Überfluß: Merkwürdige Verkehrung einer Logik der Wünsche

Von Hans Magnus Enzensberger

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Ich vermute also, daß es ganz andere Prioritäten sein werden, um die es bei künftigen Verteilungskämpfen geht. Knapp, selten, teuer und begehrenswert sind im Zeichen des wuchernden Konsums nicht schnelle Automobile und goldene Armbanduhren, Champagnerkisten und Parfüms, Dinge, die an jeder Straßenecke zu haben sind, sondern elementare Lebensvoraussetzungen wie Ruhe, gutes Wasser und genügend Platz.

Merkwürdige Verkehrung einer Logik der Wünsche: Der Luxus der Zukunft verabschiedet sich vom Überflüssigen und strebt nach dem Notwendigen, von dem zu befürchten ist, daß es nur noch den Wenigsten zu Gebote stehen wird. Das, worauf es ankommt, hat kein Duty Free Shop zu bieten:

1.
Die Zeit. Sie ist das wichtigste aller Luxusgüter. Bizarrerweise sind es gerade die Funktionseliten, die über ihre eigene Lebenszeit am wenigsten frei verfügen können. Das ist nicht in erster Linie eine quantitative Frage, obwohl viele Angehörige dieser Schicht bis zu 80 Stunden in der Woche arbeiten; viel eher sind es ihre vielfältigen Abhängigkeiten, die sie versklaven. Man erwartet von ihnen, daß sie jederzeit erreichbar sind und auf Abruf bereitstehen. Im übrigen sind sie an Terminkalender gebunden, die auf Jahre hinaus in die Zukunft reichen.

Aber auch andere Berufstätige sind an Regelungen gebunden, die ihre Zeitsouveränität auf ein Minimum beschränken. Arbeiter hängen von Maschinenlaufzeiten, Hausfrauen von Ladenschlußzeiten, Eltern von den Verfügungen der Schule ab, und fast alle sind auf Pendelfahrten zu den Spitzenverkehrszeiten angewiesen. Unter solchen Bedingungen lebt luxuriös, wer stets Zeit hat, aber nur für das,womit er sich beschäftigen will, und wer selber darüber entscheiden kann, was er mit seiner Zeit tut, wieviel er tut, wann und wo er es tut.

2.
Die Aufmerksamkeit. Auch sie ist ein knappes Gut, um dessen Verteilung sämtliche Medien erbittert kämpfen. Im Gerangel von Geld und Politik, Sport und Kunst, Technik und Werbung bleibt wenig von ihr übrig. Nur wer sich diesen Zumutungen entzieht und das Rauschen der Kanäle abschaltet, kann selbst darüber entscheiden, was Aufmerksamkeit verdient und was nicht. Unter dem Trommelfeuer arbiträrer Informationen nehmen unsere sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten ab; sie wachsen mit der Reduktion auf das und nur das, was wir selber sehen, hören, fühlen und wissen wollen. Auch darin kann man ein Moment von Luxus sehen.

3.
Der Raum. Was für die Ökonomie der Zeit der Terminkalender, ist für die des Raumes der Stau. Im übertragenen Sinn ist er allgegenwärtig. Steigende Mieten, Wohnungsnot, überfüllte Verkehrsmittel, Gedrängel in den Fußgängerzonen, Freibädern, Diskotheken, Touristenzonen zeigen eine Verdichtung der Lebensverhältnisse an, die an Freiheitsberaubung grenzt. Wer sich dieser Käfighaltung entziehen kann, lebt luxuriös. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich aus dem Warenberg freizuschaufeln. Meist ist die ohnehin viel zu kleine Wohnung mit Möbeln, Geräten, Nippes und Klamotten verbarrikadiert. Was fehlt, ist jener Überfluß an Platz, der die freie Bewegung überhaupt erst möglich macht. Heute wirkt ein Zimmer luxuriös, wenn es leer ist.

4.
Die Ruhe. Auch sie ist ein Grundbedürfnis, das immer schwerer zu stillen ist. Wer den allgegenwärtigen Krach vermeiden will, muß einen hohen Aufwand treiben. Wohnungen kosten in der Regel um so mehr, je ruhiger sie sind; Restaurants, die ihren Gästen nicht mit Gedudel in den Ohren liegen, fordern dafür, daß sie auf diese Belästigung verzichten, höhere Preise. Der tobende Verkehr, das Heulen der Sirenen, das Knattern der Hubschrauber, die dröhnende Stereoanlage des Nachbarn, die monatelang wummernden Straßenfeste - Luxus genießt, wer sich alledem entziehen kann.

5.
Die Umwelt. Daß man die Luft atmen und das Wasser trinken kann, daß es nicht qualmt und nicht stinkt, ist bekanntermaßen keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Privileg, an dem immer weniger Menschen teilhaben. Wer sie nicht selbst erzeugt, muß Lebensmittel, die nicht vergiftet sind, teuer bezahlen. Den Risiken für Leib und Leben am Arbeitsplatz, im Verkehr und im gemeingefährlichen Freizeitrummel aus dem Weg zu gehen dürfte den meisten schwerfallen. Auch in dieser Hinsicht sind es die Möglichkeiten des Rückzugs, die immer knapper werden.

6.
Die Sicherheit. Sie ist wahrscheinlich das prekärste aller Luxusgüter. In dem Maß, in dem der Staat sie nicht mehr garantieren kann, steigt die private Nachfrage und treibt die Preise in die Höhe. Leibwächter, Sicherheitsdienste, Alarmanlagen - alles, was Sicherheit verspricht, gehört heute schon zum Lebenszuschnitt der Privilegierten, und die Branche kann auch in Zukunft mit hohen Wachstumsraten rechnen. Wer sich in den Vierteln der Reichen umsieht, der ahnt bereits, daß der Luxus der Zukunft kein reines Vergnügen verspricht. Wie in der Vergangenheit wird er nicht nur Freiheiten, sondern auch Zwänge mit sich führen. Denn der Privilegierte, der sich in Sicherheit bringen will, schließt nicht nur die andern aus; er schließt sich selber ein.

Alles in allem laufen diese Mutmaßungen auf eine Kehrtwendung hinaus, die reich an Ironien ist. Wenn sie etwas für sich haben, dann liegt die Zukunft des Luxus nicht wie bisher in der Vermehrung, sondern in der Verminderung, nicht in der Anhäufung, sondern in der Vermeidung. Der Überfluß tritt in ein neues Stadium ein, indem er sich negiert. Die Antwort auf das Paradox wäre dann ein weiteres Paradox: Minimalismus und Verzicht könnten sich als ebenso selten, aufwendig und begehrt erweisen wie einst die ostentative Verschwendung.

Seine repräsentative Rolle würde der Luxus damit allerdings endgültig einbüßen. Seine Privatisierung wäre perfekt. Er bräuchte keine Zuschauer mehr, er schlösse sie aus. Seine Logik bestünde gerade darin, sich unsichtbar zu machen. Mit einem derartigen Rückzug aus der Wirklichkeit bliebe der Luxus jedoch seinem Ursprung treu; denn mit dem Realitätsprinzip lag er von jeher im Streit. Vielleicht ist er ja nie etwas anderes gewesen als ein Fluchtversuch vor der Mühsal und der Monotonie des Lebens.

Neuartig und verwirrend ist eine andere Frage, die sich bei solchen Aussichten stellt. Es ist nämlich keineswegs klar, wer in Zukunft eigentlich zu den Nutznießern des Luxus zählen wird. Die herkömmlichen Parameter wie gesellschaftliche Position, Einkommen und Vermögen werden dabei nicht immer den Ausschlag geben. Vieles von dem, was hier zur Debatte steht, wird sich ein Manager, ein Spitzensportler, ein Bankier oder ein hochgestellter Politiker einfach nicht leisten können. Genügend Raum und ein gewisses Maß an Sicherheit können sich solche Leute kaufen. Aber sie haben keine Zeit und keine Ruhe.

Umgekehrt können Arbeitslose, Alte und Flüchtlinge, die zusammen in naher Zukunft die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen werden, in der Regel beliebig über ihre Zeit verfügen, aber es wäre der blanke Hohn, darin ein Privileg zu sehen. Zusammengepfercht in engen Unterkünften, ohne Geld und Sicherheit, werden viele mit ihrer leeren Zeit nichts anfangen können. Es ist schwer zu sagen, wie sich die knappen Güter der Zukunft verteilen werden, aber eines ist klar: Wer davon nur eines hat, der hat nichts davon. Von Gerechtigkeit wird bei alledem ebensowenig die Rede sein können wie in der Vergangenheit. Wenigstens in dieser Beziehung wird der Luxus auch in Zukunft bleiben, was er immer war: ein hartnäckiger Widersacher der Gleichheit.


Auszug aus dem Spiegel 51/1996

 

 

 

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