FUND-SACHEN

 

Auszüge aus Geschriebenem und Gesprochenem

HANS F. KREBS 

 

FundsachenKunst und Künstliches, widersprechen sich nur im Vordergrund. Kopf und Gefühl suchen nach Zeichen der Verbindlichkeit im Einebnen des Sächlichen des Dagewesen-Sein der Sachen. Das ist der Kehricht des Künstlichen. Das ist Plastik. Natur, dessen Teile der Mensch, die Hornisse und die Königskobra sind, verwesend im Tod als Leichen. Gemeinsamkeiten von Totem und von Abfall findet im Verbrennen statt. Plastik taugt nicht zum Kompostieren.

Blinde Wünsche und taube Wahrnehmungen verhindern den Durchblick auf die geschändete Schöpfung.
Real sind die Gewalt und das Doping.

Die Fragen nach dem Warum und dem Weshalb stehen am Anfang, um sich einen Zugang zu dieser Kunst zu verschaffen. Schauenden wird die Tiefe der Eindringklichkeit der Inspiration überlassen. Ist Kunst die Sache der Vergeblichkeit? Oder ist Kunst selbst?

 

Selbst-Bild ist Selbst-Betrug.

Das Bild im Spiegel des Lebens ist das Leben selbst, das das Kommen und das Gehen, die Geburt und den Tode des Kreatürlichen einschließt. Respekt vor dem Leben-Werden und vor dem Gelebt-Haben, Gelebt-Sein, wenn auch nur in Minuten, in Augenblicken und ohne Spuren? Kunst gräbt Spuren. Wenn Totgeburten, wenn Fehlgeburten gemeinsam mit klinischen Abfällen, zum Kehricht deklariert, zu Granulat verarbeitet wird, daß das Material bei Bau der Straßen verwendet wird? Dem früh Abgestorbenem wird die Ruhe im Grab oder in der Urne verweigert, weil das Begraben der Leiche oder das Verwahren der Asche in der Urne sich nicht rechnet.

Einzelnes Leben von Anfang an ist abhängig von den Launen, zerstört zu werden. Der Garten, als Ort des ewigen Schlafes, die Immobilie Friedhof, ist stummes Kapital "über die Erkalteten hinweg" (BERTHOLD BRECHT).

 

FUND-SACHEN

Blau ist die Farbe der Introvertierten schrieb GOTTFRIED BENN in einem seiner Gedichte. Blau ist der altbayerische Himmel der Folklore. Hinter diesem Himmelblau verbirgt sich die Schwärze der Ewigkeit. Ein Begriff. Mehr nicht. Nicht nur diese optischen Täuschungen begleiten mich und öffnen mir die Türen zu meinen Wahrnehmungen.

Das Äußere ist wie die Oberfläche der Kunst. Was, wenn ich nicht dahinter schauen kann? Was, wenn ich noch nie dahinter geschaut habe? Das Kosmetische in den Zeitläuften malt die Ab-Bilder des Schmierentheaters politischer und wirtschaftlicher Handlungen. Vor ein paar Tagen schaute ich an das mit Schminke zugeschmierte Gesicht einer Politikerin.

Die violett angestrichene Kuh wurde aus den Bildern von FRANZ MARC gestohlen. Aneinanderreihungen und Sprünge gehören zusammen. Der Wert de Aktien der Firmen steigen, wenn bekannt wird, daß die Geschäftsleitungen Menschen entlassen haben. Aus Entlassungen werden Freisetzungen. Das sind Wahrnehmungen, die nur gewaltsam durch Selbst-Täuschung und durch Selbst-Betäubung aus dem Bewusstsein zu vertreiben sind.

Wiederholungen sind Wiederholungen. Krisen sind Krisen. Punkt. Die Konstanten und die Varianten in den Wiederholungen befördern den Irrtum und verstärken die Krise, daß der Wechsel der Ereignisse und der Taten etwas anderes ist, als immer dasselbe und als immer das Gleiche mit den biographischen Verschiebungen in den sich wiederholenden Markierungen. Eine Woche, ein Monat, ein Jahr, ein Tag, eine Nacht. Wieder eine Woche? Wieder ein Monat? Wieder ein Jahr? Wieder ein Tag? Wieder eine Nacht?

Licht und Schatten im Verlaufe der Jahreszeiten befördern: Säen, hegen und ernten. Gottesacker heißt im Oberfränkischen der Friedhof. Letzter Augenblick nach der ersten Sekunde, nach dem ersten Schrei und nach dem ersten Licht.

Lebensläufe sind eine Aufzählung von Daten, eingebettet in die Zeiten im Wachsein der Arbeit und in der Ruhe im Schlaf, die aufgeschrieben werden, weil Einzelheiten, die in den Situationen wesentlich waren, vergessen wurden.

Die Wiederholung heißt das Buch von CONSTANTIN CONSTANTIUS, mit bürgerlichem Namen SÖREN KIERKEGAARD, das 1843 in Kopenhagen erschienen ist. ALBERT CAMUS beschrieb die sich wiederholenden, die schweißtreibenden Anstrengungen des Sträflings SISYPHOS.

Kunst? Was ist das? Kommt Kunst von können oder kommt Kunst von künden? Das sind Fragen, die in Westberlin Ende der fünfziger Jahre gestellt wurden. Antworten auf diese Fragen gab es nie.

Neuer sprachlicher Schleim wurde ausgeschieden. Folgen dieser grauen Auswürfe heißen Unternehmenskultur, Unternehmensphilosophie und Unternehmenskommunikation. Unternehmenskultur bemäntelt Profite. Unternehmensphilosophie bezeichnet den Betrug an den Konsumenten. Unternehmenskommunikation ist die Sprachlosigkeit. Größenwahnsinnige Mächtige und Irrsinnige haben Namen und haben Haupt-Wörter: Kirch und Kirche, Schumacher und Mordversuch, Horn und Gesang.

Haben Kunst und Design zwischen Hair-Design und Nuklear-Design Gemeinsamkeiten? Ja! Frisur und Vernichtungen gehören zum Homo sapiens, wie essen, wie trinken, wie wohnen und wie sich vermehren; letzteres meist pantomimisch.

Die Turmfrisur einer Dame aus dem oberpfälzisch-bayerischen katholischen Adel diente der Verkaufsförderung ihrer süßsäuerlichen Leibhaftigkeit. Der Erzbischof hat sich nicht von ihr abgewandt. Er sah Kunst in der Turmfrisur. Wäre die Dame eine Leiche, dann könnte der Leichnam mit Parfüm aus den Flaschen der Hamburger Flacon-Werkstatt, als virtuelles und als verwesungabweisende Kunst-Werk konserviert, in einem gläsernen Design-Gehäuse sehnsüchtigen Besucherinnen und schwachsinnigen Besuchern als Sensation scheinbarer Leibhaftigkeit präsentiert werden, kombiniert mit dem Angebot eines oberfränkischen Leichenschmauses.

Ratsuchende finden bei Russen und bei Chinesen Wissen, Können und Erfahrung im Handwerk konservierender Verleichungen. Für Lenin, für Stalin und für Mao wurden die Kathedralen der Narretei in Moskau und in Peking gebaut, puritanisch und düster ausgestattet. Das ist die Kunst im Dienste der im Blut erstickten Regime. Hitler erschoss sich, die Leiche wurde mit Benzin befeuchtet und dann angezündet. Mussolini wurde an einem Laternenpfahl aufgehängt. Salazar und Franco starben den Heutod. Diesen Tod verachteten die Germanen.

Im alten Ägypten herrschten Bräuche, die Zweifel kannten und die Ohnmacht ahnten. Leichen der Tyrannen und deren Prinzen wurden in Leinentücher eingewickelt, mit Verzehr, mit Trunk, mit Edelmetallen, mit Schiffchen und mit Gerätschaften für ihre Reise ins Jenseits versehen, dann in den finsteren Warteräumen der Gräber versteckt, bis in den Jahrhunderten und in den Jahrtausenden danach, die Räuber kamen und die Ruhe der Toten störten.

Die Fund-Stücke gehören in die sich überlappenden Kreisläufe, die auch vom EL NINO bewegt werden, am Strand gesammelt und dann zu den Bildern der FUND-SACHEN zusammengefügt wurden. Der Name EL NINO, das CHRISTKIND, ist das Ab-Bild vom Natur-Bild durcheinander geratener Abläufe der Ströme und der umgedrehten Richtungen der Winde. Folgen sind Regensturz und Überschwemmung, Hitze und Dürre. Spekulationen blühen. Gewöhnungen sind sicher. Auflehnungen werden eingeebnet. Fund-Stücke können wie Leuchtfeuer, Licht in die Finsternis der Verblendungen und der Abblendungen des orientierungslosen Bewusstseins tragen.

Vor einem Jahr begannen ANNE & JENS am Strand des Mittelmeeres in Südfrankreich mit der Sammlung der Fund-Stücke, die nach Frankfurt am Main transportiert, und im Stadtteil Sachsenhausen zu bildnerischen Objekten verarbeitet, die den nun Markennamen FUND-SACHEN tragen.

Das Strand-Gut wird in diesen Bildern gebündelt. Die Fund-Stelle am südfranzösischen Strand war der Anfang. Die Ab-Fälle, die das Meer nicht verdaut und ausspuckt, werden eingefasst. Sachen brauchen einen Rahmen. Sachen brauchen einen Zusammenhalt. Magen und Darm des Meeres sind als Funktionsträger der Verdauung und der Ausscheidung nur endlich belastbar. Belastungen, die wir dem Meer und dem Lande, den Fischen, den Säugetieren, von denen der Mensch einer ist und einer der Aasfresser dazu, den Vögeln, den Reptilien, den Insekten und Pflanzen zumuten, ist der strafrechtliche Tatbestand der Schändung und der Ermordung der Schöpfung.

B e d e n k e n s w e r t:  Natur, das Lateinische natura heißt Schöpfung. Mir wurde meine immerwährende Frage bis heute nicht beantwortet, warum die Personen der Verwahrinstitute der Wort-Religionen und der Mythenverwalter der Offenbarungsreligionen gegen die paranoiden Veranstalter des Vernichtungsfeldzuges, der gegen die Schöpfung geführt wird, nicht doch noch eine biophile Revolution anzetteln. Leben und Lebendigkeit ist durch das Töten nicht zu befördern.

B e m e r k e n s w e r t:  Zu den Fund-Stellen am Strand wurden ein Schloss auf der Schwäbischen Alb und die Läden hinzugefügt, die mit Schund und die mit Kitsch in den Regalen bis an die Decke vorgestopft sind. Ab-Fall ist chiffriert. Ich benutze die Chiffre im Sinne des Philosophen KARL JASPERS (1883 bis 1969). Ab-Fall wird zum Fall der Dechiffrierung.

Zivilisatorische und technische Menschen-Werke beschädigen die Schöpfung. Gefördert werden allenthalben die Zerstörungen durch das Fortschreiten der Kriege in der Welt und durch das verhängnisvolle Wirken der Tyrannen, gleich gültig, als gleiche Gültigkeit, an welchen Stellen auf dieser Erde die Diktatoren ihr Verbrechen gegen das Leben begehen. Den Diktatoren ist es egal, wenn die Profite selbst mit Havarien gemacht werden, die im Meer alles Lebendige zerstören. Salz-Wasser ist ein Lebensmittel.

Die Hinwendung zur Ausbeutung, zur Zerstörung und zur Vernichtung steckt in einer handvoll von Worten im ersten Kapitel der GENESIS (Erstes Buch Moses, 1,28): "Seid fruchtbar, und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, sie sich auf der Erde regen." Wenn der CREATOR MUNDI diese Aufforderung zu Adam und Eva gesagt hat, dann heißt der Meister nach dem Gesellen HERO-STRATOS, das ist der griechische Brandstifter, der im vierten Jahrhundert von Christus sein destruktives Wesen trieb, denn der CREATOR MUNDI will nicht nur die Zerstörung seines Werkes, er will das Ende der Evolution.

Die Bilder von ANNE & JEAN weisen auf Grenzen hin, die der Mensch für sich und in der Sozialität der Gesellschaft straflos nicht überschreiten darf. Das ist ein Wunsch und ein frommer dazu, denn der Eingrenzung und der Behebung der Schäden stehen der Größenwahn des Profits und der Allmachtsanspruch auf universelle Machbarkeit entgegen. Gewinnstreben bedenkt die Vernichtung nicht. Ich denke, daß die Daten der Verbrechen bekannt sind. Das Kreuz war über denen, die die Indianer und ihre Kultur auslöschten. Das Kreuz war über der Schande, die den Namen Antisemitismus trägt. Das Kreuz war über den Atombomben, die auf Hiroshima und die auf Nagasaki abgeworfen wurden. Das Kreuz ist das Signet des Todes.

Die Neurose, die der Treibstoff für Zwangshandlungen ist, die Hysterien und die Mysterien sind die Folgen der Abwesenheit von Wissen. Bescheidenheit braucht keine Mystik. Staunen genügt. Was gibt es zu sagen, wenn die Etiketten wechseln? Die Fähigkeit, sich zu orientieren, ist nicht mitteilbar. Missverständnisse gründen in der Welt der Signale, die emotional falsch verstanden werden, weil die Gewissheiten anderer nicht bewusst sind.

Der Hund wedelt mit der Rute, wenn er sich freut. Mit dem gleichen Zeichen signalisiert die Katze eine zu erwartende Gefahr. Die Feindschaft von Hund und von Katze gründet nicht im Hund und nicht in der Katze, die Feindschaft gründet in der Fehldeutung im Dialog der Signale.

Von der Postmoderne ist in den Feuilletons ja nun nichts mehr zu lesen. In diesem Herbst werden das Ende der Moderne und die zweite Moderne angezeigt. Die Fiktionen dieser, als Moderne beschriebenen Gegenwart, spielen in der Vergangenheit, wie das der Lissaboner Schriftsteller ANTONIO LOBO ANTUNES in seinem HANDBUCH DER INQUISITOREN beschreibt. Am Mittwochabend, nach einer Woche zurück aus Lissabon, habe ich am Donnerstag, ab zwei Uhr in der Frühe, die Literaturbeilage der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG zur diesjährigen FRANKFURTER BUCHMESSE gelesen. In Lissabon bin ich an vier Tagen ohne Zeitungen ausgekommen. Kaum in Frankfurt am Main hatte mich die Droge Lesen und die typographische Schrift der Zeitung wieder im Griff.

B e i s p i e l:   Das Wissen ist immer dann gleich-zeitig mit der Person, wenn die Person die Dimension des Nicht-Wissens als Wissen wahrnimmt. Nicht das Wissen, das in meinem Gedächtnis, in Zeitungen, in Zeitschriften, in Magazinen und in Büchern aufgehoben ist, sondern das Wissen von  meinem Nicht-Wissen ist meine Grenze. Diese Erfahrung ist keinem Menschen auf verstehbare Weise mitzuteilen, weil dieser Horizont, weil diese Bezeichnung der Grenze nicht teilbar und dadurch nicht mitteilbar ist.

Anzeichen, der über den Horizont heraufziehenden Katastrophen, werden ignoriert. DER SPIEGEL macht die Titelseite vom letzten Montag mit dem Hinweis auf: "Wetter-Katastrophen werden vorhersehbar." Der EL NINO wird uns auf diesem Globus, um die Weihnachtszeit, eine Reihe von Beweisen bescheren, die anmerken werden, daß die Geschichte von Bethlehem folgenlos und ein Märchen geblieben ist.

Der Langmut der Natur ist endlich. Wobei im Kollektiv der Allgemeinheit vergessen wird, daß der Mensch, also jeder von uns, ein Teil dieser Natur ist. Der Homo sapiens lebt in Begriffen und in Bildern. Tiere leben in Gerüchen und in Klängen. Pflanzen existieren im Da-Zwischen. Über den Ursprung hinaus, ist der Mensch der Schöpfer der Kultur, die für sich eine grandiose neurotische Leistung darstellt. Kult ist in Kultur aufgehoben und der Bauer kultiviert seinen Acker.

Die Folge und die Parallelität der Kultur ist die Zivilisation. Mit der Technik, die eingebettet ist in die Zivilisation, wurden die Mittel zur Verfügung gestellt, Menschen planvoll und industriell zu vernichten. Rassismus ist die Schande in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert christlicher Zeitrechnung.

Die Sekten als Wirtschaftsunternehmen, zu deren profitablen Geschäftsgrundlagen die Astrologie, die Esoterik und die Frömmelei gehören, verschleiern und versklaven das Bewusstsein ihrer Mitglieder. Ich verkenne nicht, daß es auch in den Großkirchen wirkungsstarke Sekten und eindrucksvolle Sektierer gibt. Diese Sekten brauchen den bewusstlosen Menschen, der sich entmündigen und der sich entrechten lässt.

Selbstlosigkeiten verraten, daß es Personen ohne ein Selbst gibt, die sich den Diktatoren und die sich den Mythen-Einfädlern dankbar unterwerfen. Die ABSTRAKTE KUNST, benamt als ART CONCRET, auch so ein Diktator, schuf Ismen und Mythen. Auf die Frage, was ein Mythos sei? - antwortete der Jesuitenprofessor RUPERT LAY (1929): "Ein Mythos ist, was immer ist aber niemals war."

Die Werke von ANNE & JEAN grenzen sich ab und geraten nicht in die Gefahr, als abstrakt bezeichnet zu werden. Diese Bilder stellen die höchstmögliche Annäherung an die Realität der Gegenwart dar. Der Tag und die Nacht, das Licht und der Schatten, das Land und das Meer, das Kommen und das Gehen ist real. Ein "menschlicher Mensch" (RUPERT LAY) ist sich seiner, im lebenslang zugefügten Täuschungen und seiner Selbst-Täuschungen, seiner Gewissheiten und seiner Lebenslügen bewusst. Ent-Täuschung sagt mir, daß ich die Täuschung von mir genommen habe.

GOTTFRIED BENN (1886 bis 1956) hat diesen Tatbestand in die Worte gefasst.

"Der Rest Fragmente,
halbe Laute,
Melodiensätze aus Nachbarhäusern,
Negerspirituals oder Ave Marias."

Ich begegne den Werken von ANNE & JEAN als Empfänger. Als der, der in seinem Pessimismus und in seinem Nihilismus bestätigt wird. Die Realität dieser bildnerischen Botschaften verstärken die personale Wirklichkeit, in dem der Pulsschlag in diesen Bildern gegenständlich wird.

Die Fund-Stellen weisen auf die Aspekte hin, daß die Sachen zum Finden überall herumliegen. Das ICH muss wach und aufmerksam auf die Zusammenhänge achten, und sich das Bewusstsein des Irrtums erhalten. Die Wahrheit gibt es nicht. Es gibt nur die Beiträge zu den Befindlichkeiten und den Sachen, die wahr sind. Ahnungen und Vermutungen dürfen im Gespräch zur Sprache kommen. Allerdings sollten die Ahnungen und die Vermutungen nicht zur Maske werden. Masken bleiben dem geheimnisvollen venezianischen Karneval und der düsteren Basler Fasnacht vorbehalten. Das Eigenschaftswort wahr ist in das Tätigkeitswort wahrnehmen eingebettet.

Im Vorzeigen der FUND-SACHEN werden hinweisende Fingerzeige auf imaginäre Fund-Stellen sichtbar. Lesen ist das Werkzeug, um in den Steinbrüchen der Zeitungen, der Zeitschriften und der Bücher fündig zu werden. In diesem Falle - und überhaupt - dreht sich alles um die Übereinstimmungen mit sich selbst, um die Abgrenzungen und um die Ausgrenzungen von sich selbst, dem Fremden schließlich gegenüber, ganz im Sinne von SOREN KIERKEGAARD (1813 bis 1855), FRANZ KAFKA (1883 bis 1924) und ALBERT CAMUS (1913 bis 1960).

ALBERT CAMUS, der als Beifahrer seines Verlegers bei einem Autounfall gestorben ist, obgleich er eine Fahrkarte nach Paris für die Eisenbahn in seiner Sakkotasche hatte, ALBERT CAMUS,  der Autor des MYTHOS VON SISYPHOS (1942) und der PEST (1947), ausgezeichnet mit dem LITERATUR-NOBEL-PREIS im Jahre 1957, wies mir in seinen Büchern die Richtung, um das Absurde der Absurdität nicht nur zu erkennen, sondern das Absurde auch zu erleben: "Schreiben ist beschreiben".

Alle Materialien, die ANNE & JEAN für die FUND-SACHEN verwenden, existieren im Spannungsfeld des Vergehens, sei es durch Verwesung oder sei es durch Verbrennung. Sachen sind tot. Auch der Leichnam ist eine Sache. Es vergeht die eine Sache von selbst durch Kompostierung oder die Leichen werden begraben oder sie werden verbrannt. Tote Tieren, die von der tierärztlichen Praxis zum Verbrennen gebracht werden, gelten als Sondermüll. In jeder Leiche ist die Zeit der Auflösung auf die Messwerte der Erfahrungen beschränkt.

In einem Manuskript, das ich von ANNE & JEAN erhalten habe, steht der Satz: "Der den Dingen innewohnende natürliche Zeitfaktor ist ausgehebelt." In diesem Satz fand ich das Gegenstück zu DIE NATÜRLICHE ORDNUNG DER DINGE, ein Buch das der Psychiater ANTÓNIO LOBO ANTUNES, geboren 1942 in Lissabon geschrieben hat.

Im abendländischen Kulturkreis ist die Farbe schwarz, das Signal für den Tod und für die Trauer. Schwarz ist die Ölpest. Schwarz ist das Wasser in den Ecken der Hafenbecken. Schwarz ist das Kleid der Priester und der Pfarrer, während der religiösen Feiern und der rituellen Handlungen. Schwarz ist der Ausdruck der Verachtung.

Was ist Ästhetik? Das künstlich Geschaffene ist ästhetisch. Kunst ist künstlich. Kunst ist Surrogat. Ästhetik,als die Lehre vom Schönen und vom Gefälligen, ist längst außer Kraft gesetzt.

Schönes ist nicht zu verallgemeinen. Schönes beruht als Gewissheit einer Person auf Vor-Urteilen. Der Geschmack schwankt von Fall zu Fall. In einer Automobil-Nobelmarke wird nicht die Schönheit des Entwurfes gekauft. Gekauft wird der Status und erworben wird Ansehen. Der Mensch ist nicht mehr der, der er ist, der Mensch ist das, das er darstellt. Die Vertreter der politischen, der wirtschaftlichen und der kulturellen Klasse treten als Schauspielerinnen als Schauspieler auf, die ihre Rollen nicht gelernt haben und die stotternd und die mediengeil diese Republik an die Wand knallen.

Seit sechzehn Jahren beschäftigen ich mich mit den Vermaßungen der ERFUNDENEN WIRKLICHKEIT und der Auslotung der PROJEKTION der REALITÄT für das ICH, das sich auch für die Kunst, also auch für ANNE & JEAN zutreffend öffnet. Die Frage, gestellt vom Psychoanalytiker PAUL WATZLAWICK  hat den Wortlauf: "Die erfundene Wirklichkeit: Wie wissen wir, was wir zu glauben wissen?" Hier sind auch die Fragestellungen zu den Erscheinungen und den Realisierungen der KREATIVITÄT beheimatet. Behauptete und eingeforderte Kreativität, die ohne Geschichte einer Person, die ohne Wissen und ohne handwerkliches Können ist, ist keine Kreativität, ist Lug und Trug. Betrügereien sind allenthalben in der Corporate Identity, in der Unternehmenskommunikation und in der Unternehmenskultur enthalten.

Begriffe bündeln Dummheiten.

Ab-Fall hat ein Inneres und hat ein Äußeres. Zum Äußeren gehört das Nicht-Verdauliche. Zum Inneren gehört die Dumpfheit, das Verdauliche zu ignorieren. Der Kausalsatz von der Ursache und deren Wirkung ist außer Kraft gesetzt und aus dem allgemeinen Bewusstsein vertrieben worden. Der Friede ist dem Menschen nicht gemäß. Das Handwerk des Krieges, den die Menschen in der Familie und in der Firma gegeneinander führen, ist angeboren. Zerstörungen sind allenthalben zu sehen. Trümmer und Ruinen sind überall, denn die Kriege sind kurzatmig, aggressiv, erfolgreich und privat.

Die Werke des Friedens entstehen und gedeihen im Verborgenen. Denn nichts ist verletzlicher als der Friede. Die Botschaft tritt ohne Visier an die Bühnenkante. Ich vermute, daß das die Botschaften der MÖWE JONATHAN und des antiken SYSIPHOS sind. Friede braucht einen langen Atem.

Kapital ist an eine Minderheit gebunden. Der Ab-Fall ist klassenlos. Beides, Kapital und Ab-Fall, sind für die Geldbesitzer vorteilhaft verzinsbar und als Gutschrift profitabel. Die Repräsentanten der politischen und der wirtschaftlichen Klasse brauchen beides: Das Kapital und den Ab-Fall. Verwahrlosungen werden sichtbar im privaten und im öffentlichen Lügen, in den Allmachtsansprüchen und im Größenwahn. Die Tatsachen der Arbeitslosigkeit, der Verschuldung des Staates, der Perspektivlosigkeit der jungen Menschen und des missachteten Sachverstandes stellen die Ausstattung, stellen die Innenarchitektur der Vor-Hölle dar.

Eine kluge Frau, von deren Kompetenz in Geld-Sachen ich überzeugt bin, sagte mir vor vier Jahren bei einigen Gläsern Malt-Whisky in Berlin: "Es rechnet sich nicht, sowohl wirtschaftlich, als auch politisch, die Schöpfung zu retten."

Ab-Fall der Seelen, Ab-Fall des Geistes und dessen Verkitschung in den Verdummungskampagnen im Fernsehen werden begleitet vom Zer-Fall der Seelen und der Auflösung des Geistes. Die auflehnungslose Hinnahme künstlicher Katastrophen ist mehr als sturer Fatalismus. Hinnahmen zeugen von Wahrnehmungsverlusten, die der Nekrophilie, die Tür und das Fenster weit aufmacht.

Heutzutage werden Maulaffentum, Autismus und Analphabetentum fürstlich honoriert. Die Impotenz der Dummheit bestimmt die Wucht der Quantität. Differenzierungen werden nicht wahrgenommen. Die Qualität der Wahrnehmung hängt ab vom Volumen des Wissens über die ein ein Mensch verfügt.

In den Nachrichten des HESSISCHEN RUNDFUNKS - es ist Freitagnachmittag - wird die Verseuchung des Meeres durch fünfundzwanzigtausend Tonnen Dieselöl gemeldet. Die Pest schwappt ein paar Seemeilen vor SINGAPUR auf der Wasseroberfläche. Vorerst wurde der Ölteppich von der Insel Sentosa durch Einsatz hunderter von Menschen und 34 Schiffen ferngehalten. Die Insel Sentosa ist das Ziel von Ausflüglern. Im Meer vor Singapur bleibt nichts mehr, das zu kompostieren wäre.

Der Homo sapiens zerstört den Kreislauf des Kommens und des Gehens, obgleich der Mensch in seiner Existenz von Beginn an festgelegt ist auf die Worte, die die Grenze einer jeder Person markiert, Ankündigungen die im BUCH DER GENESIS (3,19) stehen: "Bis du zurückkehrst zum Ackerboden; vom Ackerboden bist du genommen. Denn Staub bist du, zum Staub mußt du zurück." Die Verwalter der Dogmen im Christentum und im Islam haben die Einsicht, nach dem alles endlich ist, verdrängt und durch die DROGE ERLÖSUNG ersetzt. MOSES, der vom Berge Sinai kam, sah das Heraufkommen der Lebenslügen als Kompensation für Fehlleistungen, als sein Volk verblendet um das GOLDENE KALB tanzte. In einem Wutanfall zerstörte MOSES die Tontafeln, in die die ZEHN GEBOTE eingraviert waren.

Im Angesicht der Katastrophen wird der Wirkungskreis des FREIEN WILLEN weitgehend eingeschränkt. Das ICH ist nicht nur hilflos. Das ICH wird selbst zur Katastrophe. Das ICH flüchtet im Zustand des Leidens, des Versagens und des Scheiterns in die Fragwürdigkeit der Liebe und in die von Befragungen drangsalierte Arbeit.

Was bleibt, ist Stückwerk. Was von Dauer ist, sind Fragmente.

Eine Erinnerung zum Schluß: "Am Allerheiligentag, dem 1. November 1755, morgens kurz vor zehn Uhr, bebte die Erde. Das gewaltigste TERREMOTO der Stadtgeschichte, das die Stufe neun der Richterskala erreichte und in ganz Europa, wie auch von Marokko bis zur Karibik spürbar, legte Lissabon in Trümmer. Die Katastrophe zerstörte nicht nur eine Großstadt, sondern auch das auf Berechenbarkeit angelegte Weltbild der Vernunft und erschütterte die aufgeklärten Geister Europas von Kant bis Voltaire. Noch Jahrzehnte später erregte sich Goethe über die schrankenlose Willkür der Natur. Die Kenntnis von den Grenzen ist alt. Für Ihre Geduld bedanke ich mich.

 

Text Hans F. Krebs, 1997 - für die Ausstellung REZYKLIERUNGEN - Tafeln, Skuplturen und Videos im Gartensaal und um das Schloß Laubach herum, sind die Werke von ANNE FRANQUI & JEAN CORBIER zum Innehalten und Anschauen angeordnet.

Weitere Manuskripte von Hans F. Krebs auf dem Zeitzug

 

 

 

 

 

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