Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit

Vilém Flusser

Gegen meine Gewohnheit und vom Thema "Heimat und Heimatlosigkeit" gelenkt und verleitet, habe ich diesmal vor, das Geheimnis meiner Heimatlosigkeit ein wenig zu lüften. Ich bin gebürtiger Prager, und meine Ahnen scheinen seit über tausend Jahren in der Goldenen Stadt gewohnt zu haben. Ich bin Jude, und der Satz "Nächstes Jahr in Jerusalem" hat mich seit meiner Kindheit begleitet. Ich war jahrzehntelang an dem Versuch, eine brasilianische Kultur aus dem Gemisch von west- und ostasiatischen und indianischen Kulturelementen zu synthetisieren, beteiligt. Ich wohne in einem provenzalischen Dorf und bin ins Gewebe dieser zeitlosen Siedlung einverleibt worden. Ich bin in der deutschen Kultur erzogen worden und beteilige mich an ihr seit einigen Jahren. Kurz, ich bin heimatlos, weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern.

Die Soziologen scheinen uns zu belehren, daß die geheimen Codes der Heimat von Fremden (zum Beispiel von Soziologen oder von Heimatlosen) erlernt werden können, da ja die Beheimateten selbst sie zu lernen hatten, was die Initationsriten bei den sogenannten Primitiven belegen. Daher könnte ein Heimatloser von Heimat zu Heimat wandern und in jede von ihnen einwandern, wenn er nur an seinem Schlüsselbund alle notwendigen Schlüssel zu diesen Heimaten mit sich trägt. Die Wirklichkeit ist anders. Die geheimen Codes der Heimaten sind nicht aus bewußten Regeln, sondern größtenteils aus unbewußten Gewohnheiten gesponnen. Was die Gewohnheit kennzeichnet, ist, daß man sich ihrer nicht bewußt ist. Um in eine Heimat einwandern zu können, muß der Heimatlose zuerst die Geheimcodes bewußt erlernen und dann wieder vergessen. Wird jedoch der Code bewußt, dann erweisen sich seine Regeln nicht als etwas Heiliges, sondern als etwas Banales. Der Einwanderer ist für den Beheimateten noch befremdender, unheimlicher als der Wanderer dort draußen, weil er das dem Beheimateten Heilige als Banales bloßlegt. Er ist hassenswert, häßlich, weil er die Schönheit der Heimat als verkitschte Hübschheit ausweist. Bei der Einwanderung entsteht daher zwischen den schönen Beheimateten und den häßlichen Heimatlosen ein polemischer Dialog, der entweder in Pogrome oder in Veränderung der Heimat oder in die Befreiung der Beheimateten aus ihren Bindungen mündet. Dafür bietet mein Engagement in Brasilien ein Beispiel.

Die Bevölkerung Brasiliens bestand bis tief ins 19. Jahrhundert aus drei einander überlagernden Schichten. Aus Portugiesen, die zum Teil aus der Heimat geflüchtet waren, zum Teil das Land für Portugal administrierten. Aus Afrikanern, die als Sklaven hergebracht wurden. Und aus Ureinwohnern, die immer weiter ins Hinterland abgeschoben wurden.

Vor der Sklavenbefreiung war zwar ständig von einer brasilianischen Heimat in Poesie und Prosa romantisch die Rede, aber die Wirklichkeit (die berüchtigte "realidade brasileira") strafte diese Rede Lüge. Es gab die dünne portugiesische Oberschicht, die sich um die Häfen häufte, um die letzten Nachrichten aus den verlorenen Heimaten Lissabon und Paris entgegenzunehmen. Man fühlte sich vertrieben. Die große Masse der Bevölkerung war afrikanisch, hatte aber zu Afrika keine bewußte Beziehung. Die nackt aus den Sklavenschiffen an die brasilianischen Strände geworfenen Menschen trugen nur in ihrer von schwerer Arbeit betäubten Innerlichkeit die verlorenen Kultureme, die dann allerdings in Form von Musik, Tanz und religiösen Riten ausbrachen, um den Boden einer jeden künftigen brasilianischen Heimat zu bilden. Die Ureinwohner, die immer weiter abgeschoben wurden, waren kein echter Teil Brasiliens, sondern nur eine teils mythisch verherrlichte, teils brutal vergewaltigte Hintergrunderscheinung.

Die europäischen, nah- und fernöstlichen Einwanderer begannen seit Ende des 19. Jahrhunderts, die Frage nach Brasilien als einer Heimat zu stellen. Ist es möglich, aus derart heterogenen Elementen ein Netz von geheimen Bindungen zu weben, wie wir es aus den alten Heimaten kennen? Es gab einen Ansatz zu diesem Weben: die portugiesische Sprache. Sie war, im Vergleich zu der in Portugal gesprochenen, zwar einerseits archaisch (es haben sich darin Renaissance-Elemente erhalten), zum anderen Teil verwildert (afrikanische Elemente waren eingedrungen). Aber gerade dies erlaubte dem Portugiesischen, zu einer Lingua franca zum Beispiel zwischen arabischen und japanischen Sprechern zu werden. Ist es möglich, eine brasilianische Sprache herzustellen, die fähig ist, eine brasilianische Kultur zu tragen und zu übertragen und somit aus dem Land Brasilien eine Heimat für künftige Gesellschaften zu machen? Diese für alle Beteiligten begeisternde Frage bildet meiner Meinung nach den Nährboden für alles, was in diesem Jahrhundert dort hergestellt wurde, angefangen mit Brasilia bis zur Bossa nova.

Als ich in Brasilien ankam, wurde ich, sobald es mir einigermaßen gelang, mich von den Gasöfen zu befreien, von diesem Taumel mitgerissen. Ich tauchte in der Begeisterung für das Errichten einer neuen, menschenwürdigen, vorurteilslosen Heimat unter. In meinem Fall: eine brasilianische Philosophie war, in Zusammenarbeit mit einigen wenigen Schicksalsgenossen, überhaupt erst zu schaffen. Das philosophische Institut, an dem italienische Croceschüler, deutsche Heideggerianer, portugiesische Orteguianer, ostjüdische Positivisten, belgische Katholiken und angelsächsische Pragmatiker teilnahmen, mußte sich japanischen Zenschülern, einem libanesischen Mystiker und einem chinesischen Schriftgelehrten öffnen, und es mußte einem westjüdischen Talmudisten einen Platz gewähren.

So begann man, dialogische Fäden mit seinen Mitmenschen zu spinnen, welche nicht, wie in der verlorenen Heimat, durch die Geburt auferlegt waren, sondern frei hergestellt wurden. Und so erkannte ich, was den Patriotismus (sei er lokal oder national) so verheerend macht: daß er auferlegte menschliche Bindungen heiligt und daher die frei auf sich genommenen hintanstellt; daß er die Familienverwandtschaft über die Wahlverwandtschaft stellt, die echt oder ideologisch biologische über Freundschaft und Liebe. Ein Freiheitstaumel erfaßte mich: Ich war frei, mir meine Nächsten zu wählen.

Und erst der 'golpe', der Staatsstreich der Armee, hat mich ernüchtert. Und zwar nicht, weil ich, wie die europäischen Beobachter, darin eine reaktionäre Intervention, sondern die erste Verwirklichung einer brasilianischen Heimat erkannte. Und es wurde mir auch klar, wie diese Heimat aussehen würde: ein gigantischer, fortgeschrittener Apparat, der in Borniertheit, Fanatismus und patriotischen Vorurteilen keiner europäischen Heimat nachstehen würde.

Die Enttäuschung mit Brasilien war die Entdeckung, daß jede Heimat, sei man in sie durch Geburt geworfen, sei man an ihrer Synthese engagiert, nichts ist als Sakralisation von Banalem; daß Heimat, sei sie wie immer geartet, nichts ist als eine von Geheimnissen umwobene Wohnung. Und daß man, wenn man die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit erhalten will, ablehnen muß, an dieser Mystifikation von Gewohnheiten teilzunehmen. Nicht Brasilien ist meine Heimat, sondern "Heimat" sind für mich die Menschen, für die ich Verantwortung trage.

Daher ist die in der Heimatlosigkeit gewonnene Freiheit gerade nicht Philanthropie, Kosmopolitismus oder Humanismus. Ich bin nicht verantwortlich für die ganze Menschheit, etwa für eine Milliarde Chinesen. Sondern es ist die Freiheit der Verantwortung für den "Nächsten". Es ist jene Freiheit, die vom Judenchristentum gemeint ist, wenn es die Nächstenliebe fordert und vom Menschen sagt, er sei ein Vertriebener in der Welt und seine Heimat sei anderswo zu suchen.

Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln oder keine haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen. Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag: man wohnte in Auschwitz. Denn ohne Wohnung kommt man buchstäblich um. Dieses Umkommen läßt sich auf verschiedene Weise formulieren, aber die am wenigsten emotional geladene ist diese: Ohne Wohnung, ohne Schutz von Gewöhnlichem und Gewohntem ist alles, was ankommt, Geräusch, nichts ist Information, und in einer informationslosen Welt, im Chaos, kann man weder fühlen noch denken noch handeln.

Ich baute mir in Robion ein Haus, um dort zu wohnen. Im Kern dieses Hauses steht mein gewohnter Schreibtisch mit der gewohnten, scheinbaren Unordnung meiner Bücher und Papiere. Um mein Haus herum steht das gewohnt gewordene Dorf mit seiner gewohnten Post und seinem gewohnten Wetter. Darum herum wird es immer ungewöhnlicher: die Provence, Frankreich, Europa, die Erde, das sich ausdehnende Universum. Aber auch das vergangene Jahr, die verlorenen Heimaten, die abenteuerlichen Abgründe der Geschichte und Vorgeschichte, die heranrückende abenteuerliche Zukunft und die unvoraussehbare weite Zukunft. Ich bin in Gewohntes eingebettet, um Ungewöhnliches hereinholen und Ungewöhnliches machen zu können. Ich bin in Redundanz gebettet, um Geräusche als Information empfangen und Informationen herstellen zu können. Meine Wohnung, dieses Netz von Gewohnheiten, dient dem Auffangen von Abenteuern und dient als Sprungbrett in Abenteuer.

Aber es gibt nicht nur eine äußere Dialektik zwischen Wohnung und Welt, zwischen Gewohntem und Ungewohntem. Es gibt auch eine der Wohnung, der Gewohnheit selbst innewohnende Dialektik. Indem die Gewohnheit für das Ungewohnte offen steht, indem sie erlaubt, Ungewohntes wahrzunehmen, wird sie selbst nicht wahrgenommen. Ich nehme, wenn ich mich an meinen Schreibtisch setze, die dort herumliegenden Papiere und Bücher nicht wahr, weil ich an sie gewöhnt bin. Was ich dort wahrnehme, sind nur die neu eingetroffenen Bücher und Papiere. Die Gewohnheit deckt alle Phänomene wie eine Wattedecke zu, sie rundet alle Ecken der unter ihr gelagerten Phänomene ab, so daß ich mich nicht mehr an ihnen stoße, sondern mich ihrer blindlings bediene. Es gibt diesbezüglich die bekannte Heideggersche Untersuchung der unter dem Bett liegenden Pantoffel. Ich nehme zwar meine Wohnung nicht wahr, aber ich empfinde sie dumpf, und diese dumpfe Empfindung heißt in der Ästhetik Hübschheit. Jede Wohnung ist für ihren Bewohner hübsch, weil er an sie gewöhnt ist. Das zeigt der bekannte ästhetische Zyklus: "häßlich - schön - hübsch - häßlich". Die an die Wohnung herankommenden Geräusche sind häßlich, weil sie Gewohntes stören. Verarbeitet man sie zu Information, werden sie schön, weil sie in die Wohnung eingebaut werden. Dieses Schöne verwandelt sich durch Gewohnheit zu Hübschheit, denn es wird noch dumpf empfunden. Und schließlich stößt die Wohnung Überflüssiges als Abfall hinaus, und es wird häßlich.

Dieser Exkurs in die Ästhetik war nötig, um das Phänomen der Heimatliebe (und der Vaterlandsliebe) in den Griff zu bekommen. Die Beheimateten verwechseln Heimat mit Wohnung. Sie empfinden daher ihre Heimat als hübsch, wie wir alle unsere Wohnung als hübsch empfinden. Und dann verwechseln sie die Hübschheit mit Schönheit. Diese Verwechslung kommt daher, daß die Beheimateten in ihre Heimat verstrickt sind und daher für das herankommende Häßliche, das etwa in Schönheit verwandelt werden könnte, nicht offen sind. Patriotismus ist vor allem ein Symptom einer ästhetischen Krankheit.

Die irrtümlich als Schönheit empfundene Hübschheit einer jeden Heimat, diese Verwechslung zwischen Ungewöhnlichem und Gewohntem, zwischen Außerordentlichem und Ordinärem, ist in manchen Heimaten jedoch nicht nur eine ästhetische, sondern eine ethische Katastrophe. Wenn ich die Provence oder das Allgäu für schön halte, und dies nicht, weil ich diese Gebiete entdeckt habe, sondern weil ich an sie gewöhnt bin, dann bin ich Opfer eines ethischen Irrtums. Halte ich jedoch Sao Paulo für schön, dann begehe ich eine Sünde. Denn die alle Phämomene verdeckende und abrundene Wattedecke der Gewohnheit läßt mich dann das dort herrschende Elend und Unrecht nicht mehr wahrnehmen, sondern nur noch dumpf empfinden. Es wird dann ein Teil der heimatlichen Hübschheit, die ich als Schönheit empfinde. Das ist das Katastrophale an der Gewohnheit.

Die Wohnung ist die Grundlage eines jeden Bewußtseins, weil sie erlaubt, die Welt wahrzunehmen. Aber sie ist auch eine Betäubung, weil sie selbst nicht wahrnehmbar ist, sondern nur dumpf empfunden wird. Verwechselt man Wohnung mit Heimat, Primäres mit Sekundärem, dann zeigt sich dieser innere Widerspruch noch klarer. Denn da der Beheimatete in seine Heimat verstrickt ist, so kann sie nur unter bewußter Anstrengung das Wahrnehmen der Welt dort draußen erlauben.

Der Migrant, dieser Mensch der heranrückenden heimatlosen Zukunft, schleppt zwar Brocken der Geheimnisse aller jener Heimaten in seinem Unterbewußtsein mit, die er durchlaufen hat, aber er ist in keinem derartigen Geheimnis verankert. Er ist ein in diesem Sinn geheimnisloses Wesen. Er ist durchsichtig für seine anderen. Nicht im Geheimnis, sondern in der Evidenz lebt er. Er ist zugleich Fenster, durch welches hindurch die Zurückgebliebenen die Welt erschauen können, und Spiegel, in dem sie sich, wenn auch verzerrt, selbst sehen können. Eben diese Geheimnislosigkeit des Migranten aber macht ihn für Beheimatete unheimlich. Die nicht zu verleugnende Evidenz des Migranten, diese nicht zu verleugnende Häßlichkeit des Fremden, das von überall kommend in alle Heimaten eindringt, stellt die Hübschheit und Schönheit der Heimat in Frage. Und da der Beheimatete Heimat mit Wohnung verwechselt, stellt dies sein Bewußtsein, sein Sein in der Welt überhaupt in Frage. Das Unheimliche am Heimatlosen ist für Beheimatete die Evidenz, nicht etwa, daß es zahlreiche Heimaten und Geheimnisse gibt, sondern daß es in naher Zukunft überhaupt keine Geheimnisse dieser Art mehr geben könnte.

Die Evidenz, in welcher der Heimatlose lebt, stellt sich für ihn als Problem, nicht als etwas unheimlich Anmutendes dar. Der Verlust des ursprünglichen, dumpf empfundenen Geheimnisses der Heimat hat ihn für ein anders geartetes Geheimnis geöffnet: für das Geheimnis des Mitseins mit anderen. Sein Problem lautet: Wie kann ich die Vorurteile überwinden, die in den von mir mitgeschleppten Geheimnisbrocken schlummern, und wie kann ich dann durch die Vorurteile meiner im Geheimnis verankerten Mitmenschen brechen, um gemeinsam mit ihnen aus dem Häßlichen Schönes herstellen zu können? In diesem Sinn ist jeder Heimatlose, zumindest potentiell, das wache Bewußtsein aller Beheimateten und ein Vorbote der Zukunft. Und so meine ich, wir Migranten haben diese Funktion als Beruf und Berufung auf uns zu nehmen.

 

@Vilem Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie. Bollmann, Bensheim 1992, Klaus Sander: Flusser-Quellen




Vilém Flusser (* 12. Mai 1920 in Prag; † 27. November 1991) 



Ausstellung Bodenlos, 2015 Berlin

Bodenlos: Vilém Flusser und die Künste - Opening panel discussion from Vilém Flusser Archive on Vimeo.

 

 

 

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