Kontraste - Zwei Reisen

Barbara Hofer-Kröner

Kontraste Zwei Reisen

 

 
Ich will sie nicht antreten, diese Reise, weiss aber, dass ich es tun muss. Ich werde in den Zug steigen und werde am Zielort handeln. Mein Kopf weiss, dass ich das Richtige tue. Mein Gefühl sträubt sich heftig, fleht mich geradezu an: Alles, nur das nicht!

Eine Wahl habe ich nicht, also packe ich widerwillig den Koffer und mache mich auf den Weg. Acht Stunden dauert die Reise, acht lange Stunden Zeit. Lesen will nicht gelingen und so schaue ich aus dem Fenster. Tue dies teilnahmslos. Die vorbeiziehende Landschaft vermag mich an diesem Tag nicht zu berühren. Die Gedanken so unruhig, so nutzlos.

Ich habe einen jener Plätze belegt, der es ermöglicht, gleich neben dem Koffer zu sitzen. Ich schaue den Koffer an und Erinnerungen stellen sich ein. Es sind schöne Erinnerungen, aber jetzt schmerzen sie. Worte wie unaufhaltsam, unwiederbringlich brennen sich in die Gedanken ein, treiben ihr Spiel mit mir. Mit jedem Kilometer, den der Zug rollt, wird mir die Bedeutung des erforderlichen Handelns bewusster.

Es fühlt sich anders an, als ich es mir vorstellte, denke ich bitter. Seit Monaten setze ich mich auseinander, weiss, was kommt, weiss , dass wir eine sinnvolle Entscheidung getroffen haben, meinte vorbereitet zu sein. Doch jetzt, in diesem Zug?

Wieder schaue ich den Koffer an. Es ist ein alter Koffer und ich versuche dankbar auf ihn zu schauen. Dankbar für die Erinnerungen, auch wenn sie mich jetzt traurig stimmen, weil sie mich den Sinn der Worte ‚vergangen‘ und ‚vorbei‘ so deutlich spüren lassen.

Es streitet in mir und ich vermag den Streit nicht zu schlichten, fühle mich ihm ausgeliefert.

Es kostet mich Kraft, die Fahrkarte dem Kontrolleur zu reichen, statt dem Impuls zu folgen, sie zu zerreissen - ein plötzliches Verlangen, das mir meine eigene Zerrissenheit vor Augen führt.

Will nicht angesprochen werden, will nicht reden. Ich nehme eine Zeitung zur Hand, versenke den Blick planlos in Seiten, die ich nicht wahrnehme, blättere, ohne es zu merken.

Ich schaue dem ersten Umsteigen entgegen. Hoffe, dass es mich ablenken wird.

Viele Reisen wird er nicht mehr unternehmen, der Koffer. Die Rollen leisten ihren Dienst nicht mehr so, wie sie sollten.

Ich hetze über die Bahnsteige, erreiche meinen Zug und versuche mein Gepäck ins Gepäcknetz zu wuchten. Und schaffe das nicht. Es ist kein grosser Koffer und ich habe, weil widerwillig, auch nur wenig hineingepackt. So kraftlos? Zweifel an mir gesellen sich zum inneren Streit.

Eine Frau hilft mir. Sie schaut mir dabei einen Moment in die Augen und ich frage mich, ob mir ins Gesicht geschrieben steht, was sie für mich ist, diese Reise.

Ich bin froh, dass der Koffer nun im Gepäcknetz ruht. Und schaue ihn nicht mehr an.

Der Zug ist jetzt deutlich voller, Menschen rücken in eine räumliche Nähe zu mir, die ich fast nicht ertrage. Einen mir nahestehenden Menschen hätte ich gerne an meiner Seite. Nicht aber wildfremde Reisende. Ich entziehe mich ihnen - wieder der Blick aus dem Fenster ohne zu sehen.

Gesprächsfetzen - ich höre weg.

Noch einmal umsteigen. Eine hastig, nur zur Hälfte gerauchte Zigarette auf dem Bahnsteig, dann fährt mein Anschlusszug ein.

In diesem Zug entdecke ich einen Patz, der für mich gemacht zu sein scheint. Ich stelle den Koffer in ein Kofferfach und nehme hinter einer Trennwand auf einem sehr schmalen Sitz Platz. So kann mich der Koffer nicht anschauen und ich behalte auch einen angenehmen Abstand zu den Mitreisenden, unter denen sich nun ein paar kontaktfreudige und mitteilsame befinden. Es wird philosophiert: Die neue deutsche Zweiklassengesellschaft erörtert am Beispiel der Bahn-Card. Ich weiss nicht, was eine Bahn-Card ist.

Mit jeder Minute, die verstreicht, wird, der Streit in mir lauter, die Zweifel wachsen, gegen jedes bessere Wissen. Den Blick nach innen gerichtet, empfinde ich die Zeit als einen grausamen Begleiter. Sie scheint nur langsam zu verstreichen, meinen inneren Streit nährend und schreitet doch zugleich so unbeugsam voran, dass ich gewiss sein kann, dass meine Ankunft am Zielort gnadenlos näher rückt.

Irgendwann fuchtelt eine Frau mit einer Karte vor meiner Nase herum. Ich verstehe zunächst nicht, was sie von mir will. Sie will, stellt sich heraus, den Platz, auf dem ich sitze. Ihre Bahn-Card berechtigt sie dazu. Die Mitreisenden ereifern sich, weil sie den gegenüberliegenden, freien Platz ignoriert und sehr ungeduldig, ja unhöflich auftritt.

Mühsam erhebe ich mich und merke, dass meine Beine ihren Dienst - vergleichbar den Kofferrollen - nicht so leisten, wie sie sollten.

Man streitet sich nun lebhaft. Zweiklassengesellschafts-Bahn-Card-Philosophie. Obschon ich seit Stunden nicht einen Satz sprach, werde auch ich mit ein paar Worten bedacht, schweige dazu.

Ich schaue zum ersten Mal seit meiner Abreise auf die Uhr. Einmal umsteigen noch, keine zwei Stunden mehr und ich werde ankommen, kann nicht mehr zurück, werde tun, was zu tun ist und mir doch so sehr widerstrebt.

Ich will die Tränen nicht, die nun kommen wollen. Sie lassen sich nicht aufhalten und so drehe ich den Kopf beiseite, versuche sie zu verbergen, was mir nicht gelingt. Sie werden falsch interpretiert, diese Tränen und augenblicklich herrscht betroffenes Schweigen.

Ein letztes Mal umsteigen. Ein Mann, der meinetwegen zum Bahn-Card-Streitenden wurde, schaut mich an und wünscht mir „Alles Gute“. Aufrichtig.

Zwei Stunden später steige ich aus dem Zug, entdecke im Gewirr der Reisenden meinen Bruder erst nach einer Weile. Wir begrüssen uns traurig, fühlen und denken gleich, werden unsere schwer an Demenz erkrankte Mutter in ein Heim bringen.

Unendlich verloren, sagt er mir später, hast Du ausgesehen, Du mit dem Koffer auf dem Bahnsteig.

Schon vor Tagen habe ich Kleider, passende Schuhe und Accessoires ausgesucht, gerichtet und packe sie nun sorgfältig in meinen Koffer. Alles ist wohl vorbereitet und ich stehe frühzeitig am Bahnhof. Ich freue mich auf das Gipfeli, das ich als Wegzehrung eingepackt habe.

Sonnenbeschienene Landschaft zieht an mir vorbei und ich staune, dass ich immer wieder Neues entdecke, obschon ich die Strecke häufig bereise.

Häuser entlang der Bahnstrecke. Aussichten auf Plätze, die zeigen, wie Menschen leben, sich einrichten, gestalten. So vielfältig.

Ein kleiner Junge auf dem Sitz mir gegenüber schaut mich an, lächelt scheu. Meine Wegzehrung kommt mir kurz darauf in den Sinn und ich packe sie aus. Der Blick des Jungens entgeht mir nicht, ich muss schmunzeln. Wir teilen. Grosszügig bietet er mir später Bonbons an. Sie sind recht klebrig und süss, aber auf dieser Reise schmecken sie mir trotzdem.

Später, am Flughafen, entdecke ich eine Kaffeebar. Ein Kaffee und dazu eine Zigarette, ein Genuss, auf den ich mich freue. In dieser Kaffeebar ist Rauchen noch erlaubt. Man muss sich dazu nur an einen der hinteren Tische setzen, was ich auch tue. Den Koffer lasse ich an der Theke stehen, nehme Platz und schaue mir die Reisenden jenseits einer grossen Glasscheibe an.

Manche gehetzt, manche ein wenig ängstlich, andere routiniert, einige in glänzender Reiselaune, so will es mir scheinen. Zum Kaffee wird reichlich Wasser serviert. Ich trinke beides und geniesse meinen kleinen Aufenthalt.

Dann stelle ich fest, dass es sinnvoll wäre, vor dem Flug noch einen stillen Ort aufzusuchen. Den Koffer nehme ich nicht mit. Es ist immer noch der selbe, alte, leicht lädierte. Den wird sicher niemand klauen, denke ich noch.

Gehorsam folge ich den Wegweisern, die statt eines kurzen Weges eher einen Rundgang durch das weitläufige Gebäude anbieten. Nun, ich habe es nicht eilig. Schlendere später gemütlich zur Kaffeebar zurück. Dort herrscht helle Aufregung. Vom Fund eines herrenlosen Koffers berichten mir Umherstehende.

Erst, als ich Uniformierte herbeieilen sehe, schwant mir, wem der ‚herrenlose‘ Koffer gehören könnte. Die Sache ist schnell geklärt und man bekräftigt mir von ganz unterschiedlichen Seiten, dass man bei mir nun wirklich keinen terroristischen Hintergrund vermute. Man bringt allseits grosses Verständnis auf, dass ich diesen Koffer, mit seinen nunmehr nahezu untauglichen Rollen, nicht quer durch das Gebäude wuchten wollte. Kaffeebarbesitzer, Sicherheitsleute, Reisende, Neugierige und ich, wir lachen schliesslich gemeinsam über diesen kleinen Zwischenfall. Versehen mit vielen, guten Ratschlägen zum Kaufe eines neuen Koffers begebe ich mich, begleitet von guten Wünschen für die Reise, zum Check-in.

Im Duty-free-Shop stöbere ich nach Herzenslust, finde sinnvolle, hübsche Geschenke, Mitbringsel und ein Parfüm für mich. Es sind kleine, bescheidene Einkäufe, die ich da getätigt habe. Ich betrachte sie zufrieden. Sie bereiten mir Freude.

Ich bin früh dran und nutze die Zeit, bis mein Flug aufgerufen wird, um mir die Mitreisenden ein wenig anzuschauen. Männer, Frauen, junge, ältere, muntere, müde und solche, die während der Wartezeit schlafen.

Ich denke mir kleine Geschichten zu den Reisenden aus. Am Ende dieser Betrachtungen stehen einige kunterbunte Reisegeschichten, grundverschiedene. So verschieden, wie die Menschen, die mich gerade umgeben. Rund um die Welt lasse ich sie reisen. In Flugzeugen, Zügen, mit Schiffen und Bussen. Stelle mir die Inhalte der Koffer vor, die Beweggründe für die Reisen, erblicke die Landschaften und finde zunehmend Freude an diesem Spiel. Ich lasse meine Reisenden auf andere Menschen treffen, ausgefallene Speisen geniessen, lasse sie unbekannte Kulturen entdecken.

Eine Frau, die in ihrem strengen, grauen Kostüm und den ganz sicher unbequemen Pumps ein wenig freudlos wirkt, lasse ich barfuss durch das Wattenmeer laufen. Ich kann das Meer riechen. Ihre Haare, sie sind nicht mehr mit Haarspray fixiert, sondern der Wind spielt mit ihnen. Die Frau schaut mir in die Augen und lächelt.

Einen Mann, der sichtlich verärgert in seinen Unterlagen blättert, lasse ich zu einem stillen Bergsee wandern. Er dankt es mir, indem er meine Handtasche aufhebt die zu Boden gefallen ist. Die leichten Zornesfalten, die seine Gesichtszüge eben noch prägten, sind verschwunden. Als ich nun auch noch meine Jacke ein wenig ungeschickt greife, so dass Kleingeld und Lippenstift herausfallen, da lacht er und hebt dies ebenfalls auf.

Ich frage mich auch diesmal, ob mir ins Gesicht geschrieben steht, was sie für mich ist, diese Reise.

Mein Blick fällt auf einen älteren Herrn, dessen Äusseres zu betont korrekt wirkt, wie es mir scheinen will. Der Blick spricht eine andere Sprache. Sehnsucht meine ich darin erahnen zu können. Und so lasse ich ihn zum Urwaldfischen nach Amazonien reisen.

Die Wartezeit vergeht sehr schnell und ich finde mich in einem bequemen Sitz wieder, schaue aus dem Fenster und verfolge gebannt, wie sich die Landschaft beim Abheben der Maschine verändert. Blick auf schneebedeckte Berge am Horizont. An Märchenschlösser erinnernde Wolkengebilde, reinweiss und zauberhaft auch.

Die Frau, die neben mir sitzt, sucht ihren Ring. Ich entdecke ihn und wir kommen ins Gespräch. Sie erweist sich als ausgesprochen angenehme Reisebegleitung. Sie bietet mir freundlich einen Apfel an, ich ihr Papiertaschentücher, denn das Obst verhält sich bei ihr, ähnlich wie der Ring, recht eigenwillig.

Mein Herz schlägt vor Freude schneller, als ich beim Landeanflug den Rhein erblicke.

Unter den Wartenden erkenne ich sofort meinen Bruder. Wir begrüssen uns herzlich, denken und fühlen gleich, dieses Mal Vorfreude. Zu einer Hochzeitsfeier sind wir eingeladen.

Er schaut auf meinen Koffer, lächelt und trägt ihn mir galant zum Wagen.

 

©Barbara Hofer-Kröner, 2010
21.1.1961 - 23.1.2022

Sommer enden, Barbara Hofer-Kröner

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