Geographie meines Lebens

 

Polnische Übersetzung KGB Gedichte

Igor Pomerantsev

"KGB und andere Gedichte"

Grußwort zur Päsentation der polnischen Ausgabe, 9. Juli 2022

 

 

 

Seit fast sechzig Jahren schreibe ich Gedichte. Bedingt durch die Rahmenhandlung der Welt, kann ich mich nicht nur auf die Welt der Lyrik konzentrieren. Das hängt mit der Geographie meines Lebens zusammen, die von Rahmenbedingungen dirigiert wird, die keineswegs poetisch sind.

 Dem Jugendlichen erzählten die Eltern streng vertraulich, dass 1937 der Großvater als Volksfeind verhaftet wurde und als Zwangsarbeiter beim Bau des Rybinsker Stausees tödlich verunglückte. Ein Onkel wurde  wegen der Teilnahme an einer trotzkistischen Verschwörung verhaftet. Das Wissen über die Zusammenhänge, dem Unterschied zwischen öffentlicher Darstellung und persönlicher Erfahrungen hat meine Wahrnehmung von Wörtern beeinflusst, sei es wenn ich einen Park, einen Garten beschreibe oder ein fallendes Blatt mit einem zärtlichen Herbstkuss vergleiche.

Im August 1968, zwanzigjährig, fühlte ich mich - nahezu  -  ganz als Dichter. Ich studierte damals an der Universität in Kiew Technisches Englisch und las daneben Bücher in englischer Sprache, vor allem die metaphysischen Dichter des 17. Jahrhunderts.  Ich war fasziniert von ihren barocken Beschreibungen der Krise der Weltordnung und den Metaphern, mit denen sie sich selbst und ihr Weltbild retteten. John Donnes lyrischer Held verglich sich und seine Geliebte mit zwei besseren Halbkugeln (Wo gibt es zwei bessere Halbkugeln?), die sich gefunden haben und die Liebe aufrechterhalten. (Wenn unsere beiden Lieben - du und ich - eins werden, einander gegenseitig stärken wird die Liebe ewig).

Ich wollte auch Metaphysiker sein, das wurde von den Umständen nicht gefördert. Die Betrachtung des Firmaments wurde durch das Rollen der Panzer Richtung Prag unterbrochen. Dieses Darüberrollen verfolgte mich für Jahrzehnte. Dank des KGB entdeckte ich das Genre des Verhörs und verfasste Lyrik unter dem Titel “KGB und andere Gedichte”.

1980 als ich bereits im Exil war, erfüllte ich mir einen lang gehegten Traum: Ich ließ mich in London,  dem Friedhof der Metaphysiker, nieder und kam dank meiner Radioarbeit dem Sternenhimmel sehr nahe. Das Rollen der Panzer holte mich auch in London - vom Firmament in die Realität - zurück. Davon verstört suchte meine Stimme jahrelang die reine Luft von Spährischen Wellen im Kosmos der Radiowelt. Beiträge über Verhaftungen, Gefängnisse und Lager drängten die Poesie in den Hintergrund. Menschenrechte waren wichtiger als die Befindlichkeiten des Dichters in mir.

Igor Pomerantsev, Serhij Zhadan
2011 in Prag: Igor Pomerantsev, Iryna, Serhij Zhadan

Das Tauwetter der 80er und 90er Jahre verlangte  nach Taten und ließ keine Zeit für Metaphysik. Kolonialkriege haben meinen Wortschatz um die Wörter "Mudschahedin"  (Guerilla-Gruppierungen, die von 1979 bis 1989 in Afghanistan gegen die sowjetischen Truppen und die von ihnen gestützte kommunistische Regierung kämpften) , "Stinger" (Flugabwehrrakete), "Itschkeria" (als Tschetschenische Republik Itschkerien  bezeichnete sich ab 1991 der von tschetschenischen Separatisten ausgerufene, international nicht anerkannte unabhängige Staat)  und "Dschihad" (Kampf auf dem Weg Gottes; Islam) bereichert. 

Heute, in Lublin, würde ich gerne  über Poesie sprechen, aber der gnadenlose Krieg in der Ukraine beraubt die poetische Sprache ihrer existenziellen Bedeutung. Auch in meinem achten Lebensjahrzehnt habe ich den Glauben nicht verloren, dass der Zusammenbruch der Weltordnung aufgehalten wird und die Poesie der Faktor wird, der unser Leben bestimmt

 

 

 

 In Russisch von Igor Pomerantsev verfasster Beitrag, FB 9.7.2022

 

 

 

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