Erich A. Richter, Jahrgang 1941, in den Siebzigern Mitbegründer und Mitherausgeber des "Wespennest", in den Achtzigern erfolgreicher Lyrik- ("Friede den Männern", 1982) und Romanautor ("Die Berliner Entscheidung", 1984), danach in die Bildende Kunst abgewandert, kehrt mit "Das leere Kuvert" zurück zur Literatur. 1983 im Anschluß an eine Lesung in Zell am See ein Gespräch, dem weitere in Prag und in Wien folgten. Milena Findeis
Friede den Männern
Thallium*
Klammheimlich
stirbt der Kastanienbaum
unterm ungeteilten Himmel.
Aus dem heißen Bett
erhebt sich die Unperson,
auf der Haut Thallium
aus der nahen Zementfabrik.
Das anfassen das anfassen: das
ist die letzte Lust
in der Staublunge, das
ist die letzte Erektion
der Papillen.
Geschlechterfeindschaft*
Die Feindschaft bricht auf
so eindeutig wie alles
zwischen uns: zwischen
den blauen Heften, den unleserlichen blauen
Kinderschriften herausleckendes
Feuer, kalt machend
wie der Himmelsfrost.
Zwischen den Zeilen
die ungesagten unaussprechlichen Sätze,
die sich wiederholen,
die ungeschlachten Augenblicke,
die sich wiederholen.
Die Wiederholung
wiederholt sich.
Du gehst weg,
der Heizlüfter sind,
der Wasserhahn tropft,
ich friere in den Zehen.
Schwarzer Traum*
Endlich Ernst machen
mit der Entkolonisierung
des ausgeplünderten Dingsda,
des Bewußtseins, das im Unterholz
hockt: die Letzten
werden die Ersten
als tödliche Avantgarde sein,
sich auflehnen gegen die inneren
Grenzen, gegen die blutige
Apartheid, gegen Entsagung
und Unterwerfung, unversöhnlich
mit entschleierter Gewalt
aus den ausgehungerten Unterkünften
zu den stabilen Städten
drängen, voller Neid
auf Maschinen, Kanonen, Kondome,
Elektrizität, Benzin, Penicillin,
auf der Asphaltspur des Unterdrückers,
der plötzlich spricht
wie ein Mensch über die Würde
des Menschen, die Moral
der Geschichte, des Aufstands, sich verschanzt
auf abstrakten Ebenen,
in gerissene Selbstkritik
flüchtet. Trotzdem
träum ich weiter
meinen schwarzen Traum
* aus dem Gedichtband "Friede den Männern", Residenz Verlag
Wort-Mai 1983
Du gibst mir das Wort
den Zeigefinger an meine Wange:
unter der dampfenden Motorhaube
inmitten der tickenden zwitschernden Bäume.
Nebel vor deinem Augenweiß
Leckschweiß auf deinen Zähnen
Gelächter auf deiner Zungenmulde:
ohne Scham vor den unsichtbaren
Eltern unter der Erde.
Dein Wort ist Fleisch geworden
am Hügel der Irren
ihr Lächeln erschlägt
durchkreuzt dich als Mauer
zwischen den Herzkammern.
Ende - Version Milena Findeis
Laß das Ende
als Punkt,
der offen bleibt
für Fortsetzungen
mit Strichen
die wie Bäume
wurzeln auf Grund
ohne Punkt.
Ende - Version E.A. RichterLaß das Ende:
der Punkt ist ein Strich
der Strich ist eine Kugel
die Kugel ist ein Liebespaar
das Liebespaar ist ein Baum
der Baum ist eine Wurzel
die Wurzel ist ein Punkt:
laß das Ende.