind bereit, jeden Unsinn zu glauben, aufgeregte illegale Billigarbeiter, deren Weg über München nach Italien führt, fangen schon mal an, ihre an den intimsten Stellen versteckten grünen Dollarnoten zu zählen, und von Zeit zu Zeit dringen Namen an mein Ohr, die für mich eine völlig andere, ja diametral entgegengesetzte Konnotation haben: Florenz, Ravenna, Neapel ...

Vor der letzten Grenze hält man uns an. Weiter vorn ist das echte Europa, Europa-1, also das Beste, was es in Europa gibt - die Zone des Schengener Abkommens, so gut wie ohne Grenzen, eine Chimäre, die wirklich geworden ist, die Reisefreiheit.

Unsere Pässe werden von Polen eingesammelt, zurückgegeben werden sie uns schon von den Deutschen. Wir müssen aus den Bus aussteigen und an einem bestimmten Punkt mehr als eine Stunde warten. Einige der Pensionisten schauen angstvoll in Richtung der deutschen Polizisten, weniger auf diese selbst als auf ihre Schäferhunde. Das ruft bei manchem Erinnerungen wach. Das menschliche Denken ist eben assoziativ.

Dann taucht eine große rothaarige Polizistin mit unseren Pässen auf. Sie bezieht an der Tür des Busses Stellung und befiehlt dem Fahrer, uns namentlich aufzurufen, in der Reihenfolge, in der die Pässe gestapelt sind. Unsere Familiennamen sind ukrainisch, russisch und teilweise auch jüdisch gefärbt. In den Bus steigen wir in ebendieser Reihenfolge ein, einer nach dem anderen, nachdem wir ein diszipliniertes "?" (oder vielleicht schon "ja"!) gerufen und aus den resoluten Händen der ebenso großen wie wachsamen Brünhilde unseren persönlichen Passierschein in die Welt von Woolworth erhalten haben. 

Das Tor nach Germanien öffnet sich mit langsamen Knarren, Trompeten spielen, der bis auf den letzten Platz besetzte Bus fährt an.


Aus dem Ukrainischen von Alois Woldan, Professor für Ost-Mitteleuropa-Studien an der Universität Passau
Erschienen in Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa, 6 .....2002


Juri Andruchowytsch© Juri Andruchowytsch, 1960 in Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk, Ukraine) geboren, gehört zu den bekanntesten Autoren der literarischen Generation der "Achtziger". 1985 gründete er zusammen mit Oleksander Irwanets und Viktor Neborak, die heute schon legendäre literarische Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu. 


Juri Andruchowytsch wurde mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter 2001 mit dem Herder-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung, mit dem kulturelle Leistungen in Osteuropa gewürdigt werden. 2005 erhielt Juri Andruchowytsch den Sonderpreis zum Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück und war Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. 2006 bekam er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Bücher, die ins Deutsche übersetzt wurden: Engel und Dämonen der Peripherie, Geheimnis, Das letzte Territorium, Mein Europa, Moscoviada, Zwölf Ringe, Perversion, Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, Kleines Lexikon intimer Städte. 

Lyrik: Gedichte auf Zeitzug
Offener Brief: Euromaidan - Ukraine
 

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