Die Geborgenheit unter der Schädeldecke
Peter Handke
Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 1973
Mai 2019: Beim Ordnen von Briefen, Manuskripten, Kopien finde ich auf vier weißen Seiten einen Text, der mich elektrisiert. Sechsundvierzig Jahre danach, oder zwei Generationen später, vor den EU-Wahlen 2019, erkenne ich die Gegenwärtigkeit. “Gegenwärtig”, unbesehen von der Zeit, das was Erzählen stimmig macht. Damals, 1973, war ich noch nicht in Frankfurt angekommen, doch jetzt liest sich die Rede - in Prag - frisch. Danke, Peter Handke.
Für Ingeborg Bachmann
Wie wird man ein politischer Mensch? Die Dunkelheit ist jetzt wieder finsterer als noch vor zwei Monaten, der Fußboden in dem Raum, wo man sich befindet, abschüssig. Kein Aha - es handelt sich nicht nur um eine Ausgeburt des Bewußtseins: Als ich eine Wasserwaage auf den Boden legte, rutschte die Blase darin aus der Mitte, der Boden war tatsächlich schief. Auch die Kochplatte in der Küche ist so schräg, daß das Öl in der Pfanne sofort in eine Richtung zusammenläuft. Gauner, Betrüger! dachte ich und meinte die Baufirma. Die Reklamationsbriefe, auf die ich nie eine Antwort bekomme, beginne ich immer mit “Sehr geehrte Herren …” und erinnere dann höflich, in der Meinung, das gehöre zur Verständigung. Einmal schrieb ich von “meinem Rechtsanwalt” und warf den Brief weg, als ich mir dabei das Grinsen der Herren vorstellte. Ich habe keinen Rechtsanwalt.
Die Dunkelheit jetzt ist wieder die Finsternis aus der Kinderzeit. Man sitzt allein in einem Raum, man selber ist in Sicherheit, aber es fehlt noch der, den man am liebsten hat. Vor Angst werdet ihr müde, und diese Müdigkeit ist der sprachlose, innerste Schmerz. Kein erleichtertes Aufspringen aus einem Gedankenspiel mehr; schwere und rundum erstarrte Gedankenlosigkeit.
Diese Müdigkeit ist nicht die gewöhnliche Müdigkeit, sie ist eine Art des Schmerzes, es sind Schmerzen der Angst. Jemand erzählte, wenn er aus dem Geschäft nach Hause komme, müsse er sofort den Fernseher einschalten, um nicht auf der Stelle einzuschlafen. Vor zwei Monaten glaubte ich noch, ich brauche das Fernsehen nicht mehr, aber jetzt, kaum daß es finster wird, schalte ich es oft wieder an. Die fertigen Bilder vor Augen, die künstliche Stimmen im Ohr, denke ich ähnlich wie Anzengrubers Steinklopfer Hans auf der Wiese: “Mir kann nichts mehr passieren!” Die Nachrichten beginnen jetzt eine halbe Stunde früher seit ein paar Wochen; das ist der Grund, daß die Kinder zeitiger schlafen gehen müssen. “Jetzt kriege ich sie eine halbe Stunde früher ins Bett”, erzählte jemand. Auf den Straßen hört man die Kinder Deutschlands lachen wie Ernie aus der Sesamstraße. Warum ist es so befremdend, eine in jeder Einzelheit politische Existenz zu führen? “Geht einmal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euern hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brot an fremden Bäuchen herrlich angeschlagen sei …” Das kann man als Zitat aus der Vergangenheit holen, aber es jetzt selber zu sagen, würde die Herren nur wieder ergrinsen lassen.
Vor dem Fernseher saß ich und versuchte etwas zu meinen, doch nur sprachlose einzelne Wörter stießen sich an der Schädeldecke. Wenn ich Nixon sah, dachte ich “Gangster”; wenn ich die chilenischen Generäle sah, dachte ich: “Banditen!” Zugleich kam es mir lächerlich vor, wenn jemand das aussprach. Andererseits waren die Kommentare, die ich las, nur eine Version des “Sehr geehrte Herren …” Folgendes hätte ich sagen können, ohne daß ich dabei künstlich geworden wäre: “Gangster! Banditen! Mörder!” Das hätte ich auch gemeint. Alles weitere gehörte dann schon zu der Fiktion von Verständigung. Ich sagte nichts. Aber auf einmal kamen mir die, die es doch aussprachen, nicht mehr nur lächerlich vor: Sie waren es selbstverständlich: Ja, Nixon ist ein Gangster, die chilenischen Generäle sind Banditen, die portugiesischen Soldatn von Wiriyamu in Mozambique sind Mörder. Du, Bauunternehmer, bist ein Gangster. Das ist nicht ausgewogen? Ausgewogen formuliert die Frankfurter Allgemeine: “Bei stundenlanger Beobachtug des Mienenspiels Allendes erschien der Charakter unklar und deshalb dubios.”
Was ist politisches Denken? Politische Aktionen habe ich immer nur verfolgt wie Sportreportagen; betroffen fühlte ich mich jeweils erst dann, wenn die Politik blutig wurde. Und von jeher fühlte ich mit den Opfern: Beim Anblick von Opfern erschien mir meine frühere Parteinahme für eine Ideologie nur mehr als sportliches Daumenhalten. Auch das sei Ideologie, sagt man. Ein dialektischer Sprung wäre nötig, dann würde ich zwischen Opfern und Opfern unterscheiden können. Ich sehe, daß dieser Sprung “vernünftig” ist, und in jedem Gespräch vollziehe ich ihn auch, aber sobald die Opfer leibhaftig werden, mache ich ihn rückgängig. Das ist der Grund, daß ich bis jetzt unfähig bin, eine in jeder Einzelheit politische Existenz zu führen. Es gibt eine Dialektik, die nicht anderes als weltvergessene Routine ist.
Seit ich mich erinnern kann, ekle ich mich vor der Macht, und dieser Ekel ist nichts Moralisches, er ist kreatürlich, eine Eigenschaft jeder einzelnen Körperzelle. Vor vielen Jahr schlug mich ein Lehrer mit dem Geigenbogen, und jetzt möchte ich aufspringen und ihm den Bogen zerbrechen. Im Internat, als ich einmal an der Reihe mit dem Vorbeten war und, obwohl mir der Kopf heiß wurde vor Anstrengung, für den großen Saal zu leise betete, und als da der der geistliche Aufseher brüllte, ich sollte lauter beten, unterbrach ich immerhin das Gebet, ging auf den Aufseher zu und verbat mir seine Roheit. Aber warum schwieg ich dann, als ich Jahre später für tauglich zum Dienst mit der Waffe erklärt wurde und als der Offizier uns Gemusterten lautmalerisch den Wind beschrieb, der durch die stolzen Reihen der Soldatengräber braust? Dabei hatte ich damals eine Mordslust und habe sie jetzt noch, mein sehr geehrter Herr …
Es ist also zu unterscheiden: was mich unfähig und unwillig zu einer politischen Existenz macht; ist nicht der Ekel vor der Gewalt, sondern der Ekel vor der Macht; die Macht erst, indem sie es sich erlauben kann, aus der Gewalt ein Ritual zu machen, läßt diese als das Vernünftige erscheinen. Unüberwindlich ist mein Widerwillen vor der vernünftelnden Gewalt der Macht; als gestaltlos und leblos empfinde ich bis heute fast alle, die mächtig sind. Und aus dieser Empfindung erlöst keine Dialektik. Vor vielen Jahren schaute ich eines der schon üblich gewordenen KZ-Photos an: Jemand mit rasiertem Kopf, großäugig, mit hohlen Wangen, daß da auf einem Erdhaufen im Vordergrund, dieser photographierte Mensch hatte sich zu einem austauschbaren Symbol verflüchtigt. Plötzlich bemerkte ich seine Füße: Sie waren mit dem Spitzen aneinandergestellt, wie manchmal bei Kindern, und jetzt wurde das Bild tief, und ich fühlte beim Anblick dieser Füße die schwere Müdigkeit, die eine Erscheinungsform der Angst ist. Ist das ein politisches Erlebnis? Jedenfalls belebt der Anblick dieser aufeinander zeigenden Füße über die Jahre hinweg meinen Abscheu und meine Wut bis in die Träume hinein und aus den Träumen wieder heraus und macht mich auch zu Wahrnehmungen fähig, für die ich durch die üblichen Begriffe, die immer die Welt der Erscheinungen auf eignen Endpunkt bringen wollen, blind geblieben wäre. Ich bin überzeugt von der der begriffsauflösenden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens. Thomas Bernhard sagte, sowie bei bei ihm während des Schreibens auch nur der Ansatz eines Begriffs auftauchte, würde er sie abschießen. Ich antworte: Sowie beim Schreiben auch nur der Ansatz eines Begriffs auftaucht, weich ich - wenn ich noch kann - aus in eine andere Richtung, in eine andere Landschaft, in der es noch keine Erleichterungen und Totalitätsansprüche durch Begriffe gibt. Und diese bieten sich ja bei jeder Schreibbewegung als das erste Schlechte an; wenn man müde ist, läßt man sie stehen; sie sind das scheinbar Schwierige, das einfach zu machen ist.
Vor ein paar Tagen bin ich Frankfurt herumgegangen. Es war ein trüber Samstagnachmittag in jenen Straßen, durch die man vom Zentrum in die Vororte fährt, nicht mehr Zentrum, aber noch nicht eigenes Viertel, weder Geschäfts- noch Wohnbezirk, die paar Geschäfte wie aufgelassen, eine leere Imbißstube mit pompösem Namen, das Niemandsland in den großen Städten. Angestrengt schaute ich hin und fühlte mich aufgefordert, in allen Erscheinungen Indizien zu finden. In einem Parterrefenster standen zwei große, gefleckte Hunde. Aus einem Haus warf eine ältere Frau einem alten Mann einen Ballonseidenregenmantel auf die Straße hinunter. Dann ging ich an einem Klingelschild mit vielen Namen vorbei und dachte plötzlich: “Komisch, die haben ja Namen, die heißen tatsächlich alle irgendwie!” An einem ähnlichen Nachmittag war ich in einem hessischen Dorf als einziger in dem Dorfcafé gesessen, welches das Hinterzimmer eines Lebensmittelgeschäftes war, meine Hände klebten am Plastiktischtuch, und ich las in einer Hör zu, die schon einige Monate alt war. So wie in dem Hinterzimmer des Lebensmittelgeschäftes im hessischen Dorf spürte ich auch in der Frankfurter Straße die Existenz anderer an mir selber, aber eher als Schauspieler, der sie verkörperte, schaudernd und doch fast mit einem Wohlgefühl.
Auf einmal fiel mir das auf, während der gierigen Wahrnehmungen: es war die innige Körperempfindung, daß sich die Schädeldecke über mich wölbte und mich von all den Anblicken abschirmte. Und unter der festen Schädelwölbung erlebte ich in fast heimeliger Fremde das allgemeine Elend. Als mir das auffiel, dachte ich, um dieses Schauspiel zu stören, müßte man auf der Stelle gewalttätig werden; aber das blieb nur eins unter vielen unwirklichen Gedankenspielen. “Der Sternenhimmel im Oktober”, stand vor kurzem in der Zeitung. Und als ich im Supermarkt die zuckerüberpuderten Kuchenstollen mit dünnen Goldpapierschnüren umwickelt sah, graute mir vor der Vorstellung, wie unvermeidlich über den Straßen bald wieder die Weihnachtssterne hängen würden. Neben der Autobahn von Duisburg nach Düsseldorf sah ich vor Jahren in der Nacht immer ein blaues Schild leuchten: Dr. Johnson’s Handwaschpaste. Am Morgen putzte ich mir die Zähne mit Dr. Best’s Zahnbürste, die Haare wasche ich mir mit Dr. Dralle’s Haarshampoo, mit Dr. Scholl’s Hühneraugenpflaster versuchte ich einmal eine Warze wegzukriegen. VEREINT GEIST UND POLITIK, hieß ein Spruchband zu den “Gesammelten Werken” von Carlo Schmid. Jeder dritte Deutsche ist Postsparer, jeder zehnte bei der HAMBURG-MANNHEIMER lebensversichert, jeder tausendste begeht Selbstmord. Die Melitta-Müllbeutelpackung enthält zwanzig Müllbeutel, die Melitta-Frischhaltelpackung enthält fünfunddreißig Gefrierbeutel, die Melitta-Frischhaltepackung enthält vierzig Frischhaltebeutel. Welche Vielfalt der Erscheinungen.
Noch immer zu wenig Widersprüche ... In seinem Arbeitsjournal schrieb Brecht am 31.8.1944*: “in augenblicken der verstörung fallen im gemüt die bestände auseinander wie die teile tödlich getroffener reiche, die Verständigung zwischen den teilen hört auf (plötzlich wird deutlich, wie das ganze aus teilen besteht), sie haben nur noch die bedeutung, die sie für sich selber haben, das ist wenig bedeutung. es kann passieren, daß ich urplötzlich nicht mehr einen sinn in Institutionen wie der musik oder auch der politik sehen kann, die nächststehenden wie fremde sehe usw. gesundheit besteht aus gleichgewicht”. Was Brecht hier, aus kleinlicher Angst vor der Sinnlosigkeit, als Krankheit und Verstörung aburteilt, ist nichts andres als das hoffnungsbestimmte poetische Denken, das die Welt immer wieder neu anfangen läßt, wenn ich sie in meiner Verstocktheit schon für versiegelt hielt und es ist auch der Grund des Selbstbewußtseins, mit dem ich schreibe. Wie wird man ein poetischer Mensch? Auf alle Fragen auch auf diese, gibt es die schöne, zutreffende Antwort: Das ist eine lange Geschichte. Wenn ich jemandem Mitgefühl, soziale Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Geduld beibringen will, befremde ich ihn nicht mit der abendländischen Logik, sondern versuche ihm zu erzählen, wie es mir selber einmal ähnlich erging, das heißt, ich versuche, mich zu erinnern.
Lassen Sie mich also aus dieser kurzen Anstrengung zu den langen Geschichten zurückkehren. Der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Stadt Darmstadt und dem Land Hessen danke ich für die Verleihung des Büchner-Preises und das Geld, das damit verbunden ist. Und Georg Büchner danke ich für mehr.