DIE WIEDERENTDECKUNG
DES VERLORENEN GÄSSCHENS 

 

Es ist wenig bekannt, dass der große tschechische Prosaiker Bohumil Hrabal als Lyriker begann. Am Beginn des mächtigen Stromes seiner Prosa finden wir Brünnlein und Bächlein von Poesie. 1948 stellte der Dichter aus den Gedichten, die er bis dahin geschaffen hatte, ein Bändchen mit dem Titel „Das verlorene Gässchen“ zusammen. Druckerei Hrádek, Nymburk (Nimburg), im Selbstverlag… Doch der Gedichtband erschien nicht mehr, alles was davon blieb, waren die Bürstenabzüge.

Diese Gedichtsammlung ist in vielerlei Hinsicht interessant. Sie ist ein interessantes autobiographisches Zeugnis, repräsentiert zugleich aber auch das soziologische Phänomen des untergehenden literarischen Genres einer Epoche. Bohumil Hrabal tritt hier als lokaler Dichter einer tschechischen Kleinstadt auf. Jede Stadt hatte früher ihre eigenen Dichter, der Dichter war ein Teil des Lokalkolorits. Jede Gegend hatte ihren eigenen lyrischen Tonfall, ihr besonderes, lokaltypisches Sentiment und Pathos. 

Die böhmischen Kleinstädte waren im ausgehenden 19. Jahrhundert bereits selbstständige Kulturstätten, in denen Vereine, das Laientheater, Promenadenkonzerte und die Studentendichtung gediehen. Diese Spielart der mitteleuropäischen Kultur hat uns nicht nur Jugendstilbauten unterlassen, sondern auch die broschierten Bändchen der lokalen Dichter. Der Selbstverlag war ein traditionelles Mittel zur Veröffentlichung von Lyrik, das auch in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts noch gepflegt wurde, auch wenn sich der Stil gewandelt hatte; der dekadent gestimmte Dichter der Kleinstadt war vom modernen Geist der Avantgarde abgelöst worden. Dann kam der Zweite Weltkrieg, der zahlreiche Veränderungen mit sich brachte. Die Möglichkeit, selbstständig eigene Gedichte herauszubringen, bestand zuletzt 1948, und eben diese Gelegenheit verpasste Bohumil Hrabal. Der Februarumsturz erledigte unter anderem auch dieses kleinstädtische Genre der Lyrik, mit allem, was dazu gehörte.

Die Titulierung als „lokaler Dichter“ hätte sich Hrabal gewiss gerne gefallen lassen. Dieser Begriff war ihm wahrscheinlich nicht fremd, denn der lokale Dichter ist eine nicht wegzudenkende Figur seiner späteren Prosa. Der Dichter Kytka aus der Erzählung „Die Bafler“ ist zum Beispiel ein solcher typischer Dichter der Kleinstadt. Doch außer Hrabal und Kytka gibt es noch andere, das Städtchen N. besitzt gleich mehrere. Hrabals Zeitgenossen Jiří Kulhánek und Vlastimil Zakouřil etwa seien hier in Erinnerung gerufen, ersterer ein ernsthafter Dichter, letzterer angeblich ein Schreiberling. Schon die Titel der Gedichtbände geben die Stimmungslage dieser kleinstädtischen Lyrik zu erkennen: „Die nicht vermessene / unermessliche Zeit“ und „Diesen Abend“ von Kulhánek, „Hundeveilchen“, „Die grüne Mahd“ und „Die Plänkler“ von Zakouřil. Auch der Dichter der Dekadenz Jan z Wojkowicz, mit bürgerlichem Namen Jan Nebeský, ebenfalls aus Nymburk gebürtig, ersteht wieder aus diesem verschütteten literarischen Erbe. Der „himmlische Hans“, wie Jan z Wojkowicz auch salopp genannt wurde, spielte als alter Mann bei der surrealistischen Feier zum Todestag von Karel Hynek Mácha, die der Dichter Kytka ausrichtete, eine Schlüsselrolle. Eine eingehende Schilderung dieser ungewöhnlichen Feier, die im Übrigen auf einer wirklichen Begebenheit beruht, ist in Hrabals Erzählung „Wollen Sie das Goldene Prag sehen“ enthalten. Auch Otakar Theer hielt sich einige Zeit in Nymburk auf; man hat dort eine Gedenktafel für ihn angebracht. Diese Dichter bilden alle zusammen aber bloß die Literaturszene, das kulturelle Umfeld, mit Hrabals Werk selbst haben sie nichts gemeinsam. Der einzige literarische Gefährte, den Hrabal damals hatte, war der Violoncellist Karel Marysko, ein persönlicher Freund Hrabals.

Der erste für die Öffentlichkeit bestimmte Gedichtband Hrabals entbehrt nicht eines gewissen Reizes des Archaischen und Deklamatorischen. Der Dichter stellt das Adjektiv dem Substantiv nach, er verleiht dem Text ein besonderes Gepräge, gibt sich feierlich erhaben. Auch die intimen Gedichte sind geprägt von Pathos und höflichen Anreden, schönen Gesten und galanten Redewendungen. Das ist die konservative Selbststilisierung des Dichters als einer empfindsamen Seele. Doch der Dichter steigert seine Empfindsamkeit allzu sehr, sodass er zum Gegenmittel des Schocks greifen muss, um das Gleichgewicht seiner inneren Kräfte wiederherzustellen. Die sentimentale Pose und das Schockmoment sind Übungen auf ein und demselben Trapez. Das ist letztlich ein Spiel, der rotierende Bajazzo weiß selbst noch nicht, auf welche Seite er fallen wird. Diese Lyrik ist ganz in ihren Gegensätzen befangen und oszilliert zwischen ihnen.

In Hrabals soziologischem Typus treffen also der Dekadente und der Protagonist der Avantgarde aufeinander. In der Tat entspringt Hrabals Gedichtsammlung diesen beiden Quellen, kreuzen sich in ihr diese beiden poetischen Konzepte. „Da hob jemand die Fiedel von der Wand und spielte“ – das sind doch Hlaváček und die Dekadenz. Aber „Zur Janina rief jemand hin, zum feschen Fräulein Elvira“ – das sind schon Nezval, Seifert und der tschechische Poetismus. Zweimal sagt Hrabal „jemand“, aber es klingt jedes Mal anders. Die Poetik der Avantgarde des 20. Jahrhunderts setzt sich am Ende durch, und der Dichter beginnt sich auf den orthodoxen Surrealismus einzuschwören. Damit sind wir aber schon beim nächsten Kapitel der Entwicklung von der poetischen Lyrik zur urtümlichen, kruden Prosa der fünfziger Jahre. 

Hrabals persönliche Entwicklung ist gleichsam ein Abriss der allgemeinen Entwicklung der tschechischen Lyrik von den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts an. Die Ontogenese des Typs eines lokalen Dichters aus Nymburk impliziert die Genese der modernen tschechischen Lyrik. Und so finden wir in der Gedichtsammlung „Das verlorene Gässchen“ Anklänge an die Moderne, den Poetismus und den Surrealismus, aber auch an die existentialistische Lyrik eines Halas und die zivilistische Lyrik der vierziger Jahre. Es gibt Einflüsse, denen man sich nicht entziehen kann, es gibt Einflüsse, die nicht der Lektüre entspringen, es gibt Einflüsse, die einfach in der Luft liegen, und der Dichter atmet sie ein, ob er will oder nicht. Die Entwicklung des dichterischen Embryos gehorcht auch in Hrabals Fall den magischen Zusammenhängen der universellen Sprache der Poesie.

Hrabal hat uns in einem Interview wissen lassen, dass er bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr kein einziges Gedicht gelesen habe. Sein Lesestoff habe aus Detektivgeschichten und volkstümlicher Trivialliteratur bestanden. Literarisch gebildet habe er sich erst später, eigentlich erst nach dem Abitur und dem Hochschulstudium. Auch wenn Hrabal hier vielleicht etwas übertreibt, dürfte das im Grunde stimmen. „Das verlorene Gässchen“ ist jedenfalls kein Debüt eines studentischen Verseschmieds, sondern die Bilanz eines jungen Mannes. Hrabal wurde 1914 geboren, und diese Gedichtsammlung gab er kurz vor Beginn des Jahres 1948 in Druck. Zwischen diesen beiden Daten liegen 34 Jahre. 

Der Geburtsurkunde zufolge wurde Hrabal in Brünn geboren, aber als Autor brachte ihn zweifellos erst Nymburk hervor. Er sagt: „Ich hatte keinerlei Ambitionen. Aber bei uns in Nymburk war es so schön, dass ich auf einmal ein Gedicht schrieb. Wenn man sich das erste Mal verliebt und die ersten Liebesbriefe schreibt, strahlt man allenthalben vor Liebe. Nun, und ich musste schreiben.“ Das „Städtchen mit dem blauen Turm“, wie Hrabal Nymburk in den einleitenden Versen des Gedichtbandes nennt, gab ihm den Impuls zum Dichten. Bei einem so bedeutenden Autor ist das ein entscheidendes Moment – die Gedichtsammlung ist von Belang. Hrabal wird immer wieder auf Nymburk zurückkommen, auch wenn er seinen Wohnort wechselt und sich sein Interessensschwerpunkt nach Prag verlagert, vor allem in das alte Prag-Libeň. Das Genre der kleinstädtischen Lyrik aus Nymburk wirkt noch im reifen Prosaiker mannigfaltig nach, Hrabal wird nie mehr die Melancholie seines späten Debüts überwinden. Hrabals gesamtes Werk ist von wehmütiger Sehnsucht nach den „verlorenen Gässchen“, nach der unwiederbringlich verlorenen Stadt und auch Epoche seiner Jugend durchdrungen. Diese „verlorenen Gässchen“ repräsentieren auch ein verlorenes Genre, sie stehen für die verlorene Poesie eines einstmals blühenden Städtchens.

Die mangelnden literarischen Ambitionen, das späte Debüt und noch einige andere Dinge haben in der Gedichtsammlung ihre Spuren hinterlassen. Hrabals spätes Entflammen für die Dichtkunst grenzt an Naivität, der Dichter wirkt manchmal geradezu wie ein Einfaltspinsel, ja wie ein Gottesnarr. Die Naivität kam Hrabal aber letztlich in gewisser Weise zugute, dieser Autor wird nie durch die Literaturwelt befangen sein. Hrabal ist zwar in mancherlei Hinsicht naiv, anderseits aber auch authentisch. Einfältig und wagemutig zugleich, greift er mit erstaunlicher Naivität nach den höchsten literarischen Zielen. Und was den Mangel an literarischer Bildung betrifft, wird dieser rasch überwunden. Hrabal nimmt sich Autoren wie Eluard, Breton, Jesenin, Tschechow, Babel, Lardner, Schulz, Kafka, Klíma, Céline oder Joyce vor… Also keine Literaten, sondern Wegmarken, Essenzen und Substrate der Literatur selbst. 

 

Das verlorene GässchenDie meisten Gedichte der Sammlung „Das verlorene Gässchen“ hat Hrabal später in seine „Etüden“ übernommen. 1970 gibt der Verlag Mladá fronta das Buch „Knospen“ heraus, in dem Hrabals frühe Texte zusammengefasst sind, aber auch diesmal geht die Veröffentlichung nicht ohne Schwierigkeiten ab. Im ersten Teil finden wir die alten Gedichte, allerdings umgeschrieben zu kurzen Prosatexten. Es fehlen nur einige Gedichte: „Der Fluss“, „Morgengabe“, „Falle mit Ausblick auf das Meer“, „Du“ und „Das Orchestrion von Třebíč“. 

Das Transponieren von Lyrik in Prosa ist geradezu typisch für Hrabals literarische Arbeitsweise, und das ist auch einer der Gründe, warum wir uns wieder der ursprünglichen Textgestalt zuwenden. Den Ausgangspunkt des Autors bildet die Poesie, doch sein Ziel ist die Prosa. Hrabal hat diese Methode schließlich auch anderswo angewendet. Die Prosa „Allzu laute Einsamkeit“ etwa hatte er ursprünglich als großes Gedicht, als Epos gestaltet, erst nachträglich schrieb er dieses Werk von Gesängen in die Sprache der Prosa um. Der breite Vers, der an Appollinaires „Zone“ erinnert, verwandelt sich beim dritten Umschreiben in die Fabel eines Prosatextes, und nur die Empfindung  des Rhythmus und der Leidenschaft bleiben von der Lyrik erhalten. Nicht anders verhält es sich auch mit den „Etüden“, in denen „Das verlorene Gässchen“ schließlich aufging.

Man könnte sagen, dass das Umschreiben in Prosa den Gedichten durchaus zuträglich war. Die „Etüden“ sind also weniger ein Anschwimmen gegen den Strom, eine Wanderung des reifen Prosaikers zurück zu den dichterischen Quellen seines Schaffens, als vielmehr ein Treiben mit dem Strom, ein Einleiten der Gässchen ins breitere Flussbett der Prosa. Im Grunde hat Hrabal nichts überarbeitet, er gibt „Das verlorene Gässchen“ nicht als altes Dokument heraus, sondern er setzt dem Leser schlicht eine neuere Version seiner frühen Lyrik vor. Schaffen im Sinne von „Work in Progress“ heißt für Hrabal, dass das Ganze in jedem einzelnen Teil eines Werkes gegenwärtig ist. Das Schiffbarmachen der ersten Gedichte durch deren Umschreiben zu neuen Texten entspricht der Methode des fließenden Textes oder des Textes im Fluss. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss, behauptet der Philosoph. Und der Dichter, das dichterische Subjekt vielleicht auch nicht nur ein einziges Mal. Aber konkret: Was hat sich verändert, was ist geblieben? 

Das Gedicht „Dekadenter Song“ heißt in den „Etüden“ schlicht „Metamorphosen“, aus „Abend“ ist dagegen „Spleen“ geworden. Manche Gedichte gehen unverändert in Prosazeilen über, bei anderen wird die Syntax angepasst. Die Gedichte in Prosa wirken natürlicher, das Pathos ist gedämpft, doch ein gewisses archaisches Lokalkolorit bleibt erhalten. Man kann nicht behaupten, dass die Texte in irgendeiner Weise grundlegend verändert worden wären. Nur bei dem Gedicht „Appassionato“ wird der ursprüngliche Text wesentlich erweitert und fließen neue Metaphern ein. Bei dem pseudomythologischen Gedicht „Hedone“, das von der Tochter des Eros und der Psyche handelt, sind durch den Gang der Zeit selbst eine Menge Dinge dazugekommen. Bei der zweiten Umgestaltung gesellt sich zur Liebe noch der Tod, welcher der Jugend so fern steht. Der Schluss des Gedichts lautet in den „Etüden“: „Ich wusste, dass Schönheit im Herzen mehr Not tut als Wirklichkeit. So warf ich eine Nelke in die Fransen des Porträts und dachte an die Liebe und den Tod. Ans süße Ineinanderfließen der Atome mit dem Raum.“ In den „Etüden“ sind auch zwei Gedichte enthalten, die auf den Bürstenabzügen fehlen, jedoch als Manuskripte überliefert sind. Es handelt sich um die Gedichte „Faun im Frack“ und „Rusalkas Stübchen“, die schon den Übergang von Nymburk nach Prag vollziehen. Beide Gedichte bildeten angeblich ursprünglich ebenfalls einen Teil der Sammlung „Das verlorene Gässchen“. 

Die Bürstenabzüge der Druckerei Hrádek stellen eigentlich nur ein Fragment der Gedichtsammlung dar. Die letzten Gedichte – der Zyklus „Frühling“, „Sommer“, „Herbst“, „Winter“ und „Ewiger Silvester“ – fehlen darauf ganz. Dieser letzte Abschnitt der Gedichtsammlung aus den Jahren 1947 – 1948 hat sogar einen eigenen Titel: „Kollektion aus, Matthias“. Hier kommt der Einfluss des Surrealismus bereits voll zum Durchbruch, der sich im „Verlorenen Gässchen“ bereits mit Vehemenz angekündigt hat. Der Surrealismus gibt schließlich den Ausschlag, er wird zum einigenden Moment der Poetik. Das Schlussgedicht „Ewiger Silvester“ ist bereits ganz in Hrabals Manier gehalten - kumulierte Banalität mit ausgesprochen grotesken Details.

Hrabals Spielart des Surrealismus wurzelt allerdings bloß in einem weiteren Missverständnis hinsichtlich Bretons und der Idee dieser Bewegung. Hrabal identifiziert sich vollkommen mit der Poetik des Surrealismus, an seiner Ergebenheit kann kein Zweifel sein, aber im Ergebnis entsteht etwas anderes. Ein klassisches Beispiel für das geniale Missverstehen, den schönen Dilettantismus und Enthusiasmus eines lokalen Dichters. Bei seinem verwegenen Trachten übertrumpft der Lehrling des Surrealismus noch das Absurde mit Absurdem. Aus der Kaffeehauspoetik der Pariser Literaten entsteht ein Realismus der ganz besonderen Art. Die spekulativen surrealistischen Visionen werden unmittelbar auf die banale Praxis angewendet. Wenn schon Surrealismus, dann ein Surrealismus, der bis zum Paradox weitergesponnen wird. Der unwillkürliche Humor, auf den der enthusiastische Eifer hinausläuft, überführt den Surrealismus des papierenen Manierismus, indes Hrabal triumphiert. Kurz und gut, Hrabal übertreibt es mit dem Surrealismus, aber dadurch wird der wichtige Effekt des Humors evoziert. Es lag in der Natur der Sache, dass Hrabals surrealistische Gedichte irgendwie nicht so ganz gelungen erschienen. Der Surrealist Teige lehnte sie ab, und Kamil Bednář nannte Hrabals Variante einen „verspäteten, weichen Surrealismus“. Es sei noch angemerkt, dass der Surrealismus bei uns in den 1940-iger Jahren die revolutionärste Form war, sich zum modernen Geis zu bekennen. Surrealismus bedeutete während des Krieges so viel wie Opposition, und das wird auch in den 1950-iger Jahren wieder so sein. Der Surrealismus spielte in der tschechischen Kultur eine ganz besondere Rolle, denn er bewahrte die Kontinuität des avantgardistischen Denkens und stand an der Wiege der gesamten modernen Kunst. Ohne die einzelnen Spielarten des Surrealismus wäre eine Entwicklung nicht vorstellbar gewesen. In den fünfziger Jahren vertieften sich die hermetischen Tendenzen des Surrealismus noch, der Gegensatz zwischen der Imagination und der Realität klaffte noch mehr auf. Der surrealistische Dichter steht in der totalitären Gesellschaft auf einer Stufe mit dem Sonderling, Irren oder Narren. Die offizielle Ächtung, der Vorwurf des Trotzkismus verweist die Surrealisten nach 1948 praktisch in den Bereich der Illegalität.

Hrabals Nymburk ist eine Zeit des sehnsüchtigen Darbens, eine Zeit der Liebe und Freundschaft. Die Geschichten der einzelnen Liebesbeziehungen überlappen sich, man weiß nicht, um welche es sich jeweils handelt. Nur das ausgesprochen autobiographische Gedicht „Exhumierung“ lüftet den Schleier des Geheimnisses und führt konkrete Fakten an: Viktorka Šťastná, Wien XVII. Sie hieß eigentlich Viktoria Freie / Frei, war eine echte Wienerin und kam auf Wanderschaft nach Nymburk. In der Brauerei lernten die jungen Leute Deutsch… Hrabal erinnerte sich noch Jahre später genau an seine erste große Liebe. Er hatte sich den Arm gebrochen, und Viktoria half ihm mehrmals am Tag… Das ganz banale Zubinden der Schnürsenkel wurde zu einem intimen Liebesritual. Das Jahr 1938, der Krieg und die Nachkriegszeit verbannten Hrabals Geliebte in das Erinnerungsalbum. Der Dichter aus Nymburk sah seine glückliche Muse Viktoria nie wieder.

Nicht weniger bedeutsam, ja geradezu schicksalhaft war die Begegnung mit Karel Marysko, einem Cellisten und Dichter. Marysko war zwar ein Jahr jünger, dank seiner umfassenden Bildung hatte er jedoch Hrabal etwas voraus. Es war eine inspirierende, poetische und dauerhafte Freundschaft. Das Motiv der Geistesverwandtschaft der beiden jungen Männer aus Nymburk klingt bereits im ersten Gedicht der Sammlung an:

 „Gedenkst du noch des Städtchens mit dem blauen Turm,
als wir die ganze Nacht den Seelen folgten.
Zum Brauhaus du der meinen, deiner ich zum Wasserturm …“

Die Anfänge dieser Freundschaft fallen bereits in die Zeit des Protektorats. Marysko besaß hauptsächlich Bücher von surrealistischen Dichtern, die sich Hrabal auslieh und begeistert verschlang. Die beiden lasen auch gemeinsam Teige, Mukařovský und Schklowskis „Theorie der Prosa“. Selbstverständlich wurde das alles ausführlich diskutiert – beim Ausgehen, beim Sport, in den Gaststätten in Nymburk oder bei Spaziergängen entlang der Elbe. Die beiden Freunde verfassen im Frühling 1945 ein gemeinsames Manifest des Neopoetismus, das heute als verschollen gilt.

1946 begegnet Hrabal dann Jiří Kolář. Der Schwerpunkt seines literarischen Schaffens verlagert sich von Nymburk nach Prag. 1951 macht Kolář Hrabal mit Jiří Weil bekannt. Der begnadete Schelm, der Nymburker Flaneur, der Dichter Hrabal beginnt, die Literatur zu seinem Beruf zu machen. Es war Kolář, der Hrabal den Weg zur Prosa wies. Mit dem Wechsel des Wohnorts und der Zeit sowie den neuen Freundschaften wandelte sich auch Hrabals Stil. Das eine endet und das andere gewinnt allmählich feste Umrisse…

Hrabal wunderte sich selbst, wie er sich von seinen sanften Anfängen zu solch drastischen Enden vorarbeiten konnte. Er bezeichnete seine frühen, in Nymburk entstandenen Texte recht treffend als „jugendlich naive, sezessionistische Reimereien“. Das ist gleichwohl nur die halbe Wahrheit. Das unbezwingbare Bedürfnis zu schockieren war Hrabal schon immer eigen gewesen, und er bringt es oft genug zur Geltung. Die surrealistische Poetik absurder Begegnungen auf dem Operationstisch oder anderswo leistet ihm dabei als Legitimation guten Nutzen. Der Surrealismus ist eine gute Ausrede für die Neigung zum Rabiaten, die Hrabal insgeheim hegt. Ansonsten sind das gleichwohl sanfte, zarte Texte… Der Dichter „feilscht noch mit der Schönheit“, erst später wird er zu der unsentimentalen Definition der Poesie als „gemahlenes Glas“ gelangen. 

Dass Hrabal primär der Poesie zusprach, ist trotz seiner späteren Erfolge als Prosaiker nicht zu übersehen. Selbst der versierte, reife Prosaiker bekennt sich noch dazu, dass alles, was er schreibe, letztendlich Poesie sei. Die frühen Gedichte stellen eine Episode in Hrabals Entwicklung dar, die primäre Beziehung zur Poesie jedoch nicht. Die Poesie bleibt die Antriebskraft, die Goldader der blutvollen Prosa.

In demselben Jahr, in dem der Gedichtband „Das verlorene Gässchen“ verworfen wird, tagt der erste Schriftstellerkongress. Die Dichter beginnen schon, die Sprache der Ideologie zu sprechen, und so winden sich Halas und Nezval auf dem Podium… Für die tschechische Literatur beginnt eine Periode strikter Zentralisierung. Es gibt keine Lyrik jenseits der institutionalisierten Literatur, es gibt nur einen einzigen Kanon. Jede einzelne Stimme hat in die einheitliche Rezitation des Chors einzustimmen. Und was ist mit dem lokalen Dichter? Der hat überhaupt keine Chance mehr… Er steht abseits, verlassen, man zählt nicht mehr auf ihn.

Die fünfziger Jahre gehen vorüber, die Zeit vergeht… Und mit den Jahren ändern sich die Wertungen. Aus dem lokalen Dichter wird ein führender tschechischer Schriftsteller, dessen spezifisch tschechische, lokale Qualitäten auch im Ausland geschätzt werden. Vor geraumer Zeit zog ein unbekannter Poet von Nymburk aus, und nun kehrt Jahre später ein anerkannter Schriftsteller zurück. Das führt zu einer eigenartigen Parallele: Es entsteht die späte Prosa „Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb“, die eine Ergänzung der Gedichtsammlung „Das verlorene Gässchen“ bildet. Die Jahre gehen vorüber, doch die geschichtliche Zeit, die lebendige, menschliche Zeit ist gleichsam stehengeblieben. „Die alte Zeit blieb stehen, wie Dornröschen, das von dem giftigen Apfel aß, doch der Prinz kam nicht, er konnte auch gar nicht kommen, denn die alte Gesellschaft hatte keine Kraft und keinen Mut mehr, und so brach eine Zeit der großen Plakate und der großen Versammlungen an, in der man allem Alten mit der Faust drohte, und diejenigen, die in dieser alten Zeit lebten, blieben fortan zu Hause und waren still und lebten von ihren Erinnerungen…“ Vorbei war es mit den Ausflügen in die Haine, mit den Tombolas, dem Karnevalstreiben, den Festbällen, den traditionellen Paraden, vorbei war es mit dem Vereinsleben, dem Laientheater, vorbei war es auch mit den Sokol-Akademien, den Abituriententreffen… Und vorbei war auch die Zeit der lokalen Dichter, die Zeit der Gedichtsammlungen, der kleinen broschierten Lyrikbändchen im Selbstverlag. Das alles war vorbei, aus den Augen gekommen, in der Versenkung verschwunden. Wäre dies nur der natürliche Gang der Zeit gewesen, dann handelte es sich bloß um die ewige Melancholie, doch das hier war etwas anderes. Ein unumkehrbarer Vorgang, das Chaos, der Zerfall von Werten, die Vernichtung kultivierter Lebensart und von Kultur. 

 „Das verlorene Gässchen“ erblickte das Licht der Welt in all den Jahren nicht. Die bereits gesetzten Texte fügten sich zu keinem Ganzen, die wenigen Bürstenabzüge blieben ein Torso. Die „Knospen“, das Buch der zarten und rabiaten Texte aus den Jahren 1938 bis 1952, gedieh zwar etwas weiter, es wurde sogar gedruckt, doch wurde die Auflage schließlich eingestampft. Nur einige wenige Exemplare wurden gerettet. Was hat sich also in all den Jahren verändert?

Selbst das unwiederbringlich abgeschriebene „Verlorene Gässchen“ brachte Hrabal nicht um seine Schaffensfreude. Er und sein Dichtergefährte Marysko schrieben ihre Gedichtsammlungen auf der Schreibmaschine ab – ein Original und drei Durchschläge. Auch das ist Literatur, tschechische Literatur nach 1948.

Im Nachwort zu den „Knospen“ empfiehlt Hrabal jungen Literaten, sie mögen „nie den Mut verlieren, sie mögen immer dilettantisch und laienhaft für sich selbst, für ihre paar Freunde schreiben…“ Eine alte Erfahrung, ein weiser Rat. Wie lange wird er hierzulande noch Gültigkeit behalten?

 

Josef Kroutvor (1983),
Aus dem Tschechischen übersetzt von Maria Hammerich-Maier




Bohumil Hrabal

Ztracená ulička - Das verlorene Gässchen 

 

CO SE PŘIHÁZÍ KAŽDÉMU


Jednoho dne
jsem potkal kohosi,
který mi tvrdil,
že prý jsem to já.
Byl jsem tak klidný,
poněvadž jsem na to dávno čekal.
Byl jsem již tak klidný,
že jsem mu dovolil,
aby si oblékl moji kůži
jako pyžama.
Byl jsem tak klidný,
poněvadž mi nic jiného nezbývalo,
než jíti jak krejčovské nůžky,
zatímco můj host
šel po rukách,
takže lidé nevinní si myslili,
že jsem větrník,
že písmeno X si vyšlo na procházku,
že přesýpací hodiny dostaly žízeň.
Byl jsem klidný,
poněvadž jsem na to dávno čekal.

-72-

 

TŘEBÍČSKÝ ORCHESTRION


Štít
a pod ním stojí žid.
Jda kolem, řekl jsem:
Má úcta, pane Wieghold.
Ale v duchu jsem jej odprosil:
Odpusťte, že tak civím
na ty svoje drahé ruce.
Odpusťte, 
že vidím
vaše ruce oprýskané
jako ruce Panny čenstochovské.
A abych zdůraznil to svoje farizejství,
pravil jsem:
Mělo by zapršeti, pane.
Tu Alfred Wieghold řekl:
Proč chodíte mi, mladý pane,
kolem krámu po rukách?
Dejte si ruce do kapes,
ať jednou nevyčítáte si,
že jste jich neužil.
To pravil a pověsil své oči
na štít a tichounce jim zazpíval:
Mé krásné ruce,
mé ruce, kam odlétly jste asi?
A rozesmál se příšerně
můj pimprlový král
a břinkal protézami do skříní,
až obě paže vrzaly
jak korouhvičky podzimní.
Jak na vánku smažený štít.

-86-

WAS JEDEM WIDERFÄHRT


Eines Tages 
trat jemand vor mich hin,
der behauptete,
das sei angeblich ich. 
Ich war ganz ruhig,
weil ich das längst erwartet hatte.
Ich war schon so ruhig,
dass ich ihm erlaubte,
meine Haut überzuziehen,
wie einen Pyjama.
Ich war so ruhig,
weil mir nichts anderes übrig blieb,
als wie eine Schneiderschere zu gehen,
während mein Gast
auf den Händen ging,
sodass arglose Menschen dachten,
dass ich eine Windmühle wäre,
dass der Buchstabe X spazieren ginge,
dass die Sanduhr Durst bekommen hätte.
Ich war ruhig,
weil ich das längst erwartet hatte.

-73-

 

DAS TREBITSCHER ORCHESTRION


Ein Schild an einer Bude, 
darunter steht ein Jude.
Ich sagte im Vorübergehen:
Hab die Ehre, Herr Wieghold.
Doch im Geist leistete ich Abbitte:
Ich bitte um Vergebung, dass ich so glotze
auf meine teuren Hände.
Ich bitte um Vergebung,
dass ich Ihre Hände abgeblättert
sehen muss,
wie die der Jungfrau von Tschenstochau.
Und um mein Pharisäertum zu unterstreichen,
sprach ich:
Es wird ein Regen kommen, lieber Herr.
Da sagte Alfred Wieghold:
Warum, junger Mann,
tappen Sie denn auf Händen an meiner Bude vorüber?
Stecken Sie Ihre Hände in die Taschen,
sonst werfen Sie sich später einmal vor,
sie nicht benutzt zu haben.
Das sagte er und hängte seine Augen
an das Schild, und ich sang leise:
Meine schönen Hände,
Hände mein, wohin seid ihr entflogen?
Da brach mein Gliederpuppenkönig 
in ein schauderhaftes Lachen aus 
und klimperte mit den Prothesen auf dem Kasten,
bis beide Arme knarrten
wie Wetterfahnen im Oktober.
wie ein im Wind geschmortes Schild.

-87-

Bohumil Hrabal: Ztracená ulička/Das verlorene Gässchen. Aus dem Tschechischen von Maria Hammerich-Maier, Verlag Kaplanka, Nymburk 2016, ISBN: 978-80-87523-12-1
Gespräch mit Maria Hammerich-Maier über den Gedichtband "Das verlorene Gässchen", Radio Prag - 

 

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