***1975/76

*** © Igor Pomerantsev

übersetzt von Claudia Dathe

 

CzernowitzIm September verwandelt sich mein Herz in eine Kastanie, ölig und fest. Du schaust die Bäume an, und sie werden dunkelbraun. In der prallen Herbstluft, unter dem ungestümen Prasseln der Kastanien, im blendenden Regen – ich blinzle, lächle, blinzle, so scheint es, die Küsse an –  steck deine Hand in meine Manteltasche, schlag den Kragen hoch, der Wind bläst dir in den Rücken, du verwandelst dich in ein Segel, und dein Name steht in Anführungszeichen, in der prallen Herbstluft – keine Angst, ich bin hier, bei dir, für immer – rascheln da nicht die wild wirbelnden Blätterschwärme, piepsen sie nicht, diese Blätter, die wie Vogeljunge fallen, purpurrot und spröde wie  Großmutter in ihren letzten Tagen – Mama, warum musste ich mit? – ich schmiegte mich an deine Hüfte, über uns zischte eine pelzige Birne, trieb einen Glühfaden aus Krebszangen an – warum hast du zu mir gesagt: „Gib der Großmutter einen Kuss!“ – ich prallte zurück wie in einem Sturm und fiel gegen die kalten tastaturgrauen Ofenfliesen, später, auf der Beerdigung sagtest du diesen Satz noch einmal, meine Füße brannten sich in den Boden, „zwing ihn nicht“, mischte sich eine zugereiste Tante ein. „Gena ist schon groß. Er ist ein tapferer Junge und kann sich überwinden. Er geht von sich aus und  erweist seiner Großmutter die letzte Ehre“ – wie ich diese Tante hasste, allerdings schon früher, ich riss mich von den Fliesen los – die Musik verstummte – und hinterließ auf Großmutters Schläfe einen Stempelabdruck – mach’s gut, Babuschka! – Blätter – „das Klatschen einer Hand“, hörst du, Liebes, sie applaudieren uns in der prallen Herbstluft, für uns stoßen die purpurroten Schalen aneinander und schlagen Funken, warte fünf Minuten, ich laufe kurz in eine andere Lebensphase, in ungeheizte, verräucherte Reparaturwerkstätten, wo ich an der Werkbank stand, und wenn eine Frau hereinkam, egal ob die Anwesenheitskontrolleurin oder die Putzfrau, rissen sich alle Schlosser, Dreher und Fräser von ihren Werkbänken, Spindeln und nicht flockenförmigen Profilfräsern los, vergaßen ihre ölgetränkten Schürzen und hielten inne, ich laufe los – die Schweißer erinnern sich noch an mich – und bitte sie um eine Platte mit schwarzem verrußtem Glas, denn die Bäume sind dunkelbraun und die Schalen stoßen aneinander, und du bist schön.

CzernowitzDu betrachtest schon den Schnee, er wird weiß, alle kneifen die Augen zusammen und wenden ihren Blick ab. Atemlos läuft mein Freund, die Brille auf der Nase, die Mütze verrutscht – er kann sie nicht richten – um Mitternacht im Licht der Schneewehen durch die geräumten Straßen, ein Radiogrammophon im Arm, riesengroß, er läuft schwankend, mit ausgreifendem Schritt, das Radiogrammophon quetscht ihm den Bauch, er will zu mir, in meinem Zimmer nähere ich mich – wir warten auf ihn – seinem Mädchen, er nähert sich mir, sie hat abfallende, matte Wangenknochen, nicht Oxana, eine Herde Oxanas, hinauf in den fünften Stock, Stufe um Stufe, schalt bitte den Schnee aus, sonst werde ich blind. Alles sagen, keine Eisberge, keine Subtexte; durch die schmale Zauns-  – auf dem Rasen liegt die lose Latte – ritze schlüpfen wir in den Garten, zum Glück ist es kein Traum, im Traum wäre ich steckengeblieben, du wärst hindurch geschlüpft, ich wäre steckengeblieben, und wenn die Verfolger, kräftige, hurtige Hummeln mit donnerndem Lachen und runden Augen unter dem hohen Kalpak, Kurs auf meinen zitternden Körper genommen hätten, wäre ich erwacht, Gott sei Dank ist es kein Traum, deine Hand liegt in meiner, ich führe einen kleinen bogenförmigen Magneten zu dem festen Apfel, lege den Bogen mit seinen Enden, den kleinen Hufen, da, wo es nackt ist, an die prickelnde Apfelhaut – eine Anschlag! Wieder einmal haben uns die Erwachsenen angelogen, Äpfel enthalten gar kein Eisen, da hängt er und rührt sich nicht; zurück zur Ritze, wieder schlüpfen wir in den Garten, jeder hat eine spitze, angerußte Glasscherbe in der Hand, heute ist Sonnenfinsternis, das Ende der Welt, schau, schau hin, halt die Scherbe ganz am Rand, verschmier den Ruß nicht, drei Jungs und zwei Mädchen stehen da, die Köpfe nach oben gereckt, vier haben Glasscherben, einer, das Söhnchen vom Moppelgeneral, trägt hochgemut eine echte Sonnenbrille auf der Nase, die Glasscherben waren trotzdem besser, als wir sie über die Kerze gehalten haben, und auch jetzt sind sie besser und am allerbesten nach hundert „dann“, als nicht die dunkle Scheibe die Sonnenmembran verschattete – lacht, Kinder, gleich fliegt der Vogel auf! – und die schwarzen tausendjährigen Krähen mit gespaltenen Schwänzen entweichenden Rülpsern aufflogen – meine Hand verschattete deine Apfelbrust, und die Welt stürzte ins Dunkel.

CzernowitzGegen Morgen erkalteten die Schnäbel der Rotkehlchen, Stefka, die Tochter der Wirtsleute, musste mal raus, und ihre Fersen antworteten auf die kalte Frage des Taus: „Nein, uns geht es gut.“ Nein, es ging uns gut, als wir zusammen auf der Wiese saßen und im nahen Fluss Fische und Kinder spielten und Traubenwein durch die Kehle rann, du beugtest dich über die gewellte Decke, die auf dem Boden lag, nahmst Salz, richtetest dich auf, deine Haare flogen hinterher, holten das Gesicht ein, stürmten im Wind voran, hinauf, zur Seite, du lachtest, und der Wind taumelte trunken vom Duft deiner Lippen. Gegen Morgen erkalteten die Schnäbel der Rotkehlchen, und wir balgten uns mit Lodzja von nebenan, ich dachte: wegen Stefkas Beinen -  die der Gerade von zwei Rollen Papier gleichen - den schönsten braunen Beine von ganz Salischtschyky – dich kannte ich ja noch nicht –, und mein großer Bruder –  das Gesicht übersät von Sommersprossen wie Stefkas Garten von Marillen, im Winter verströmte es den Duft der festen süßsauren, samthäutigen Julifrüchte – ging nicht dazwischen, schaute zu, wie ich mich Lodzjas klammernden Griffen zu entwinden versuchte.

CzernowitzDann standen alle auf, die Fische verabschiedeten sich von den Kindern, die Erwachsenen schlugen die Decke zusammen, der von der Kinderhand ausgeschickte, flache Kiesel hüpfte in dreifachem Sprung über die Wasserfläche, zurück im Gänsemarsch, erst an der Straße zogen wir die Sandalen an, streiften uns den Sand von den Fersen, stoben auseinander, die Kinder mal vorweg, mal hinterher, wie finstere Eulen schauten die Pferdeäpfel unter den Beinen hervor, wir liefen miteinander, hinter den Flechtzäunen schlugen die nistkastenförmigen Herzhäuschen mit ihren Holztüren, ich gab dir Gedichte, die ich aus der Stadt mitgebracht hatte und in denen es darum ging, wie sich die Luft erhitzte, wenn ich an dich dachte, und wie im Nachtschränkchen neben meinem Bett das Thermometer platzte, die Luft flimmerte, ein Tropfen Quecksilber über die fahle Decke lief, alle Thermometer in der Stadt platzten und dein Sohn auf dem Quecksilberstrom ein weißes spitzwinkliges Schiffchen fahren ließ. Es zog mich fort, zuerst langsam, dann reißend, ich vergaß Tür und Treppenhaus, rannte los aus dem Nichts – statt in Puffhosen in violetten Damenhosen, einer schwarzen mottenmuffigen Schapka, in Filzstiefeln, die wohl mit Zucker überpudert waren, abseits verschmolzen zwei Schneewehen, eine waagerechte und eine senkrechte: Himmel und Erde, die eine etwas grauer, die andere etwas weißer, mitten im Hof ein rechter Winkel: eine Sprossenwand – zwischen den Querstreben die weiße Himmelswehe, linkerhand Schuppen, sämtlich windbrüchig, kaum hatte ich mich umgedreht, stand Natascha neben mir, pelzumhüllt, schweigend gingen wir hinter den Schuppen, dort, im schmalen Spalt zwischen der Steinmauer und den morschen Brettern schauten wir uns lange an, berührten uns mit den Wangen und liefen auseinander, blieben stehen, kamen zusammen, ohne Sekundanten, berührten uns mit den Wangen und verstanden erst jetzt, dass es Wangen waren, liefen fort, mitten in Jemels Hof, die Klappen der Schapka standen in verschiedene Richtungen ab – für einen Dreier kletterte ich einhändig die Sprossenwand hinauf, jemand brachte Karbid, wir gruben ein Loch, gossen eine Blechdose Karbid und Urin hinein, gelbe Tupfer sprenkelten den Schnee, es wurde wärmer, weil hinter den Schuppen jemand in eine Dose pinkelte, warme Spritzer fallen ließ, dann kraxelte die Dose aus dem Loch und aus dem Schnee, wollte nach oben, ein Feiertag, alle Einwohner der Stadt Tschita, die erst später genannt werden wird, damit in einer anderen Stadt vierzig Zweitklässler den Neuling umringen und kreischend auseinanderlaufen können mit den Worten: „Der ist aus Tschita“, lebten einen kurzen magnesiumgrellen Sommer lang in einem Park, hoben riesige Räder mit auf die Sitze gebundenen Herzen in die Höhe, auf einem Hügel standen, gleichauf mit einem himmelwärts abhebenden Rad, eine Kunstseidenmama und ein Rohseidenpapa, schwarzäugig, mit kleinen kahlen Fjorden, die seine Jugendlichkeit nur betonten, zwei Jungs mit Schirmmützen und Kniestrümpfen, ein Raufußröhrling und ein Birkenpilz, zwei Schritt davor gestikulierte ein Fotograf – lächeln, Kinder! Was hast du erreicht?, fragte mein Bruder, als er nach Kiew kam. Ich strich mir den Bart, ließ den Blick durch mein fremdes Zimmer schweifen. Was hast du erreicht? Am Rand zu balancieren, habe ich gelernt. Sonst nichts. Mein Fleisch und Blut! Wenn seine Frau ihm das Bett bezieht, legt sie zwei Kopfkissen bereit: eins unter den Kopf, das zweite an die Wand, damit mein Bruder nicht im Schlaf mit seinem glühenden Stirnbein Beton und Ziegel durchschlägt.

CzernowitzEs wäre mir peinlich zu sterben: Dann käme nämlich mein Bruder und holte meinen Körper. Die Eisenbahner würden sich weigern, die Leiche zu befördern. Schwer atmend würde mein puterroter Bruder die Verantwortlichen abklappern, ihnen seinen roten Ausweis unter die Nase halten, rumschreien, doch sie würden sich unbeeindruckt zeigen; er riefe dann Mischa und Borja an, zu dritt hievten sie mich aus dem Sarg, zögen mir die Mütze tief ins Gesicht und schleppten mich wie einen Betrunkenen unter den spöttischen Sprüchen der Mitreisenden in den Wagen, so vertieft wären sie in ihre Sache, solche Mühe würden sie sich geben, dass sie darüber vergäßen, dass ich tot bin, und nur mein Bruder, schwer atmend und hochrot, vergäße keine Sekunde lang, dass dieser Wagen, diese Erde, dieses All seinem geliebten und einzigen Bruder zum Sarg geworden war, nicht wahr? Es wäre mir peinlich zu sterben. Ich stehe vom Tisch auf, trete an die fremde Anrichte, finde in der Scheibe die zwei Einkerbungen für die Nägel, schiebe die Scheibe zurück und nehme zwei fremde Weingläser heraus. Ich gehe in die Küche und spüle sie gründlich ab; jetzt kommt mit Sicherheit niemand mehr.

CzernowitzIch rufe – das Fenster ist erstarrt, der Vorhang schlägt nicht hoch, der Regen steht fünfhundert Meter über dem Erdboden – leuchte, plätschre, schwinde – Fenster, Vorhang, Regen – heute nicht euch, heute den Juni in Truskawez herbei. Auf einem gestärkten, scharfkantigen Vorhang fliege ich mit regenzerfurchtem Gesicht in einen feuchten, schimmelig riechenden Trinkpavillon, die Fenster wackeln, die Tassen mit den langen, hohlen Schnäbeln, durch die man das Heilwasser Naftusja mit dem fauligen F in der Mitte saugt, rutschen aus den Händen, die Schlange zerfällt. Ich muss mich sputen, meine Mutter wartet mit einem Mann in der Grünanlage. Nun lassen Sie mich doch durch, ich will nur einen halben Becher, ich bin doch ein kleiner Junge, nun lassen Sie doch die Kinder nach vorne, sonst ballere ich in die Menge, jetzt habe ich mir die Hosen bespritzt, na, sehr schön, bloß schnell zurück. Wie selig sie reden, geruhsam lassen sie sich gegen die Lehne der Bank sinken; ein Wort flattert von seinen Lippen, beschreibt einen unglaublich weiten Bogen zu Mutters rundlichem Ohrläppchen. Aus dem Rasierspalt zwischen Mutters roten Lippen, die aussehen wie im Phonetiklehrbuch, löst sich ein geschmolzener Hauch, kehrt einen Moment lang zurück wie eine Kastanie im Katapult, hüpft, steigt auf, entschwindet unseren Blicken, um zwei Tage darauf auf derselben Bank in seine sichere Hand zu fallen. Und zwischen ihrem Lächeln stecke ich, der kleine Hypochonder; wir sind zu dritt auf einer Wiese, draußen vor der Stadt, Mama zieht den Perlonpullover mit schwarzen Punktknöpfen aus, den ersten hier in Truskawez, die Sonne starrt sie an, er knöpft sein weißes Hemd auf und wirft es lässig ins Gras, sie schauen mich an und prusten los, reißen mir das T-Shirt runter, Sonnenbäder nennen sie das, wo sind der rote und der blaue Hahn, der Duschnippel, die glatte Verkleidung? Mama sitzt auf der Decke, die Beine untergeschlagen, er läuft auf Händen im Kreis, sein hochrotes Gesicht lächelt angestrengt, in den Kniekehlen werfen die Hosen Falten, die Knöchel sind nackt, die Sockenränder zeichnen sich ab.

Wunderbar! Herrlich! Plötzlich gellt von der anderen Seite der Wiese ein Schrei und verstummt, eine Frau mit wirrem Haar, bekleidet und zugleich nackt, läuft von Blüte zu Blüte, fällt davor nieder, schreit auf, läuft davon, fällt wieder, rafft vorn den Rock hoch, drückt etwas – ah – Bienen! an ihre purpurroten Hüften, schreit auf, hastig zieht sich Mama den Pullover über, wir gehen schnell weg, doch der Mann, zu einem Denkmal erstarrt, den Kopf nach unten, die Füße in der Luft, harrt in diesem stickigen roten, von Schreien gepeinigten Brodel aus, neben ihm wiegen sich die aufstrebenden Kamillenköpfchen auf ihren Drahtbeinchen, in der Nähe flimmern die rauen Leiber der Bienen, und die Verrückte mit dem wirren Haar verdeckt mit ihrem langschößigen Rock hin und wieder die Sonne. Na also, deine Hand steckt schon in meiner Manteltasche. Wie dunkel, wie laut. Dieser Herbst dreht sich um dich. Du setzt den roten Ring ab, Laub wird verbrannt, er rollt über den nächtlichen Tisch, wie ein Kosakenzopf fliegt der Rauch zum Zaun, zum Schild an der Pforte „Hunde ausführen streng verboten“, lass uns nicht Hund spielen, lass uns die Allee entlang laufen.

Den ganzen "listopad" – so nennen die Ukrainer den November –  hindurch warten – um den Augenblick abzupassen, wenn die Blätter sich verfärben – als kleiner Junge habe ich mal eine Nacht lang vor dem Käfig eines Kanarienvogels gesessen und darauf gewartet, dass das Vogeljunge schlüpft – wir werden den Moment verpassen, denn nicht die Wipfel ändern sich, sondern mit uns passiert etwas: die Linsen erkalten, die Hornhaut verhärtet sich, da, an diesem Abhang, ist das Grab eines Wissenschaftlers, er wollte unsere Leben verlängern, Gott sei Dank ist nichts draus geworden, die Schulmädchen stopfen sich die Ranzen mit Kastanien voll – da, bitte, nehmt sie ruhig, verteilt sie zu Hause an eure jüngeren Geschwister, wenn sie auf euer Klingeln hin zur Tür stürzen, lass uns zum Abhang gehen, schieb deine steifen Finger in meine Achselhöhlen, je kälter die Luft, umso feuriger die Farbe. Du hast das Gesicht einer Czernowitzerin. Alle Menschen sind aus Czernowitz. Es ist ein Vokalschmaus, diese barocken Laute, diese traubigen Namen: Mara, Isja, Fira, Schela, Ruwa. Ich entwerte die Fahrscheine zur Ansage des Fahrers: „Die Straßenbahn fährt nur bis Tschernowzy.“ Diese feinen Namen und Gesichter. Jemand hat mit einer Spitze die Fingerkuppe verletzt, eine Nadel in die glänzende schwarze Scheibe gerammt, unter der Nadel hervor singt ein Märtyrer: „Ich danke dir für alles, dafür, dass du so schön bist …“ Und wenn die feine Wange der Neuntklässlerin sich deinen wohl unbeholfenen Lippen nicht entzog, hast du das als Glück empfunden. Und wenn du mit einem feinen Lächeln bei der Damenwahl aufgefordert wurdest, war dir klar: einen größeren Sieg würdest du nie erringen. Diese Mädchen verschwanden als erste – wer erwartete sie in Haifa, Netanja, Jerusalem? Ich setze dem Fahrer die Pistole an den Hinterkopf: „Vergessen Sie Tschernowzy. Sie bleiben in Kiew. Ich will jetzt aussteigen, in der Krepostnoj pereulok.“ In meinem Rücken gackern zwei Mädchen: „Ich habe Mama durchs Fenster gesehen, sie wartet an der Haltestelle auf mich, Marischa, es ist schon spät, lass uns aussteigen, Mama wartet.“

Du hast das Gesicht einer Czernowitzerin. Andere Gesichter gefallen mir nicht. Deine Mutter hat gesagt, ihr hättet in Tschernowzy Verwandte. Sie seien Zahnärzte. Wie heißen sie, nun sag schon! Ich hab Angst. Mach die Fensterklappe auf! Hast du Würfelzucker? Ich krieg keine Luft. Ich habe mir die Jacke über den nackten Rücken gezogen und stehe im Balkonkasten auf einem kleinen Fleckchen Zement. Irgendwo weit oben surren die Seelen der Weihnachtsbäume mit ihren Düsentriebwerken. Direkt aus dem Himmel schwebt einer mit dem Fallschirm herab, die Finger an die Lippen gelegt. Der verstrubbelte Kopf des Nachbarn lehnt sich aus dem Fenster im dritten Stock: „Hören Sie auf zu klopfen! Nichts im Sinn, als die ganze Nacht zu hämmern!“ Das sind nicht wir. Das sind unsere Herzen. Das sind wir. Meine Mutter hat immerzu Wörter erfunden. Die anderen Kinder haben mich nicht verstanden. Wenn ich krank war, sagte sie: „Mein armes Krankbein.“  Das war klar, denn mit einem adjektivischen Bestimmungswort zum Hauptwort ließen sich wunderbare Zusammensetzungen bilden, die etwas Anschauliches über den Körper aussagten, wie „Schlaukopf“ und „Dickbauch“ zum Beispiel. Und wenn ich aus der Dusche kam, sagte sie: „Mein blitzblankes Schnuckelputzerchen.“ Meine Mama dachte, ihr zweites Kind würde ein Mädchen. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, fragte sie mich: „Was für Noten bringt meine Einser-Prinzessin nach Hause?“ Was für Noten? Mein Vater geriet in Wut, als ich ihm sagte, dass ich mein literarisches Talent, wenn überhaupt, dann von Mutter hatte. Vielleicht haben mein Bruder und ich unsere Neigung zur Wut vom Vater geerbt? Mit der „Einser-Prinzessin“ zieht mich mein Bruder heute noch auf. Ich erhielt fünf Küsse zum Frühstück und hundert vorm Schlafengehen. Unsere Liebe zueinander war kreatürlicher Art. Wenn jemand lange fort gewesen war und endlich auf der Veranda stand, schrien wir, gaben sibyllinische Laute von uns, begrüßten, huldigten, jauchzten, befühlten uns mit Händen und Lippen, und erst dann ging das Ausfragen los. Ich bin mit Küssen groß geworden. Du darfst nicht zulassen, dass ich wenig küsse. Ich schalte die Stehlampe ein und setze mich schreckstarr aufs Kissen: Über die Bettdecke, an der Wand, überall kriechen pralle, vollgesogene Wanzen. Wenn man sie mit einer Nadel anpiekst – wie man die Luftballons der kleinen Mädchen auf den Demonstrationen zum Ersten Mai oder zur Oktoberrevolution anpiekst – platzen sie, peng, und weg sind sie. Im Zimmer ist es kalt, die Heizung funktioniert nicht. Nachts wache ich glücklich auf: Ich bin allein! Bloß keine Minute verlieren – ständig muss ich mir vergegenwärtigen und mich darüber freuen, dass ich allein bin. Hastig ziehe ich mich an und setze mich an den Tisch, weil es mir vor der Wanzenhöhle graut.

Mich schaudert: Würde ich tatsächlich, wenn ich erwachsen wäre, wie alle anderen Männer schnarchen und schniefen, krächzen und schnauben? Mal ehrlich, würdest du fünf Jahre Uni für eine gute Metapher opfern? Und ob. Wir laufen durch den anrüchigsten Bogengang der Stadt, 40 Meter lang, über hallendes Pflaster, über uns ein Steingewölbe, straßenseitig Säulen. Hier beginnt und endet der Wind. Zur Musik, die aus den fieberheißen Fenstern der beiden Restaurants quillt, trägt er dreizehnjährige Verehrerinnen, Sylvani, ihre kalten und wie Wattebäusche in Puderdosen rosigen Gesichtchen sind erhitzt, ihre Äuglein wandern erregt über mehrere Flugbahnen gleichzeitig, sie kommen aufeinander zu wie im Spiel Pilei, Pilei, her mit dem Pionier. Im Hof hinter den Restaurants schlafen die Leute jeden Abend zu Orchestermusik ein. In diesen Höfen leben Kinder. Jeden Abend starren die mürrischen Jungs auf die Fenster vis-à-vis. Sie gehören zum Grand Hotel, wo die Dienstreisenden ihr Mütchen kühlen. Dieser Hof liefert der Stadt Perverse mit finsteren Brauen. Ich habe Mädchensandalen an. Hinter dem hohen Maschendraht, der den Jasmin, mein Haus und mich vom Nachbarhof trennt, spielt Asa Tischtennis. Das Geviert ist gepflastert und von dumpfen, grauen Mauern eingefasst, nur durch den Maschendraht dringen Licht und Duft von unserem Jasmin herein. Um in den Innenhof zu gelangen, muss man auf die Straße hinaus-, ins Nachbarhaus hineingehen und ohne abzubiegen durch den Katzenflur laufen, bis man in den Hof kommt. Ich darf in den Nachbarhof. Aber ich schäme mich wegen der Sandalen. Nachts wache ich beglückt auf: Der Maschendraht ist gerissen, der Jasmin ergießt sich in den Hof, überflutet ihn, wir schwimmen und spielen mit Tennisbällen Wasserball. Unsere Füße sind unter Wasser, so sieht keiner meine Sandalen. Dafür kann ich in ihnen gut rennen. Vom Mittag bis zum Abend jage ich Berele über den Asphalt, übers Pflaster, durch die Gassen, über die Dächer. Warum, habe ich vergessen. In der Dunkelheit leben die Dächer und die Baumrinde von der Erinnerung an das Licht. Sie kühlen ab, sind aber noch warm. Ich ertaste sie; in den rostbraunen Körnchen, die sich an die Finger heften, in den Rissen der Rinde siedet noch immer die schwere Schwüle; die Wange an die Rinde geschmiegt, möchte ich meine Handflächen nicht vom Dach lösen, doch Berele rennt weiter, zeigt ab und an sein scharfes Profil; unterwegs trinke ich Wasser aus den Schläuchen im Hof, das Nass kommt kaum in meinem Mund an, es reißt sich los, will auf die heißen Pflastersteine springen, wir jagen Berele, und als er die ganze Stadt abgerannt ist und erschöpft an einer hohen Mauer niedersinkt, weiß ich nicht, was ich mit ihm machen, wofür und wie ich mich rächen soll. Ich gehe mit Asa zu dieser Mauer – Berele ist längst fort – ich drücke Asa – noch jetzt ist ein Abdruck ihres fragilen halb kindlichen, halb fraulichen Körpers zu erkennen  – in die Wand und beiße ihr die Lippen auf, später erzählt sie allen, sie hätte sich mit Heidelbeeren den Bauch vollgeschlagen, und als ich für einen Augenblick von ihrem Schlüsselbein ablasse, sehe ich über meinem Kopf ein winziges, dominosteingroßes Fenster, sehe Licht und begreife, dass es eine Toilette sein muss, und wenn aus diesem Fenster jetzt ein Ton dringt, dann kann ich meinen zappelnden Archaeopteryx nicht länger gegen die verputzte Wand drücken – also stelle ich mich auf die Zehenspitzen, taste nach der Öffnung, ihre Brust bleibt gehalten, tippe das Fenster an und stoße es zu. Einen Moment lang habe ich deine Hand vergessen, und sie ist kalt geworden. Wir gehen in die Bibliothek. Wir wollen uns anmelden.

Drei befreundete Männer nennen ihre Namen, ich höre zu. Nationalität? Jude. Jude. Jude. Jetzt bin ich dran. Die Frau in einem dunkelblauen Kittel nimmt meinen Namen, das Geburtsjahr und den Geburtsort auf. Nationalität? Jude. „Nein“, sagt sie sanft, „sicher bist du Russe, du weißt es nur nicht.“ Mit Tränen in der Stimme brülle ich den ganzen Lesesaal zusammen – alle schauen von ihren Büchern hoch, ich werde auch jeden Tag hierher kommen und mich voller Schrecken in die zottigen dichten aserbaidschanischen Märchen einlesen, in denen jede Zeile von Asa handelt – ich bin Jude! Und kein Russe. Wenn sie Juden sind, bin ich auch einer. Fest drücke ich deine Finger, sie werden warm, du beginnst zu atmen, öffnest die Augen, deine Lippen suchen mich, finden mich, draußen taut der Schnee. Ich krieche auf das schneeweiße Laken zurück und knipse die Stehlampe aus. Wie ein Radrennen rollt der Herbst durch die Stadt, mal hängt er zurück – dann sitzt ihm ein Notarztwagen mit einem roten Kreuz auf jeder Seite im Nacken, mal prescht er im gelben Trikot voran, Kinder drehen sich auf einem Karussell, herausgeschleudert von einem Diskuswerfer, mit der einen Hand greifen sie in die Mähne des stämmigen Ponys und in der anderen halten sie ein angebissenes Stück Honigkuchen; Parks fliegen vorbei – mit Karussells, Honigkuchen, Teufelsrädern, Gleithörnchen, Kindern, die den Gleithörnchen Brotkrümel zuwerfen, mit Verliebten, die in dornen- und wurzelüberwucherten Hecken rascheln, mit eleganten Orchestermusikern in cremefarbenen Einreihern mit breiten abgesteppten Revers und beigen Schlaghosen auf runden Bühnen, mit einer Sängerin, die eine Hand so weit nach hinten schleudert, dass ihr Dekolleté platzt, die zweite Hand hat sie ins Mikro gekrallt, mit einem Freilufttheater, das seine Begeisterung auf den runden, entblößten Schultern der Sängerin abladen will, mit Kindern, die den geflickten Bretterzaun des Freilufttheaters nach einer Lücke, einer Ritze, einem Spalt absuchen, das Rechenbrett fällt auseinander, von den Querstreben lösen sich die Kugeln – ein Zehner, dann noch einer – die Teilnehmerinnen der Friedensfahrt, ihnen nach, die Hände zum Himmel gereckt, rennen die Buchhalter, die Kassierer, die Rechnungsführer in Ärmelschonern aus Satin, bebrillt, in Hauslatschen, die sie nach Dienstantritt überstreifen; hochkant aufgerichtet laufen Beete, Springbrunnen, Stadien, Pferderennbahnen, hüllen die auf die Bürgersteige gekippten Menschen, Hunde und Zierfische in Veilchen, Spritzer, Pfiffe, Getrampel, das vom Knirschen der Schottersteine geschluckt wird, dann rollen die Römer in ihren Streitwagen auf den Platz, in der Sonne dampfen die Harnische, die Speerspitzen schmelzen, die Oberschülerinnen winseln, die Pferde schnauben, die bildschönen Sklavinnen rennen, die in Atlas gehüllten Hände vors Gesicht geschlagen, die Steinschleudern pfeifen, den getroffenen Gladiatoren spritzt das Blut aus der Kehle, wie ein Radrennen rollt der Herbst durch die Stadt, im gelben Trikot, reißt sich los vom Ast, von den geliebten Lippen, von der Zeit, sprengt mit seinem Atem das Spinnennetz, ohne uns, ohne uns …

Lass uns auf den Markt gehen, Liebes, es ist schon Abend, das Fegen ist vorbei, nichts als Katzen und Tauben, eine liebliche Ruhe, rutsch nicht auf einer Melonenschale aus, deine Aprikosenlippen, deine Wangenknochen, die nach Honigmelone duften, da, zwischen den Reihen mit Holzbuden gleitet ein Mädchen, überm Ohr ein Kirschenpaar, siehst du sie? Ich verlasse den Balkon, streife die Jacke vom nackten Rücken und kehre zu dir zurück. Fest drücke ich deine Finger, sie werden warm, du beginnst zu atmen, öffnest die Augen, deine Lippen suchen mich, finden mich, deine Lippen erkennen meine Schultern und freuen sich, draußen taut der Schnee; der Herbst rollt in einem Radrennen durch die Stadt. Vier Farben, vier Düfte hat das Jahr, jetzt ist es dunkelbraun, jetzt ist es rauchig, damals war es schneeig, damals war es betäubend. Alle haben sich in ihre Zimmer, Kammern und Aschekästen zurückgezogen. Du stehst im Dunkeln auf der anderen, der schwarzen Seite des Fensters, du siehst alle, dich keiner, du siehst, wie sich die ermattete Tanne mit ihren Nadeln reckt, Harztröpfchen treten am Stamm aus, alle sitzen am Tisch: Mutter, Vater und zwei Jungs, sie trinken dampfenden Tee, füllen Kirschmarmelade in Schälchen, der Kleine isst eine Quarkschnecke, zuerst knabbert er den knusprigen zartrosa Teigrand ab, das Innere – die Quarkfüllung mit den Rosinen, das Leckerste – hebt er sich für zuletzt auf. Der Große beugt sich zum Kleinen hinüber – die Eltern sind – das siehst du an den Bewegungen ihrer warmen, feuchten Lippen – ins Gespräch vertieft – und zeigt zum Fenster, du prallst erschrocken zurück, ganz umsonst; während der Kleine auf die mit dicken Eisenblumen überzogene Scheibe schaut, in die du ein nagelgroßes Loch gehaucht hast, schnappt sich der Große das Schneckenherz und stopft es sich in den Mund. Das Gesicht des Kleinen zieht sich zusammen, die Mundwinkel fallen herab, wahrscheinlich weint er laut, doch für dich lautlos, die Eltern schimpfen mit dem Großen, die Mutter gibt dem Übervorteilten eine neue Quarkschnecke, zupft den Teig ab, der Kleine beruhigt sich. Sie dürfen im Wohnzimmer schlafen, unterm Tannenbaum, sie liegen im Bett und lauschen im Dunkeln auf den Baum; alle fünf Minuten greift der Kleine unters Kopfkissen und befühlt den Schaft seines neuen Dolchs. Und in den Speisekammern verstecken sich die Mäuse unter Velourskapuzen. Gürkchen, kleines Gürkchen, sei auf der Hut, in der Ecke sitzt das Mäuschen, dein Schwanz schmeckt ihm gut. Gekrümmt flitzen sie hin und her, stoßen gegen Drei-Liter-Ballons Fruchtlikör, die letzten Krümel sind verzehrt, sie rennen mit ihren schnurgeraden Schwänzen scheppernd gegen die Gießkannen, die noch nach Dill riechen, gegen die im Dunkeln kupfern funkelnde Konfitüreschüssel. In den Aschekästen lärmen Hausgeister, Dämonen, Vampire, Wiedergänger; sie kennen nur zwei Laute: u und hu, uuu und huhuhu… Mein Bruder bindet mir eine lange Krawatte, mein erstes Silvester fort von zu Hause. Ljudotschka Krinizkaja wird von ihrer großen Schwester Lara gebracht.

Wir kennen Lara noch, sie war auf unserer Schule, jetzt ist sie richtig erwachsen, studiert im zweiten Jahr an der medizinischen Hochschule. Sie ist nett, ihre Klamotten hat sie aus Westpaketen. Lara mustert uns streng, ohne den Pelzmantel auszuziehen: Und benehmt euch ja anständig. Ich sage mit hölzernen Lippen: „Kommen Sie nach Mitternacht noch mal vorbei!“ Sie sieht mich, antwortet nicht, geht weg. Plötzlich ist alles leer. Halt, Gena, trink nicht, vielleicht kommt sie zurück. Tanz, das Licht ist aus, schau, alle Mädchen wollen dich berühren. Am Morgen, nach dem Aufstehen, erfahre ich, dass Lara da war. Ich begreife, dass sie wegen mir, zu mir gekommen ist. Die Krawatte hat mir den Hals aufgerieben. Ich hebe das Kinn und streife sie ungeschickt ab, der Knoten löst sich. Macht nichts, ich habe ja meinen großen Bruder. Sie hat Ljudotschka abgeholt und ist wieder gegangen, ohne den Pelzmantel auszuziehen. Mein Bruder bindet die Krawatte neu: ruck, zuck und fertig. Prosit Neujahr, viel Glück! Auf ein wundervolles 5729! Du bist ungefähr viertausend Jahre älter als ich, Liebes. Du musst nicht weinen, hast du etwa vergessen, was der weise Esra gesagt hat? Es kommt ein neues Jahr für die Bäume, die Vögel, für uns beide. Blast den Schofar! Bringt Datteln und rote Rüben, Wein und Porree, Feigen und Honigäpfel, legt einen Hammelkopf auf den Tisch. Sollen die Juden aus Belze und Stanislaw, aus der Provence und Grenada ruhig vor Neid platzen. Rosch ha-Schana! Rosch ha-Schana! Leschana towa tikatewu! Wie laut die neuen Kastanien auf das Verandadach poltern. Ich hege und küsse dich. Pflege und küsse dich. Hätschle und küsse dich. Alle Rinnen quellen über vor Kastanien – hörst du? Die Telefonleitung ist von Kastanien verstopft, doch meine Küsse – hörst du? – laufen tropfenweise, wie im Gradierwerk, durch den Draht. Leicht und frei strömen sie aus allen Abflussrohren. Die Kinder halten ihre nackten Fersen hinein. Die Kinder warten auf den Abend.

Rosas Fenster gehen auf den Hof hinaus. Wenn man auf die Klopfstange klettert, auf der man Teppiche und Läufer vom Staub befreit, kann man in Rosas Fenster schauen. Abends, wenn unsere Väter an den Kurzwellensendern ihrer Radios der Marken Rekord, Ural und Baltyk kleben – zu mehr reicht ihre Zivilcourage nicht – bekommt Rosa Besuch von Freundinnen und Offizieren. Wenn man auf die Klopfstange klettert, kann man zehn Uhr abends, wenn am jüdischen Himmel die gelben Sterne aufziehen, sehen, wie Rosa in einem Zimmer mit gedämpftem Licht auf einem runden Tisch im Tandem mit ihrem eigenen Schatten zu einer kaum vernehmbaren, süßlichen Musik, umringt von den zusammengedrängten, angespannten Silhouetten der Gäste, Bauchtanz zeigt. Immer mal wieder ruft eine Mutter oder ein Vater einen der kleiner Spanner nach Hause: „Komm hoch, Fima!“, aber wir überhören das: Abends ist es unsere Aufgabe, Rosas Bauch zu beschwören. Nur Edik kommt nicht zur Klopfstange. Seine Mutter ist mit Rosa befreundet. In seinem Beisein vermeiden wir Gespräche über unser Abendleben. Im Herbst verhängt Rosa die Fenster mit schwerem Tuch, und den ganzen Winter und den ganzen Frühling hindurch warten wir, dass der Mai kommt und die Saison eröffnet wird.

In einem grünen Mai, als aus allen Fenstern ein und dieselbe Stimme Ti-schi-na sang, die ganze Stadt Eddie Rosner, der goldenen Trompete aus Lemberg, huldigte, als die Czernowitzer Jungs auf dicken Gummisohlen und mit ausladenden Haartollen auf der Kobyljanska-Straße herumspazierten, nähte meine Mutter meinem Bruder für den Abschlussball ein Hemd mit einem auffälligen Muster, und an dem Abend, als er das Hemd zum ersten Mal trug, entdeckte ihn Rosa und lud ihn zu sich ein. Ich hänge an der Klopfstange – „Gena, komm heim!“ – und versuche mit entzündeten, weit aufgerissenen Augen seinen Schatten zu erkennen. Bevor er nicht zurück ist, kann ich nicht einschlafen. Er zieht sich flink aus und legt sich hin, ohne eine Wort zu sagen, nicht einmal die Lampe schaltet er ein. Er atmet irgendwie anders, ungewohnt. Nachts finden sich die Hunde in Rudeln zusammen und streunen durch die Stadt. Wenn der erste Regen oder Schnee fällt, kommt es dir so vor, als seiest du an einen fremden Ort gereist. Der erste Schnee, das ist das Kratzgeräusch von Sperrholz- und Metallschaufeln in trüben Morgenstunden auf dem Bürgersteig, ist der Sonntag, sind die Ferien, wenn sie euch als ganze Klasse in den Zug stecken und ihr am nächsten Morgen schon in Uzhgorod oder Minsk seid, das ist Urlaub, wenn du mitten im Winter nach Miskhor oder nach Jalta aufbrichst und deine Halbkugel betrügst: Den ersten Frühling erlebst du im Februar auf der Krim, den zweiten im April bei dir zu Hause. Sie finden sich zusammen und fühlen sich wie Wölfe. Bill führt das Rudel an.

Die Jungs aus der ukrainischen Schule, in deren Mensa es die ewig gleiche Wurst gibt, die alle über haben, nennen ihn Bilyj. Er muss ja besser wissen, wie er heißt. Bill ist ein stattliches und schönes Tier, hat ein bisschen edles Blut in seinen Adern, ist es gewöhnt, dass man ihn liebt, hat etwas zu bieten. Eine halbe Körperlänge hinter ihm läuft Ryzhyj, ein Mischling mit einem breitknochigen russischen Kopf, dahinter Paket, der Stiefsohn aus der Molkerei am Stadtrand, ihnen folgen ein Dutzend anderer Hunde, von der Sorte, die nicht mal einen Namen hat, und als allerletzter kommt ein winziger verirrter-verwirrter, leidgeplagter, angstgepeinigter Pinscher, der mit Aushängen an allen Straßenlaternen in den Außenbezirken und im Stadtzentrum gegen eine hohe Belohnung gesucht wird. In zehn Metern Abstand folgt ihnen über die Dächer eine glänzende weiße Katze mit einer grünen Kappe – sie sucht Abwechslung und Abenteuer. Nachts. Im Zimmer einer Gemeinschaftswohnung liegt ein Student auf einer Klappliege. Auf dem Sofa daneben schläft lautlos seine Mutter. Der Student hält sich ein Kofferradio ans Ohr und dreht langsam am Senderrad.

Er wartet. Vor einer Stunde hat er seine Freundin, auch Studentin, ins Wohnheim begleitet. Sie hat ihm erzählt, sie sei schwanger. Lange liefen sie schweigend. Dann hatte er ihr vernünftig, wenn auch sehr langsam, die zwei Varianten erläutert, die in Frage kamen: entweder sie behielten das Kind, dann müssten sie so schnell wie möglich heiraten, wenn er sich nicht irrte, kannte seine Mutter sogar jemanden im zuständigen Standesamt, oder sie würden die Schwangerschaft unterbrechen, dann könnte man es mit heißen Bädern, Askorbinsäure und Massagen versuchen, und wenn das fehlschlug, bliebe noch die Abtreibung. Die dritte Möglichkeit – sie behält das Kind und zieht weg – das sei kindischer Firlefanz, der es ihr zwar moralisch leichter machen würde, ihn aber in Gewissenskonflikte brächte. Aus dem Wohnheim, in dem alle noch wach waren, kamen hin und wieder Studenten, Jungs in blauen Trainingsanzügen und figurbetonten Hosen, und Mädchen, ebenfalls in Trainingsanzügen. Sie  waren aufgekratzt, einfach so, ohne erkennbaren Grund. Ihre Gesichter glühten. Es hatte den Anschein, als würden sie etwas erledigen, unternehmen, voll beschäftigt sein.

Ein Feuereifer wie in der Schule. So malträtieren sich Fünftklässler bis zum Umfallen, immer wieder finden sie Kraft und Wut – bis zum Stundenklingeln, um sich dann mit funkelnden Augen und hochroten Wangen in die Bank fallen zu lassen und heimlich unter der Bank mit schmutzigen, schweißnassen Fingern Brotstücke und Käse von ihrem Pausenbrot zu pulen. Diese Studenten lebten, ohne es wahrzunehmen. Mal lernten sie für Prüfungen, mal beklebten sie die Zimmerwände mit Fotos aus polnischen Zeitschriften, mal fuhren sie nach Hause, nach Nowoselyzja, Putyla, Tschertkow, Rachow, Ternopil und wie die Käffer sonst noch hießen. Sie hatten zwei feste Angewohnheiten: Die erste war, über Juden zu lästern, etwas harmloser zwar, als ihre Väter es getan hatten, trotzdem war es ein Lästern, und das, obwohl sie hier in der Stadt echten Juden begegneten und sie näher kennenlernten, ja sich sogar mit ihnen anfreundeten, sie respektierten und mochten, aber dieser andere, eher imaginierte als leibhaftig vorhandene JUDE hatte mit den echten Juden in ihrem Bekanntenkreis nichts zu tun. Er war so etwas wie eine heidnische Gottheit, eine dunkle Macht, die es zu verfluchen und zu hassen galt, toi, toi, toi! Die zweite Angewohnheit war ihre Leidenschaft für Volleyball.

An den unmöglichsten Plätzen, notfalls im Korridor, spannten sie ihr Netz, wählten Mannschaften und spielten Tag und Nacht durch. Sie machten Flatteraufschläge auf den Finger überm Netz, fielen selbstvergessen, schlitterten auf der Brust mit zum Po gedrehten, gespreizten Beinen, schmetterten mit einer solchen Kraft, dass auf dem gegenüberliegenden Punkt der Erdkugel Steine bröckelten und die Affenbrotbäume bebten, sie sprangen weit hoch und formten aus vier Händen einen unbezwingbaren Block. Und dann hatten sie noch eine Gewohnheit, es war eher die Erinnerung an eine Gewohnheit, die sie schon seit der Bronzezeit, ach was, seit der Steinzeit, ja sogar seit dem Mesozoikum, dem Devon, pflegten: Sie träumten von Amerika, Kanada und Australien. Sie taten das eher selten, denn so schlecht ging es ihnen nicht, dennoch träumten sie manchmal davon, laut oder im Stillen. Beim Abschied, als sie sich geküsst hatten, sagte sie: „Kann sein, dass sich die Ärztin geirrt hat. Ich glaube, da tut sich gerade was in mir drin.“ „Wenn’s losgeht“, sagte der Student, „dann ruf mich an, so in einer Stunde etwa, gegen zwölf, und leg auf, bevor ich rangehe. Du kennst ja unsere Mitbewohner.“ Langsam dreht er am Senderrad. Heiser singt Edith Piaf, über die Liebe wahrscheinlich. Mit einer vor Weisheit und Nachsicht strotzenden Stimme wendet sich der BBC-Kommentator Anatoli Maximowitsch Goldberg an seine Hörer. Er schwelgt förmlich in Mitleid mit dieser übergeschnappten Welt, die auf den Abgrund zusteuert. Der Student versteht nichts. Er wartet auf den Anruf.

„Wann“ – im Flur schnarrt das Telefon und verstummt gleich darauf – „wird die Menschheit endlich erwachsen?“, fragt Anatoli Maximowitsch. Der Student erkennt am Atem der Mutter, dass sie wach ist. Auch alle anderen Mitbewohner sind wach. Wie würden sie frohlocken, wenn der Anruf für den Studenten wäre. Dann könnten sie seiner Mutter eine ganze Woche lang in der Küche Vorhaltungen machen wegen dieser „endlosen nächtlichen Anrufe, nach denen man eine ganze Packung Faustan braucht, damit man überhaupt ein Auge zutut.“ Aber sie haben umsonst ihre Ohren gespitzt. Es klingelt nicht noch einmal. Hunde in der Nacht. Ein Halbwüchsiger kommt aus dem Haus. Seine Großmutter liegt im Sterben. Er trägt zwei schlaffe, zusammengefaltete Sauerstoffkissen unterm Arm. Er ist auf dem Weg zur Nachtapotheke. Zwei Straßen weiter. Bei der Apotheke wohnt Ida Brodezkaja. Sie ist ein Jahr älter und geht in die Neun A. Seine Großmutter ist ein altes Ekel. Keiner weiß das jetzt besser als er und seine Schwester, sein Großvater ist schon tot. Seine Schwester und er haben sich an die Stiche der Großmutter gewöhnt – sie könnten glatt als Imker gehen. Als seine Schwester vier war, hat die Großmutter zum ersten Mal Nutte zu ihr gesagt. Die Eltern wollen davon bis heute nichts hören. Die Eltern haben keine Ahnung. Sie hielten den Großvater für den Ausbund der Hölle. Weil die Großmutter alles geschickt eingefädelt hatte. Als seine Schwester in die Schule gekommen war und ihre Freundinnen zu Besuch kamen, stachelte die Großmutter absichtlich im Nebenraum den Großvater auf, was nicht schwer war, und er fluchte wie ein Bierkutscher. Seine Schwester verging vor Scham. Von da an ignorierten die Eltern den Großvater. Abends saß er allein vorm Fernseher, aufrecht, aber traurig, und dem Halbwüchsigen, der damals noch ein Kind war, tat er leid. Der Großvater hatte immer eine Dose Fruchtdrops in der Hosentasche. Er schüttelte sie laut – das war das ultimative Zeichen für die Enkel.

„Jeder nur eins!“ Jetzt lag die Großmutter, das Ekel, im Sterben. Seit der Junge lesen konnte, glaubte er dem, was in Kinderbüchern stand, kein Wort mehr. Kein einziges handelte von einer Großmutter, die ein Ekel war. In allen Büchern waren die Omas gütig, dick und liebevoll, sie trugen eine Brille und strickten. Seine hingegen war gallig, flachbrüstig, glupschäugig, bärbeißig und bissig. Der Halbwüchsige genierte sich wegen der schlaffen Sauerstoffkissen. Wenn er mit diesen Kissen jetzt Ida Brodezkaja über den Weg lief, würde er vor Scham im Boden versinken. Aber es war schon spät, und sie schlief längst. Im vergangenen Jahr wäre er beinahe gestorben. Es war Ende Dezember. Die Schüler der siebten Klasse nahmen zum letzten Mal an der Feier am Vormittag teil. Die Achtklässler hatten ihre Veranstaltung bereits am Abend. Margarita Lwowna, seine Klassenlehrerin, galt als die beste Lehrerin der ganzen Schule. Ständig wurde sie mit Wimpeln und Urkunden für die beste Klasse ausgezeichnet. Sie berief eine Elternversammlung ein und bat die Eltern, für jedes Kind ein Kostüm zu nähen. Auf ihrer letzten Feier am Vormittag wollten sie zeigen, dass man sie nicht umsonst zur besten Klasse gekürt hatte, dass sie nicht nur ausgezeichnet lernten, sondern es ebenso verstanden, sich zu amüsieren. Der Halbwüchsige konnte sich nicht vorstellen, wie man sich mit einer Maske oder in einem Kostüm amüsieren sollte. Die Kostüme schnitten ein; laufen, springen, leben – all das war unbequem. In einem anderen Jahrhundert, für andere Leute mochte das gang und gäbe, ja sogar lustig gewesen sein. Dem Halbwüchsigen gefiel Mister X, nur das Ende des Films fand er enttäuschend. Als der arme und schöne Mister X seine Maske abnahm, war er hässlich. Der Halbwüchsige bekam ein Clownkostüm mit einer dämlichen Haube, bunt besprenkelt, und farbenfrohe Hosen, die aus alten Schlüpfern geschneidert waren, was die Sache nicht besser machte.

Am 28. Dezember um 11 Uhr führte Margarita Lwowna ihn in eine fremde Klasse und zwang ihn, sich vor allen anderen umzuziehen. Im Flur ging es nicht, sonst hätten ja alle gesehen, wer sich unter dem Clownkostüm verbarg. In dieser Klasse war Ida Brodezkaja. Der Halbwüchsige war daraufhin krank, die ganzen Ferien lang. Jetzt läuft er durch die leeren Straßen zur Nachtapotheke. In der Apotheke riecht es nach Apotheke. Es ist noch ein weiterer Kunde im Laden, ein unrasierter Mann, der jammert: „Bitte nur zwei Ampullen, die werden Sie mir doch gönnen. Sie sehen so nett aus.“ Die Verkäuferin nimmt dem Halbwüchsigen die schlaffen Kissen ab und bringt sie drei Minuten später gefüllt zurück. Der Halbwüchsige gibt ihr zehn Kopeken. „'Nein' habe ich gesagt“, spricht die Verkäuferin den Mann an. „Du verdammte Hure, du bläst doch jedem einen, das sieht man schon an deinen Lippen, los, her mit dem Stoff.“ Der Halbwüchsige verlässt den Laden, mit den Kissen kommt er kaum durch die Tür. Jetzt bloß keinen Bekannten treffen. Es ist sehr still. Da kommt ein Rudel Hunde gelaufen, vornweg ein schönes weißes Exemplar, den Kopf stolz nach oben gereckt. An der Ecke schrillt hinter einem dunklen Fenster im zweiten Stock ein Telefon. Das Schrillen stürzt auf den Gehweg und zerspringt in tausend Stücke. Zwei Gestalten biegen um die Ecke und laufen unbekümmert durch den Scherbenhaufen, der Halbwüchsige erkennt Ida Brodezkaja mit einem jungen Mann.

Der Halbstarke sieht und hört nichts mehr. Er schleppt sich in einen Hauseingang, lässt die Kissen fallen – eins kullert auf die Straße – und vergeht vor Herzreißen. Nachts finden sich die Hunde zu Rudeln zusammen. Alles ist verloren. Geld ist vorhanden, aber es gibt keine Ampullen, und wenn das so bleibt, dann ist es das Ende. Irgendwie muss ich die nächsten paar Stunden rumkriegen, jetzt hat in der Apotheke so eine Trine Dienst, eine alte Schachtel mit einer grauen Knolle am Hinterkopf. In der nächsten Schicht kommt eine junge Frau, vielleicht krieg ich die rum. Kalt ist es. Als ich losgegangen bin, habe ich Schal und Mütze vergessen; wenn ich meine prickelnde Wange befühle, wird sie noch kälter. Die Spritze habe ich immer dabei, in einer kleinen glänzenden Sterilisierdose. Ich mag es, das dünne Glas der Ampulle zu betasten, sie umzudrehen, damit die Luftblase am Boden schwimmt. Der Kolben gleitet gleichmäßig und fließend durch den Hohlraum. Die Nadel ist dünn. Wie man da eine Öffnung reinkriegt, ist mir schleierhaft.

Die Sterilisierdose habe ich in der Manteltasche, und ich höre, wie die Spritze gegen die Metallwände klackert. Noch zwei Stunde, bis die Schicht der Schachtel zu Ende ist. Vielleicht noch kurz in die Kneipe? Wärm ich mich wenigstens bisschen auf. Davor eine Schlange. Komisch, in einem Laden oder an einer Kasse hat mich noch keiner zurückgehalten, wenn ich vordrängeln wollte. Hatten die etwa Angst? Ich stecke dem Portier einen halben Rubel zu, missbilligend schaut er auf meinen verlotterten Hals, aber er lässt mich durch. Ich kämme mich. Meine Augen sind rot, meine Lider zittern. Ich kann nicht mehr. Ich kaue etwas, trinke. Am Nachbartisch sitzen fünf Mädchen mit ihrem Trainer. Ich sehe seinen kräftigen Rücken, den ein teures Wollhemd umspannt, und seine Halbglatze. Hin und wieder dreht er sich um – immer dann, wenn jemand kommt, weil er mit einem Mädchen tanzen möchte, und ihn um Erlaubnis fragt. Mit seiner riesigen Stirn sagt er „nein“. Handballerinnen, den zweiten Platz haben sie erkämpft. Sie haben kräftige Arme und Oberkörper. Eine Georgierin ist dabei. Wenn ich nicht irgendwas mache, schert es mich gleich aus. Ich setze mich dazu und gratuliere ihnen zu ihrer Medaille. Sie lachen. Ich sehe auf die Uhr.

Die Georgierin legt mir die Hand aufs Knie. Vielleicht ist die junge Frau schon da und zieht ihren Kittel an. Die Hand der Georgierin wandert nach oben. Ich muss bezahlen, sonst kippe ich um. Der Kellner sieht, wie meine Finger zittern. Scheiß drauf. Ich betrete die Apotheke, mir ist schwindelig. Unverrichteter Dinge gehe ich wieder hinaus. Die Apothekerin hat die Polizei verständigt. In der Manteltasche finde ich einen Zweier und suche eine Telefonzelle auf – vielleicht liegt zufällig  bei meiner ersten Frau noch eine Ampulle rum. Meine Finger zittern, ganz langsam wähle ich die Nummer. Die letzte Ziffer ist weg. Ich warte nicht, bis irgendwer abnimmt, ich lege auf. Das ist das Ende. Ich rutsche an der Glaswand hinab, schließe die Augen. Ich träume von Hunden, in Rudeln streunen sie durch die nächtliche Stadt.

Am Tag, bevor der Pinscher aus seinem kuschelig warmen Karakulmuff fiel, besuchte der siebzehnjährige Plakatmaler vom Kino Mir die Solistin des Orchesters, das im Kinofoyer immer vor den Abendvorstellungen ab 18.00 Uhr spielte. Die Solistin wohnte in der Innenstadt, in einer Gemeinschaftswohnung, in einem dreistöckigen Haus. Sie war älter als der Maler, ihr Sohn ging schon in die zweite Klasse. Er saß im Nebenzimmer und rechnete. Die Ergebnisse stimmten nicht. Im ersten Zimmer stand der Maler, der sich noch nicht einmal richtig aufgewärmt hatte, am Schrank und küsste die Solistin lautlos mit kalten rastlosen Lippen, sie erwiderte seine Küsse ebenso lautlos und nervös und streichelte seinen Rücken, seine Schultern, seine Beine, seine Leiste. Er begriff nichts, nur, dass er leise sein musste. Sie streichelte ihn immer weiter, er hielt es nicht aus. Setzte sich auf den Boden an die Wand und blieb da eine Stunde lang sitzen, wortlos, tränenerstickt. Er weinte aus folgendem Grund. Er liebte die Solistin, und sie liebte ihn. Die Solistin war verheiratet gewesen, und später, nach ihrer Scheidung, hatte sie eine Affäre mit dem Sohn des Rektors der Medizinischen Hochschule gehabt, die ganze Stadt sprach davon.

Der Maler war zum ersten Mal verliebt. Er glaubte an die Liebe der Solistin. Aber dass sie vor ihm schon andere Männer geliebt hatte, bedeutete, dass auch die Liebe zu ihm vergehen konnte, so wie bei ihrem Mann und dem Sohn des Rektors. Nichts hatte den Maler je so verzehrt wie die Liebe zur Solistin. Am Anfang vergaß er sogar zu denken. Er suchte sich einen Bezugspunkt. Wörter, Handlungen, Ereignisse bewertete er nun anders. Einmal, als er sich umschaute, begriff er, wie fragil und ungewiss alles war. Alles stand Kopf und brach auseinander. Er liebte sie wie eh und je, mehr noch sogar als früher, aber das Leben war unerträglich geworden. Er saß auf dem Boden, gegen die Wand gelehnt, tränenerstickt. Es war schon dunkel. Er ging raus  und stellte sich vis-à-vis ihrem Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite. Zwischen ein Uhr und fünf Uhr strich er durch die Stadt und saß auf dem Bahnhof in der Wartehalle. Sein Nachbar, der Milizbeamte Wasja Sajko, trat auf ihn zu. Wasja war einige Jahre älter als der Maler.

Als Kind war er am helllichten Tag unter die Bettdecke gekrochen, hatte die Taschenlampe angeknipst und Bücher über Geheimagenten gelesen. Wasja tat so, als würden sie sich nicht kennen. Harsch und förmlich forderte er den Maler auf, sich zu entfernen. Der Maler antwortete unflätig, kam jedoch seiner Aufforderung nach. Bald würde es dämmern, er wollte, dass die Solistin, bevor sie das Licht einschaltete, ihn unter dem Fenster stehen sah. Sie schaltete das Licht an, dann fiel ihr der Maler ein, und sie schaltete es wieder aus. Sie trat ans Fenster. Da stand der Maler. Sie schaltete das Licht wieder an und ging Spiegeleier braten – ihr Sohn bestand auf Spiegeleiern. Der Maler ging weg. Den ganzen Tag lang hielt er sich wach, und abends betrank er sich. Und machte sich in diesem Zustand auf den Weg zur Solistin. Die runde Uhr der Marke Terek, an eine Säule geschraubt, zeigt elf. Der Maler bleibt unter dem Fenster stehen und ruft ihren Namen. Die Solistin öffnet und schaut hinaus. Es ist schon kalt, aber sie hat die Fenster noch nicht winterfest verklebt. Sie winkt ihm. Er braucht zehn Minuten, ehe er im zweiten Stock ankommt – das Laufen fällt ihm schwer. Die Tür ist offen, er klingelt nicht, geht einfach hinein. Die Solistin und ihr Sohn sind im ersten Zimmer. Während der Maler auf dem Boden, an seinem angestammten Platz sitzt, bezieht sie ihm im Nebenzimmer das Bett. Er liegt im Dunkeln, im weißen Bett, die Tränen laufen kreuz und quer. Irgendwo weit weg, in einer anderen Welt, klingelt ein Telefon und bricht ab. Der Maler spürt, wie etwas in seinem Hals aufsteigt. Ihm ist übel. Er überschwemmt das Bett, den Läufer, das Parkett. Holt sich eine Zeitung und wischt damit die bröckelige, stinkende Brühe auf: Likörwein und Zucchini-Mus. Schwankend läuft er zum Fenster, öffnet es und wirft die Zeitung hinaus. Im Flug öffnet sie sich und verfängt sich in den nackten Zweigen des Baumes.

Unten, auf dem Bürgersteig, liegt etwas Flauschiges, Dunkles, wohl ein Kopfkissen. Es ist kalt. Der Maler schließt das Fenster, kriecht in sein Bett zurück und schläft sofort ein. Einen Moment lang bleibt Bill am Baum stehen, reckt seine Schnauze in die Luft, schnuppert. In der Luft zwischen den Dächern hängt ein schwarz-weißer Klumpen Nacht mit einer grünen Kappe. Nein, der Geruch ist scharf und unangenehm. Bill läuft weiter. Der Klumpen verschwindet, als hätte ihn jemand verschluckt. Noch sind nicht alle Lichter gelöscht. Noch ist nicht alles Leben erloschen. Hier und da wird noch geredet und geredet und geredet. Wir sind Nogaier. Unsere Bestimmung sind Raubzüge. Wir ziehen als Nomaden durch die Steppe. Plötzlich klingelt es. Alle stehen auf. Haben lange auf das Klingeln gewartet. Die Männer machen einen Schritt auf die Frauen zu. Nur der Hausherr rührt sich nicht. „Das ist nicht an der Tür“, sagt er, „das ist das Telefon, ein Versehen.“ Genug. Weg mit euch, schert euch fort, ihr Köter! Ksch, Aas! Anfangs. Quecksilbrig. Schiffchen. Über dich. Der Sohn.

Anfangs hat sich die Luft bei dem Gedanken an dich gespalten, ist in Pluderhosen, von Brandgeruch umhüllt, durch den Raum gewankt,  in Gedanken an dich, dann ist das Thermometer im Nachtschränkchen geplatzt, in Gedanken an dich lief ein Tropfen Quecksilber über die leichenblasse Decke, dann zersprangen in Gedanken an dich alle Thermometer in der Stadt, und dein zukünftiger Sohn ließ auf den Quecksilberströmen ein weißes rechteckiges Schiffchen fahren. Ich schwimme. Als erste ging Mila Iskrowa fort. Während sie ihre Päckchen, Ballettschuhe, Stiefel, Kokoschniks, Ringe, Kränze und Spangen zusammentrug, sprachen wir alle das Wort „Artek“ aus. Im Winter liefen wir in die Aula des Eisenbahnerklubs. Dort fand an mehreren Tagen hintereinander die Schülerolympiade statt. Die hübschesten Mädchen und Jungen traten da auf. Wenn ich sie später auf der Straße sah, starrte ich sie an. Sie konnten alles: singen, tanzen, vortragen, Zaubertricks zeigen, weil sie in der prächtigsten Stadt des Landes lebten. Die Landeswettbewerbe gewannen immer die Czernowitzer Kinder. Mila Iskrowa und das ganze Tanzensemble des Pionierpalastes wurde mit einer Reise auf die Krim ausgezeichnet, ins Pionierlager Artek. Dort war das Meer, dort durften sie alle ein bisschen Fanfare spielen, dort war der Himmel biblisch blau. Zehn Jahre später kam ich nach Gursuf und arbeitete im Pionierlager Perlenstrand als Gruppenleiter. Eines Abends traf ich vor dem Lebensmittelgeschäft eine Kommilitonin. Sie arbeitete im Lager Artek. Eine hysterische Person. Einmal hatte sie mich auf dem Korridor der Universität gegen die Wand gedrückt und gepfiffen: „Warum hasst du mich eigentlich so, Ljustrin?“ In Gursuf – „vielleicht ist aus dir endlich ein Mann geworden?“ – freute sie sich, mich zu sehen, und lud mich an den Strand des legendären Lagers ein. Da konnte ich nicht nein sagen.

Gegen Mittag lief ich an den gläsernen Gebäuden vorbei über die verschlungenen Treppen; dort gab es alles, nur keine Kinder. Ich begegnete nur einer einzigen Gruppe. Als sie mit mir gleichauf waren, riefen sie im Chor irgendeinen gereimten Gruß. Ich begriff erst später, dass der Gruß mir galt. Auch der Strand war leer. Das Meer war sauber und gravitätisch; zum ersten Mal merkte ich, dass es Teil eines großen Ozeans war. Drei Tage – in meinem Lager war gerade ein Durchgang zu Ende  – fuhr ich nach Artek, aber Kinder sah ich so gut wie keine. Trotzdem fuhr Mila im Mai, noch bevor das Schuljahr zu Ende war, mit ihrem Tanzensemble ans Meer. Die Mädchen aus der Straße schrieben ihr Briefe. Abends wurden an den Schaufenstern und Ateliers massive, waschbrettähnliche Metallläden herabgelassen. Wir lehnten uns gern dagegen, um die warme geriffelte Oberfläche zu spüren.

Ich entriss Bela einen Zettel, es war ein Brief. Wenn sie nicht so laut gezetert hätte, hätte ich ihn sofort zurückgegeben. Ich lief davon, die Mädchen rannten mir hinterher. Ich spielte kaum mit Jungs. Mädchen fand ich interessanter. Ich war schneller als sie, aber sie gaben nicht auf. Ich musste über den Zaun springen. Wenn sie mich nicht verfolgt hätten, wäre ich nicht fortgelaufen und hätte den Brief sofort zurückgegeben. Aber sie rannten mir hinterher, also musste ich weglaufen, und als ihre Stimmen nicht mehr zu hören waren, hatte ich keine Wahl, als mich auf eine Bank zu setzen, in der Nähe des Pavillons, in dem die älteren Männer Schach spielten, und ihre Geheimnisse zu lesen. Im Brief stand aber nichts Geheimes. Sogar das, was Bela für streng geheim halten mochte: „Asa liebt Gena immer noch“, wussten alle. Doch am nächsten Tag schloss ich mich den Jungs an. Die Zeit der engen Freundschaften war vorbei.

In Arkadi Gaidars Erzählung Das Schicksal des Trommlers wird der Vater eines Jungen verhaftet. Ich weiß nicht, ob Gaidar begriffen hat, in was für einer schrecklichen Zeit er lebte, aber von den Verhaftungen wusste er, und er hat auch darüber geschrieben. Lustige, kahlköpfige Dickbäuche, die Väter meiner Freunde, großzügige Nachbarn und tüchtige Ehemänner wurden zu einer Zeit verhaftet, als es mit den engen Freundschaften vorbei war. Domka, die Hausmeisterin, kam zu uns und sagte zu meiner Mutter: „Switlana Iwaniwna, wenn Sie diesen Reichtum gesehen hätten ...“ Es traf alle ohne Ausnahme: die Textilarbeiter, die Schuhmacher, die Müller, dann wieder die Textilarbeiter. Überbordende Energie und wuchernde Wünsche brachen ihnen das Genick. Gegen Morgen rückten Brigaden der Abteilung zur Bekämpfung der Veruntreuung sozialistischen Eigentums an, holten Domka und ihren Mann als Zeugen für die Hausdurchsuchung, und gegen Mittag kamen die Mütter meiner Freunde als verhärmte Greisinnen mit schwarzen Gesichtern aus dem Haus.

Meine Freunde kamen gar nicht heraus. Sie wurden für eine Weile zu Verwandten geschickt: nach Bessarabien, nach Kamenezk-Podolsk, Winniza, Britschany. Als sie zurückkehrten, waren ihre Wohnungen leer – ihr Eigentum war konfisziert worden – und mit unserer Freundschaft war es vorbei. Ich versuchte mir die Hausdurchsuchungen im Morgengrauen vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Die kahlköpfigen Dickbäuche waren immer so lustig und großzügig gewesen und so elegant gekleidet. Dann waren die Devisenspekulanten dran. Eines Tages kam mein Vater von der Arbeit und erzählte, man habe Mira, die Stenotypistin, entlassen, weil ihr Mann ein Devisenspekulant sei.

Bertrand Russell schrieb Chruschtschow, dass sich die Verfolgung der Devisenspekulanten in eine Judenverfolgung verkehrt hätte. Die Urteile fielen hart aus. Die Stadt fristete eine qualvolle Existenz. Einige Angeklagte wurden zum Tod durch Erschießen verurteilt. Mit den Freundschaften war es ganz aus. Ich gab Bela ihren Brief zurück, aber ab dem nächsten Tag spielte ich nicht mehr Gummihopse und Hickelkasten, sondern Fußball. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wollte die Jungs nicht im Stich lassen, aber ohne die Mädchen ging es auch nicht. Zum Glück war die Zeit der engen Freundschaften irgendwann vorbei. Jungs und Mädchen spielten zusammen. Wenn die Verkaufsstellenleiter und Atelierbesitzer Schlösser vor die Türen hängten und die massiven gerippten Läden herabließen, war unsere Zeit gekommen, aus den Häusern, von den Veranden, aus den Vorgärten fanden sich Mädchen und Jungs ein, und je undurchdringlicher das Dunkel wurde, umso schweigsamer wurde unser Trupp, umso fester klumpte unser schwarzer elektrisierter Haufen zusammen: Zähne und Augäpfel schimmerten, schmale Finger, die sich ineinander gewunden hatten, brachen, und langsam wie ein Fahrstuhl stieg die Quecksilbersäule in den Thermometern nach oben. Dein Ring rollt über den Tisch.

Lassen wir das Kofferradio aus. Hören wir den Septemberbäumen zu, ihrer klimpernden Musik, atmen wir den Muskatgeruch der Nacht. Weißt du noch, wie alles begonnen hat? Ein Junge hatte aus Versehen einen dicken Tropfen Tinte auf der glatten, sauberen Bank verspritzt. Er nahm das Löschpapier aus seinem Heft, tauchte der Reihe nach alle vier Ecken in den Tropfen, und von den vier Ecken her breitete sich die Nacht aus, und wenn wir sie mit den Fingern berührten, wurde unsere Haut feucht und violett. Zur Klassenleiterstunde am Samstag bekamen wir Zeit, unsere Bänke zu schrubben. Der Junge holte einen festen roten Radiergummi aus seiner Federmappe und rieb mit aller Kraft, die Nacht verschwand, der glühende Morgen brach an, auch unsere Finger und Lippen färbten sich rötlich, der Junge ging nach Hause, das Schuljahr hatte gerade erst begonnen, er hatte es verlernt, so lange still zu sitzen, er lief an einem Gitterzaun der Grünanlage entlang und schlug an den gusseisernen Zaunstreben mit seinem Bleistift eine Tonleiter aus einem einzigen Ton, es roch nach Silikonkleber, frisch gestrichenen Fußböden, Kolophonium, nachts öffneten wir das Fenster, hörten der klimpernden Musik zu, konnten uns nicht losreißen, es wurde kalt, von den häufigen Schlägen der Kastagnetten wurde es noch kälter, du stecktest deine steif gefrorenen Hände in meine Achseln, draußen hob lispelnder Gesang an.

Schreibwarenläden rochen nach Septembernacht. Die Kinder schleppten Schrott auf den Schulhof. Im Hof verkündete ein Lautsprecher den Wetterbericht. Die Stimme des Ansagers war so stählern, dass die Schüler der höheren Klassen auf den Mast kletterten, den Kasten auf den Schrotthaufen warfen und so im Schrottsammeln den ersten Platz belegten. Du setzt deinen roten Ring ab. Der September geht zu Ende. Noch zwei, drei Tage, und dann belegen wir weltweit den ersten Platz beim Laubsammeln, bei den ausgelassenen, löchrigen Parks, bei den rauchgeschwängerten Zugwinden. Der Winter kommt: mit Schneewehen, Augenbrauen, Atem. Im Frost sind Küsse wärmer. Wenn du in der Kälte küsst, spürst du deine ganze Wärme, pulsierend, brüchig, lebendig. Ich sehe Filzstiefelspuren und begreife: es hat geschneit. Jetzt gibt es weder Berge noch Wiesen, nur noch Schnee. Jeden Morgen ist der Boden im Lehrerzimmer feucht.

Heute ist Samstag. Igor fährt in die Stadt, ich bin allein. Allein ist es im Zimmer kälter. Gestern ist die Laborhelferin zu mir gekommen und hat mich ins Kino eingeladen. Letztes Jahr ist sie von der Schule abgegangen. Die Laborhelferin ist am wenigsten dörflich von allen Leuten im Dorf. Eine Schneewehe drückt die Nase gegen mein Fenster. Die Laborhelferin zieht ihren schneefeuchten Mantel aus. Es gefällt ihr bei uns: Auf dem Fußboden sind Bücher, Papiere und leere Flaschen verstreut, auf dem Tisch hartes Brot und eine geöffnete Konservendose. Igor hat sein Bett nicht gemacht. Es gefällt ihr bei uns. Sie knöpft den obersten Blusenknopf auf. In den Bauernhäusern setzt man sich nicht aufs Bett: Dort thronen die Betten wie Osterkuchen. Die Laborhelferin berichtet, sie käme oft in die Stadt, zählt Bekannte auf. Ich kenne nur einen Einzigen, einen Wüstling namens Tron. Tron wohnt ganz bei mir in der Nähe, im Hof der Halle von Spartak. Die Halle ist riesig und kalt. Ich schmiege meine Wange an ihre schrägen Wände. Männer mit einem Ball in der Hand fliegen pfeifend, die Luft zerschneidend, vorbei, in Strickmützen, in Wollpullovern.

Ich höre das Schlagen ihrer Herzen. Werde ich etwa irgendwann auch so? Ich fürchte mich nicht vor Tron, denn ich habe einen großen Bruder, er ist Ringer, Sambo-Kämpfer. Die plattgedrückte Nase der Schneewehe schmilzt und fließt an der Scheibe herab. Wenn wir morgens an den fraulichsten und zärtlichsten Bergen der Welt, den Karpaten, vorbei zur Schule gehen, aus dem Unwirtlichen ins Unwirtliche und uns wie verbannte Dichter fühlen, dann nickt einer von uns, entweder Igor oder ich, den Bergen hinterm Dorf zu und sagt: „Was für eine Augenweide!“ Drüben ist Rumänien. Wenn man im Herbst dicht an die Grenze geht, wenn Regen fällt und der Wind aus westlicher Richtung weht, feuchtet der rumänische Regen dein Gesicht, und es kommt dir so vor, als seiest du im Ausland gewesen. Oft, wenn wir mit einem Buch in der Hand im Bett liegen, malen wir uns aus, wie wir für drei Tage nach Rumänien abhauen, heimlich den gepflügten Kontrollstreifen überqueren, schwarz nach Ploieşti, Suceava oder Bukarest fahren – dort ist in den Kinos gerade Bonnie und Clyde angelaufen.

Es geht uns ganz gut, und der Ausruf „Was für eine Augenweide!“ klingt eigentlich nicht bitter. Es ist schrecklich, unglücklich zu sein. Sich unglücklich zu wähnen, ist herrlich. In einem dunklen Zimmer zu liegen und sich Eltern zu erfinden, den Papa als Kapitän auf großer Fahrt, der nur selten kommt; er führt dich zum Essen aus, am besten ins Priwoksalnyj, dort gibt es immer Pilze in Sahnesoße, dort bedient Max, der elegante, in die Jahre gekommene Kellner, der bereits unter den Rumänen, vielleicht sogar schon zu Kaisers Zeiten hier war. Er spricht mit einem leichten, angenehmen Akzent. „Was wehnschen Sie? Vülen Dank. Einen Momänt.“ Wir essen. Mein Vater trägt eine Kammgarnuniform, am Kragen blinken kleine vergoldete Anker; er bietet mir eine Zigarette der Marke Drug an, ihr Name steht ebenfalls in goldenen Lettern auf der Packung; ich lehne ab, da holt er, der silbergraue Kapitän, der alle Länder und Meere der Welt bereist hat, der in den Hafenbars von San Francisco und bei den Geishas in Yokohama zu Hause ist, aus der Innentasche seiner Uniformjacke eine kubanische Zigarre, da kann ich nicht nein sagen. Dann füllt er mein Glas mit Sekt, der schäumt, und ich zeige ihm mit der Hand – bis hier.

Alle schauen uns an. Jemand spendiert uns eine Flasche Tokajer. Mein Vater lächelt jemandem dezent und vornehm zu, sein graues Haar schillert. Die Schneewehe dringt bis zum Fensterrand vor, ich sage dem Winter – bis hierher. Sie macht den Blusenknopf auf, liest die Buchtitel. Wartet. Es gefällt ihr bei uns. Am Sonntagabend kommt sie wieder. Zwei Stunden später klopft es an der Tür; es ist ihr Cousin aus der Neunten. Wahrscheinlich ist er in seine Cousine verliebt. Er sagt kein Wort, seine Nase ist rot, er hat Tränen in den Augen. Ich bitte ihn herein, schenke ihm sauren Wein ein, er trinkt langsam und laut, seine Kehle ist kalt und gehorcht ihm noch nicht. Dann geht er und sagt ihr zum Abschied: „Ich warte im Hof auf dich.“ Beiläufig hebt sie ein Blatt Papier mit einem Gedicht von mir auf, eine Rohfassung, ich will es mir holen, fast werden wir handgreiflich, sie schiebt es unter die Bluse, und meine Hand vergisst das Blatt. Der Winter kommt: mit Schneewehen, Brust und Atem. Morgens reinigt die Laborhelferin die Reagenzgläser und Kolben für die Versuche im Chemieunterricht. Als ich in den Raum komme, explodiert etwas, qualmt, brennt. „Gib mir das Gedicht zurück“, flüstere ich. „Hol’s dir doch.“

Mein Vater schenkt mir Sekt nach und löscht das Feuer. Tausende Kilometer weit weg malträtiert Tron, der Fiesling, die Jungs, die keine großen Sambo-Brüder und keine Kapitäns-Väter haben. Hol’s dir doch. Ich knete die Seite, vom Druck der Finger verschwimmen die Buchstaben. Ein gutes Gedicht. Der Neuntklässler läuft um das Haus herum, wummert gegen die Tür, das Fenster, das Dach. Ihre Nippel schmecken nach Ballongummi. Die Wände und der Dachboden gehen in Flammen auf, das ganze Dorf läuft zusammen, meine Hand, meine Hand sucht das Blatt mit dem Gedicht, die Flammen züngeln an meinem ungemachten Bett. Als Eisbär kommt der Winter. Schneebatzen gleiten meinen Rücken hinab. Wir sterben Porthos‘ Tod. Und meine Mutter ist Schauspielerin. Wie Sidi Tal. Lachen ist gesund – so stand es Deutsch auf allen Aushängen neben dem zahnweißen Lächeln der schönen Frau.

Meine Mutter hat die Schultern einer Ruzhena Sikora und das Lächeln einer Sidi Tal. In der Schule, die ich besuche, wird sie zur Veranstaltung "Mein Beruf" eingeladen, und alle meine Klassenkameraden verlieben sich in sie. Sie tourt um die Welt und schickt mir Briefmarken von der Elfenbeinküste und aus der Republik Tuwa. In Melone, schwarzem Anzug und Spazierstock kommt sie in Charlie Chaplins Trippelschritt auf die Bühne – tari-ta-ta-ta-ti-ta, tari-ta-ta-ta-ta, hi-ta. Blumen, Beifall. Igor kommt Montag, gegen morgen zurück. Fürs Frühstück reicht die Zeit nicht. Wir schlüpfen in unsere Mäntel und laufen durch den ersten Schnee. Ich erhalte Unterricht in der Fünften, Igor in der Neunten.

Was für eine Augenweide! Im Februar gilt: Tinte weinen. Ich rufe Igor an. Wir müssen uns unbedingt treffen, ich will dir was zeigen. Komm sofort, auf der Stelle! Es hält mich nicht mehr im Haus, ich gehe ihm entgegen. Laufe mit dem geöffneten Buch in der Hand. Durchs Glockengeläut, durchs Quietschen der Räder. Wir treffen uns an der Grünanlage. Mittendrin steht eine große, ansehnliche Kirche, ein Altstofflager. Was los ist? Wie Brot und Salz halte ich Igor das aufgeschlagene Buch hin. Tinte weinen. Schluchzend über den Februar schreiben. Wir lesen, und über unsere Wangen rinnt Begeisterung. Einer sattelt sein Pferd, und über die schmale gekreppte Küste Dänemarks voller geschliffener Steine, nadelspitzer Fischskelette und glibberiger Quallenhauben lässt das Meer seinen Schlagring fahren. In denselben Mauern, in denselben Gewölben kommen zwei Studenten zusammen: der aus Wittenberg und der aus Marburg, der feiste, lockere, nette Prinz und das Ziehkind von Cohen, aufgewachsen unterm Moskauer Himmel, ein Pferd von hunderttausend menschlichen Talenten. Sie albern herum, trinken frischen Burgunder und reden über Frauen. Der Bote gibt dem Pferd die Sporen, fette Erdklumpen springen unter den Hufen hoch und bespritzen Kanonenstiefel und Wams; der Bote reitet mit einer schlechten Nachricht zum jungen Prinzen. Hoch die Tassen, Jungs, amüsiert euch, lacht aus voller Kehle, bevor die Faust gegen die Eichentür wummert, bevor der Siegellack knackt, bevor das Blatt Papier unter der Kerze zittert. Ihr habt euch ein für alle Mal gefunden.

Bis hierher. Auf zum anderen Ufer. Die Wipfel, reglos wie in einem Trickfilm mit echten Schauspielern, waren anständig. Aber unter der Erde, in diesem dunklen, feuchten zweitklassigen Kino zog es die Wurzeln zueinander: die plumpen, massigen und die dünnen, biegsamen: krr, schlingen, krr, zwacken, krr, übereinander, krr, ineinander. Über Tage ist derartige Unzucht unbekannt. Ein quälender Nordwind fuhr gegen Jalta und Feodosija, aber als er an das Krim-Gebirge mit seinen aufgeschürften Knien und Ellenbogen stieß, stieg er auf, wurde blau vor Kälte und wurde zurückgeworfen. Es war Dezember. Jemand schien mit einer Pumpe warme Luft verströmt zu haben. Alles war für sich, isoliert voneinander. Breschen und Spalten funkelten zwischen den Felsen, Gebäuden, Menschen, Händen, Mündern. Helle, kalte, türkisblaue Breschen und Spalten.

Gestern begriffen wir mit unseren Fingern die Kristallstruktur der Violinmusik gemeinsam, heute jeder für sich. Mit dem Rücken zum Meer stehen, das die Laute sch, tsch, s und ihre Bedeutungen kennt, ihm zu lauschen mit einem Glas Wein in der Hand, unter Halbwolken, Halbschleiern, figürlich, luftig, überladen, starr, dahinjagend wie ein Bergbewohner in seiner Burka. An leeren Tanzflächen vorüber gehen, auf denen jemand eine Zivilisation vorher einen anderen mit Händen, Brust und Hüften geliebt und der andere, sich wiegend im Takt der Wellen, diese Liebe erwidert hat, vorbei an windschiefen Kantinen, Verkaufsständen, geschlossenen Kassen, vernagelten Fahrgeschäften, wo die Frauen ihr Lachen rücklings in den Wind warfen und die Männer ihr Gesicht hineinhielten. Im Fernamt unter tratschenden Angestellten: Der Sohn ist in Odessa stationiert, schreibt jeden zweiten Tag, nach dem Regen und Schneeregen kam der Frost, die Rohre sind geplatzt, die Bäume vereist – nicht unter einer Berührung, unter einem Lüftchen knickten sie ein wie Pusteblumen, jetzt ist die Luft klar und warm, nur die Stümpfe ragen auf. Unter tratschenden Angestellten warten, bis bei dir in der Wohnung das Telefon schrillt, du stürzt hin, die Dame vom Amt sagt im offiziellen Ton: Sie werden verlangt – und dann nennt sie die Welt, in der ich jetzt lebe, ein Name, den kaum einer kennt. Ich stehe mit dem Rücken zum Meer und höre deine Stimme. Du bist auf den Bahnhof gelaufen, ja, ich habe Gelendschik und Dschanka verwechselt, ja, du bist unverrichteter Dinge nach Hause gegangen, hast geweint. Ich habe eine schöne Stimme? Du bist nicht objektiv, wie immer. Meine Stimme ist brüchig, belegt, brackig, eine Muttersöhnchenstimme. Trink ein Bier und lausche meiner Stimme.

Deine Worte versiegen. Über meinem Kopf flattert die Burka des Bergbewohners. Ich drehe mich zum Meer. Ein russischer Regisseur hat seinerzeit phantastische Aufnahmen von leeren, erkalteten Stränden gemacht: Übers ganze Ufer verstreut standen paarweise Holzliegen; phantastische Aufnahmen, weil die Liegen paarweise standen. Ein anderer Regisseur, aus Paris, hat phantastische Aufnahmen von einer Liebesnacht gemacht. Auf einem kleinen Tischchen tickten, die Armbänder ineinander verknotet, eine große Herrenuhr und eine winzige Damenuhr. Ich drehe mich zum Meer. In meinem Rücken klimpern die Baumwipfel wie die Metallkränze auf den Gräbern. Im billigen unterirdischen Kinosaal zieht es, krr, die Wurzeln, krr, zueinander hin.

Eingeölte Körper zerfließen in der Julisonne. An der Brüstung vorm Strandübergang hält ein Junge vergeblich nach jemandem Ausschau. Wie unüberlegt, sich hier zu verabreden. Als er seine Hoffnungen begraben hat, macht er einen Handstand auf der Brüstung und läuft fünfzig, hundert, hundertfünfzig Meter, nicht um die Blicke von Jedermann, sondern um ihre Blicke auf sich zu ziehen, sie erkennt ihn, kommt vom Strand gelaufen und schaut von unten in sein gerötetes Gesicht und in seine hervorquellenden Augen. Wie unbeschwert alles begonnen hatte: unter den geschmeidigen Rhythmen von Blood, Sweat & Tears, in der genialen Jamsession, die nachts das Meer aufwühlte. Hippie-Butterfly, Hippie-Wiese, Hippie-Blau, Miss Minirock der Krim. Es ist nichts draus geworden. Er sprang von der Brüstung und fuhr ab. Auf dem Terrain, das sich zwischen uns erstreckt, welken die Blätter und ist alles Leben erstorben. Du rennst über den vereisten Bahnsteig, die Schöße deines weißen Pelzes flattern, Falten stehen dir im Gesicht, auf dem Kopf sitzt eine grüne Kappe, der Hals brennt, du rennst von Gleis eins zu Gleis drei, von Gleis drei zu Gleis sieben, aber ich bin nicht da, ich habe mich in meinem Abteil verkrochen, atme stickige Frikadellenluft, die Lider geschlossen. 

Bitte verzeih mir. Ich habe nicht gewusst, dass du kommst. Ich habe meine Sachen gepackt und bin zum Bahnhof gefahren. Die Züge enteilen; die Gleise verdoppeln, verdreifachen sich; eine gleichgültige Stimme gellt im Ohr; Kühlwagen ziehen vorbei mit rotem, leicht gefrorenem Fleisch, mit Wurstdschungeln, unreifen Hühnerleibern, deren dünne Hälse überdreht und deren Augen von einer bläulichen dicken Haut überzogen sind, mit Dispatchern für die Kühlwagen, die Selbstgebrannten schlürfen, die Köchin bedrängen und Dattelpflaumen kauen, aus Usbekistan importiert und für das Dreifache verkauft; zugige Vorstadtwagen, bis zu den Gepäckablagen vollgestopft mit wortkargen Mannsbildern und Weibsbildern in Wattejacken und Steppwesten, deren Hände von Frost und Ziegel rübenrot und von Guss und Metallstaub grau sind; Bummelzüge mit Studentinnen in Strumpfhosen, mit dreißigjährigen, noch ansehnlichen Männern, die verbilligt fahren und nervös sind, weil in ihren Taschen fremde Studentenausweise stecken, mit quengeligen Kleinkindern auf den Schößen von Ganovenmüttern, unter deren knapp übers Knie reichenden Schürzen lange rosafarbene Hosen und Beine hervorschauen, mit entlassenen Soldaten, die sich mit einem Krachen der Krägen ihrer schmucken Hemden entledigen und mit einem ebenso lauten Krachen an den Fensterhebeln neben dem verschlissenen Zugimbiss ihre Bierflaschen öffnen, mit der schamlos geschminkten Imbissverkäuferin, die bei jedem Stück Wellfleisch, bei Wurst, Käse, Butter, Schmelzkäse Nowyj, gebratenem Hecht, bei jeder Büchse Konserven, bei jedem Wodka, jedem Portwein, jeder Flasche Tscherwonyj mschtschin, jeder Flasche Kagor, bei jedem trockenen moldauischen Pinot, jedem bulgarischem Riesling, bei jeder Flasche Schiguljowskoje, jeder Flasche Riga, jeder Packung Werchowyna aus den Tabakfabriken in Mukatschewo oder Lemberg, bei jedem Päckchen Streichhölzer, bei jedem vertrockneten Stück Korsinotschka, bei jeder Keksrolle Priwet, bei jeder Waffelpackung Artek, bei jeder Scheibe Brot ein bisschen was draufschlägt, und mit dem Pärchen, das auf dem kaum überdachten und an den Seiten nicht verkleideten Übergang vom vorletzten zum letzten Waggon kopuliert, wo man es inmitten des Ratterns und Jaulens und des alles übertönenden Herzschlags keine Minute lang aushalten kann; die geschäftigen – wusch und vorbei – internationalen Fernzüge mit dem brüllend lachenden Industriellen Matthew Gardner aus Dallas, der die wärmsten und herzlichsten Erinnerungen an die Gutmütigkeit und die Gastfreundschaft der Russen mit nach Hause nimmt, mit der leise im leeren Abteil weinenden zwanzigjährigen Martha Stein aus Westberlin, die zu ihrem Geliebten nach Moskau gefahren ist, eine Woche mit ihm im Hotel Rossija verbracht hat, vor den aufdringlichen Geheimdienstlern, die ihre Nasen, Ohren und Augen in alles stecken, ihren Geliebten aber nicht heiraten kann und das aus einem Grund, den sie weder auf Deutsch noch auf Englisch versteht: weil ihr Schatz keine Wohnsitzanmeldung hat Postzüge mit unterbrochenen Blitzen auf dunkelblauen, geriffelten Waggons, mit Flüchen, Küssen, Bitten, Erlassen, Mahnungen, Denunziationen, Projekten, Gedichten, Glückwünschen, Geburtstanzeigen, Todesanzeigen, Mitteilungen über wiedergefundene Kinder, die seit dem Krieg als verschollen galten, Ablehnungen, Grüßen, Umarmungen, Hoffnungen, inneren Enttäuschungen. Und zwischen den klackernden Rädern, den quietschenden Schienen, dem knirschenden Eis, der Lautsprecherstimme, den rasselnden Kolben, Kurbelwellen, Tamburen, Schlepptendern, Stimmbändern, Geschlechtsorganen aus einem Nest, zwischen klingelnden Münzen, Küssen, Gläsern, Tränen, zerrissenen Reißverschlüssen, knuspernden Waffeln, Krägen, Lachsalven, Schnee, Papier, Eiszapfen, Kronkorken läufst du mit Falten im Gesicht und gesprungenen Lippen, suchst mich, findest mich nicht, kehrst durch die glatten, lärmenden Straßen zurück, die Kehle brennt nicht mehr, über die Wangen laufen Tränen. Ich stehe mit dem Gesicht zum Meer, schaue auf den menschenleeren, grobkörnigen Strand und sehe: zwischen glänzenden Körpern zwei Jungs, ein jüngerer und ein etwas älterer, mit Mutter und Vater. Nein, ich kann nicht.

Durchs Fenster fällt Tangomusik ein. Ein Tanzvergnügen im Erholungsheim. Gegen Abend. Ich möchte dir einen Brief schreiben. Gegen Abend hat jemand mit einem goldschimmernden Strohhalm Wärme in die Bucht geblasen. An den Abenden drängen zwei von der anderen Seite an den Strand – das Meer und ich. Am Tag vor meiner Abfahrt bin ich gegen Mitternacht die Kruglouniwerstitetskaja runter gegangen, habe mich in die Neun gesetzt, bin bis zu deinem Haus gefahren, habe mich hineingeschlichen, aus Angst vor dem Hausmeister oder deinen Verwandten, bin in den zweiten Stock hoch gerannt und habe mir die Wohnungsnummer gemerkt: die kupferne eins, null und drei. Dann bin ich wieder runtergeflitzt. Weil ich wusste, dass ich dir unbedingt schreiben will. „Ach, diese schwarzen Augen.“ Sogar die Wellen verneigen sich der Reihe nach vor ihnen. Meine Mitbewohner sind fortgegangen, und so bin ich mit dir allein. Mit dieser schwammigen Grütze, dieser schaumigen Masse lebt es sich nicht schlecht.

Warum spüren sie nichts? Warum vegetieren sie vor sich hin? Ihre Gesichter ähneln Billardkugeln. Den lieben langen Tag schlagen sie mit Queues gegen ihre Schädel. Ihre billardkugelrunden Tage rollen über riesige Tische und fallen ins Loch. Ich habe lange nach einem Taxis Ausschau gehalten und immerzu laut wiederholt: 103, 103. Beim Abendessen saß ein Mann mit einem flachen Gesicht an meinem Tisch, er war aus Kirow. Das frühere Wjatka. Herzen. Wie glücklich ich war, als ich in den Texten von Mandelstam auf einige Sätze über Herzen gestoßen bin, hastig hingeschrieben; ich habe sie dir sofort am Telefon vorgelesen. Schließlich sind wir doch gemeinsam glücklich gewesen, nicht wahr? Die Frau am Nachbartisch hat gesagt: „Wenn er mich heute wieder keines Blickes würdigt, dann erhänge ich mich.“ Später habe ich verstanden: Sie meinte mich. Hier ist ein ständiges Kommen und Gehen.

Nur ich bleibe. Ich glaube, ich schreibe für das Ende. Hier ist es. Geh niemals, unter keinen Umständen, auf irgendeinen fremden Balkon. Ich habe Angst. Sag das allen Frauen – schließlich seid ihr doch alle irgendwie miteinander verbandelt – sie sollen auch nicht auf fremde Balkons gehen. Unter dem Mond, gestern mit einer dicken bläulichen Haut überzogen, heute hell, mit einer Laubsäge aus dem Sperrholz gesägt, fährt der quälende Nordwind gegen Jalta, gegen Feodosija. Kr, kr, kr, Techniker, Licht an! Unter den glänzenden Körpern sind zwei Jungs: ein jüngerer und ein älterer. Dazu Mutter und Vater. Nein. Noch ein bisschen. Ich habe hier genug Zeit, ich lasse mir einen Bart wachsen. Ich stehe in der Glastür der Loggia und beobachte, wie die straffen Leitungen zusammenmit  dem Mast einen Kreuzhang zeigen, und befühle meine Bartstoppeln. Es gab mal eine Zeit, da haben sich die Wände hinter mir geschlossen, wenn ich durch die Flure der Universität gelaufen bin, um meine Spuren und das Hallen meiner Schritte zu schützen. Wie viele Kilo grauen Staub habe ich seither aus den Rillen meines Newa-Rasierers geblasen? Ich stelle mir vor, wie ich nach Kiew zurückkehre. Elisaweta Rafaelowna öffnet ihre Tür und ihre Arme. „Sie sind so interessant, Genadi, Sie haben etwas von einem Dichter, ich werde Sie auf der Stelle verspeisen, und den Bart spucke ich aus.“ Sie hat selbst ein Schnurrbärtchen, dünn wie ein Kinderknochen.

Werotschka lacht einfach, und schon geht es ihr gut: Sie braucht nur zu lachen, und sofort wird sie gemocht. Borja schaut zur Seite und streicht über seine Glatze, rückt die Brille zurecht und kratzt sich mit dem Zeigefinger im Bart; Alla flattert zwitschernd um mich herum, dann klappt sie ihre Flügel ein und setzt sich auf mein Kinn. Mischa bemerkt nichts. Und du? Ganz egal, was du sagst, du bist sowieso nicht objektiv. Also: zwei Jungs und ihre Eltern am Julistrand im Paradies von Jewpatorija. Nein. Es ist zu heiß. Dann schon lieber zurück in die steile, von festgetrampeltem Schnee bedeckte Gasse und einen tiefen Atemzug Frostluft nehmen. Ich habe den Schlitten absichtlich nicht mitgenommen. Unter den Kufen funkeln Töne. Kufen, das sind umgestülpte Schienen. Singer hat den längsten Schlitten, mit einem nach oben gebogenen Vorderteil. Ich stelle mich auf die Kufenenden, um mich mit nackten Fingern – die nassen, vereisten Handschuhe stecken in der Tasche – durch den pelzig weichen Abgrund bis zu ihren Schultern, ihrem Rücken, ihrem Schlüsselbein vorzutasten, und als wir mit Pfiffgeschwindigkeit auf die Pupille der Eiskönigin zu jagen, dringen meine Finger in die kleine Höhle zwischen Hals und Schlüsselbein ein. Ich stehe schwankend auf, ohne den Schnee abzuklopfen. Nein, nicht in die Gasse, sondern zurück in das kleine Wäldchen, auf seine glitzernden Hügel, die ein Skifahrer kreuz und quer zu rumänischer Geigenmusik hinabrast.

Vor seinem Sturz, vor dem ungelenken Fuchteln mit den Skistöcken ruft er triumphierend „Communiqué“. Und da liegt er mit seinem Winterbein – eingegipst – und schmiedet Verse, die er hin und wieder aufschreibt. Seine Klassenkameradin Singer bringt ihm Kirschsaft und weiße Schaumküsse. Geschickt läuft er mit seinen Krücken im Zimmer umher, mutig und stark, aber drei Meter von seinem Bett entfernt findet er sich plötzlich nicht mehr mutig und geschickt genug, er schleudert seine Krücken zur Seite und katapultiert sich mit einem kühnen Sprung zurück ins Bett, er verzieht keine Miene, als der knapp verheilte Knochen trocken knackt wie das Rädchen, mit dem die Hand am Kraftmesser spielt. In der zweiten Klasse, als alle Kinder eine Streichholzschachtel mit einer Stuhlprobe mitbringen sollten, hatte der Skifahrer drei Tage lang diese blöde Schachtel nicht dabei, weil er unter Verstopfung litt. Die Sache war so schlimm, dass seine Mutter ihn nach einer ganzen Woche ohne Erfolgserlebnis zu Aronson schleppte, dem besten Kinderchirurgen der Stadt. Er war für seine junge Frau und seine behaarten Hände bekannt. Er streifte einen dünnen Gummihandschuh über und fuhr dem Skifahrer mit seinem Zeigefinger in die hintere Öffnung. Als er den Finger wieder herausgezogen hatte, sagte er zur Mutter: „Kaum zu glauben. Einfach kaum zu glauben. Ihr Junge ist vielleicht ein sapiens, aber ganz gewiss kein homo.“

Als die Lehrerin fragte: „Warum hast du denn keinen Stuhl mitgebracht, Gena?“, antwortete Gena, sich leicht genierend: „Ich habe nicht gekackt.“ Die Klasse brüllte, das Gelächter hielt die halbe Stunde lang an. In seiner Familie gab es keine Tabuwörter. Wenn seiner Mutter zum Lachen war, sagte sie: „Ich muss röhren.“ Seine Mutter hatte keine sprachlichen Hemmungen. Vor kurzem bat mich mein 32-jähriger Bruder: „Gib mir was zu trinken, ich sterbe vor Rachedurst.“ Singer war in seiner Klasse, und Gena musste von diesem Moment an minuten- und jahrelang seine Blamage abarbeiten. Seiner Mutter hatte er das „kacken“ schnell verziehen, sich selbst allerdings nicht. Oder doch: das Paradies von Jewpatorija? Mischa bereitet mir Kopfzerbrechen, er setzt mir zu. Irgendwann hat er mich gefragt: „Willst du denn nicht einmal eine echte propere Figur erfinden, ein Bild, nicht dein eigenes, sondern das einer nahestehenden oder völlig fremden Person?“ Peinlich, es zuzugeben, aber: nein, möchte ich nicht. Es geht nicht darum, dass ein mittelmäßiger Schriftsteller die Aufgaben, die er sich stellt, besser oder anders löst, sondern darum, dass er sich andere Aufgaben stellen muss.

Folgende Punkte müssen bei der Beschreibung des Paradieses von Jewpatorija berücksichtigt werden: Der ältere Junge ist fünfzehn, die braungebrannten Mädchen laden ihn zum Kartenspielen auf ihre Decke ein, den jüngeren nicht; und so geht es die ganze Zeit: Gestern waren die Brüder noch vereint, jetzt sind sie getrennt. Der Jüngere leidet. Er kriecht zum Gitterzaun, hinter dem ein Kindererholungsheim liegt: Kinder mit Behinderungen sind hier untergebracht. Vor kurzem ist mir ein Foto aus einem solchen Heim in die Hände gefallen, das nach Schichtende aufgenommen wurde; die Gebrechen mancher Kinder fielen sofort ins Auge: gekrümmte Gliedmaßen und Wirbelsäulen, aufgeplatzte Hände. Es ging über meine Kraft, und so erfand ich ein ziemlich grausames und fesselndes  Ratespiel: Wer hat welches Gebrechen? Der Fettwanst hier kann wegen seines furchtbaren Übergewichts nicht laufen, für das Foto wurde er im Rollstuhl hergeschoben; er ist in das großäugige Mädchen verliebt, sie hat Glasknochen, die kleinste Berührung mit der Hand oder dem Bein reicht, und schon ist der Knochen kaputt; und doch wird sie beneidet, weil man ihr äußerlich nichts ansieht.

Und so kriecht mein Held zum Heimzaun, während sein Bruder mit den Mädchen, die dreieckige Badehöschen und knappe Bikinioberteile tragen, im Wasser herumtollt, und beobachtet die Krüppel. Dieses Bild spiegelt sein inneres Empfinden exakt wider. Dafür würde mich Mischa loben. Dann läuft die Familie durch die glühenden Straßen zurück; der Jüngere ningelt, zurück in der Unterkunft, verpasst ihm der Vater eine Tracht Prügel. Hier könnte man die Situation weiter aufheizen, noch ein freudianisches Motiv hinzufügen: die junge, hübsche Mutter, in die der jüngere Sohn verliebt ist. Und abschließen ließe sich das Ganze mit einem Sieg des Jungen über sich selbst, über seinen Neid und seine Eifersucht. Auf jeden Schlag könnte er antworten: „Aber es tut mir gar nicht weh“ und den von der Mutter abgelenkten Vater mit einem trockenen bissigen Blick bedenken.

Gehen wir mal davon aus, Mischa, dass ich, weil mir die Kraft gefehlt hat, die Geschichte nacherzählt habe, anstatt sie zu beschreiben oder neu aufzubauen. Dafür kann ich jetzt die Nadel meines wandernden Messzirkels, die über die beschriebene Seite fliegt, frei an einer anderen Stelle platzieren. Was ist das an der Spitze? Zwei sind da, ich und das Meer, gegen Abend drängen wir von der gegenüberliegenden Seite zum Ufer. Ich stehe, von vorn und hinten in das salzige Keifen der Waschweiber gehüllt, am Ende der brüchigen Mole; das Meer schlägt gegen die Mole, und du brichst jeden Augenblick aus. Nur einmal in der Woche, am Samstag, denn das Fernamt hat bis sechs geöffnet und zu dieser Zeit kommst du erst vom Dienst heim, ich höre deine schwache Stimme; ich kann nicht lauter sprechen – die Trennwände der Kabinen sind aus Sperrholz, überall sind Leute, fünf Mal muss ich ein und denselben Satz wiederholen: „Du darfst dich nicht dran gewöhnen, dass ich weg bin. Sei ruhig traurig. Richtig, richtig traurig.“ Ich gehe in die Bibliothek. Diese trockene Kalikoluft, wie anstrengend und herrlich es ist, sie zu atmen.

Die Bibliothekstante mag mich und lässt mich in den Regalen stöbern. Ich streiche mit den Fingern über die Einbände, die Buchrücken, ich weiß genau, welche Bücher ich möchte, aber ich bleibe noch, koste es aus. Dann trete ich auf die Straße, die Bücher unterm Arm, renne vor Ungeduld beinahe nach Hause, als müsste ich dringend auf die Toilette. Ich sehe mich schon auf dem Sofa liegen, mein Blick, fast stofflich, gespannt wie ein Draht zwischen Augen und gelblicher Buchseite. Ich höre nichts und will von nichts und niemandem etwas wissen. Oder anders. Ich liege krank im Bett; an einem zähen Winterabend soll mein Vater kommen und mir Bücher aus der Redaktionsbibliothek mitbringen; ich bin noch nie dort gewesen und sehe lange Regale mit dicken und dünnen, gelesenen und zerlesenen Bänden vor mir. Dann betritt er die Wohnung, legt auf dem Flurtisch etwas ab, einen Ordner wahrscheinlich, zieht sich raschelnd aus, atmet geräuschvoll, bückt sich ächzend, ach, jetzt zieht er die Schuhe aus, meine Mutter kommt aus der Küche, Küsschen, kurzes Gespräch, dann ist er endlich in meinem Zimmer und hält mir etwas hin.

Ich versuche an den kühlen Einbänden zu erraten, welche Bücher er mir mitgebracht hat, ich sehe extra nicht hin. Kann das sein? Tatsächlich! Wieder über sie? Wo ich doch ohnehin ein leidenschaftlicher Royalist bin. Ich verschmelze mit dem Sattel, halte meinen Kopf in den Wind, und seine Hoheit wird vom Schafott weg entführt. Auf der Krim, im Dezember, in der tiefsten Provinz in einer lausigen Bibliothek, aus deren Bestand ein Drittel – das beste – entwendet wurde, einen schmalen Bunin-Band finden, zur Post gehen und deine schwach flimmernde Stimme hören, auf die Freitreppe treten, die Lippen in die Brise halten, zum Strand gehen, mit dem Buch unterm Arm am Ende der Mole stehen. Ich drehe mich mit dem Rücken zum waschbrettgerippten Meer, behutsam, um dich nicht zu wecken, öffne die Balkontür einen Spalt – sie quietscht trotzdem – trete in das dunkle Zimmer, jemand, vielleicht Jelisaweta Rafaelowna, schlurft durch den Korridor, ich höre den Spülkasten in der Toilette rauschen, dann wieder Schlurfen. Streife die Jacke vom nackten Rücken und kehre von den scharf konturierten Abgründen der Welt zu dir zurück, wo zahllose Olja Meschtscherskis unter spitzen, vereisten Sternen betörend mit ihren Röcken über den Boden rauschen und mit ihren Klingen die Venen streifen.

Jede dritte Nacht hat Mutter Dienst. Und gegen neun kommt Walera, der Freund meines Bruders. Walera bringt Wein mit, und mein Bruder stellt aus der Vorratskammer ein Fläschchen Likör dazu. Walera ist, genau wie mein Bruder, fünf Jahre älter als ich. Zweiundzwanzig. Er redet, mein Bruder wirft nur hin und wieder ein „ja“ oder „nein“ ein, sagt „Bljum, Kwoka, die sind doch meine Kumpels“, „Ja, Dudka kneift die Beine zusammen.“ Ich sitze stocksteif auf dem Stuhl, meine kalkweißen Finger halten das dünne Glas umklammert. Walera im Studentenwohnheim der Polytechnischen Hochschule in Pensa. Er teilt ein Zimmer mit Guboschljop und Romascha. Guboschljop ist ein Sadist, der gern die Zigarettenstummel auf dem Körper seiner Freundin ausdrückt. Romascha hat eine andere Unart – er steigt gern als letzter in einen überfüllten O-Bus ein, fährt dem vor ihm stehenden Mädchen unter den Rock und streichelt ihren Po. Eines schönen Tages fahren Walera und Guboschljop zusammen nach Pskow, zu Guboschljops älterem Bruder. Und lassen sich dort mit Wodka volllaufen. Als Guboschljop und sein Bruder mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen sind, ruft Guboschljops Schwägerin Walera ins Bad – der Hahn ließe sich nicht aufdrehen –, zieht sich nackt aus, streckt die Arme in die Höhe, lehnt sich an die weißgekachelte Wand und flüstert: „Los, säg mich, na, mach schon!“, und zum Schnarchen der Männer nebenan sägt er sie auf dem Fußboden in einem fremden Bad, dass ihr Hören und Sehen vergeht. Und auf einem Wettkampf in Winniza – so einer grünen Provinzstadt – schnappt er sich im Avantgarde-Saal die Hauptpuppe und verpflanzt sie in den Botanischen Garten; der Wächter erwischt sie, hebt die Pfeife an die Lippen, Walera steht schon, das Spitzenhöschen in der Hand zusammengeknüllt, und wehrt mit derselben Hand den pomadigen Störenfried ab. Er kehrt aus Winniza als ukrainischer Juniorenmeister und gehörnter Liebhaber zurück; am ersten Tag nach seiner Rückkehr erfährt er, dass Pusyp seine Nata Komarowa genagelt hat. Sie erklärt es so: „Weißt du, Lerik, ich war schwanger von dir, und Pusyp hat einen langen, das soll helfen.“ Beine auf die Schultern. An die Ohren, an die Wange. Schwankend stand ich auf. „Beine auf die Schultern“ konnte ich mir nicht vorstellen – ich hörte es da einfach nur knacken.

Sie bemerkten nichts. Ich ging auf die Veranda und sog gierig die schwarze feuchte Luft ein. Mama rief von der Nachtschicht aus ihre zwei Geißlein an. Ich begann das Gespräch mit „Mach's gut“, Mama stellte tausend unmögliche Fragen, im Hörer rauschten und klimperten ihre zärtlichen Verkleinerungssuffixe, ich antwortete auf alles „Mach's gut!“; dann legte ich mich zu den lauten Stimmen von Walera und meinem Bruder hin, konnte nicht einschlafen, stand wieder auf, zog mich an, rannte in die Straße, in der meine Kommilitonin wohnte, und nur ihre räumliche Nähe rettete mich wie eine kühle Hand, die sich auf eine heiße Stirn legt. Als Walera  sie bei uns zu Hause antraf und mit seinem „Guten Tag“ berührte, gefror mir das Blut in den Adern, schnell führte ich sie in ein anderes Zimmer, nach draußen, ans Ende der Welt. Als ich meine Kommilitonin nach Hause gebracht, mir im Hausflur meinen Teil erküsst hatte, rannte ich erhitzt nach Hause, um stocksteif am Tisch zu sitzen und meine kalkweißen Finger ins dünne Glas zu bohren, bis sie knackten, das Glas, das mit klarem Wein, Blitzen und Klumpen von hellem Deckenlicht und dem herben Geruch von Küssen gefüllt war.

Seit ich allein lebe, träume ich oft von einer langen Warteschlange, wonach man ansteht, weiß ich nicht, wo sie hinführt, ist unklar, und die letzte in der Reihe ist meine Mama, stark gealtert, eine Greisin. Meine Hand ertastet den Schalter. Das Licht umfängt die Wände und zieht für einen Moment meine Lider nach unten. Die Wanzen springen auseinander, als hätte man einen Elektromagneten ausgeschaltet. Sie trampeln, pfeifen, keuchen, schräg wie Zisternen, rot wie die Feuerwehr. Im Radrennen rollt der Herbst durch die Stadt. Gehen wir zur Seite, machen wir ihm Platz, dem verrückten Rennfahrer, ohne das Tempo zu drosseln, reißt er jemandem eine Flasche aus der Hand, leert sie, wirft sie fort, und sie kullert klackernd wie eine leere Nuss über die Stufen der endlosen, abwärts führenden Treppe. Ausgelärmt. Ausgelodert. Wir laufen durch den September, der manuelle Sprühwagen überholt uns kurz und breitet vor uns eine neue Ozonstraße aus. Komm, ihm nach.

Wir laufen die Kruglouniwersitetskaja hinauf. Ein Rudel Hunde kommt uns entgegen. Die Nacht zieht herauf. Keine Angst. Sie tun uns nichts. Mein Haus. Die Fenster im vierten Stock sind nicht erleuchtet. Wir bleiben auf jedem Treppenabsatz stehen und küssen uns. Lass uns nach New York gehen. Dann wohnen wir im letzten Stock eines Wolkenkratzers mit einem kaputten Fahrstuhl und kommen jeden Abend gemeinsam nach Hause. Im September verwandelt sich mein Herz in eine Kastanie, ölig und fest. Im September – so – mein Herz – wollte ich … ölig und fest nennen, aber noch früher, seit meiner Jugend, als ich zum ersten Mal mit den Worten „der Abend fließt durch die Venen“ auf Papier in Berührung kam, habe ich davon geträumt, Prosa mit drei Sternchen zu schreiben; die drei fetten Brummer, die in die Luft gekleckst werden, seien mir verziehen – ihre Spur ist nicht zu sehen, ihre Spur ist zu hören – ein Anschwellen ohne Folgen, ohne Erlaubnis, diese deine Venen, die in die Hände münden, diese deine goldschimmernden Hände, die in mich münden. Wie gern würde ich mitten im Herbst aufstehen und in eine andere Lebensphase gehen, vorbei an den weißen Schürzen, den Vorboten des Winters, die Stimmen über ihnen, die wie Blütenblatt zu Blütenblatt neben dem Quittenschrei der Jungvögel fliegen. Miss Herbst, rascheln Sie doch etwas leiser, Sie verschrecken die Stimmen. Als das Laub fiel, sich entblätterte, als jeder Baum die Kinder zu sich rief und einen klirrenden Feuerspaß um sich errichtete – ein Karussell, ich riss mich los, mit einem Kuss im Mundwinkel, von dem mit Tränen polierten Hügel namens „Auf Wiedersehen!“ und wählte auf dem Nachhauseweg tausend Mal deine Nummer, um „Mach's gut! - Mach's nicht gut!“ mit dir zu spielen.

Dieser Herbst handelt von dir. Wie der schmale nahende Abend hinabgerannt, wie mit der Verandatür geknallt wurde. Ich weiß nicht wieso. Ich war erst beim trockenen Krachen da. Dann hat sie sich ausgezogen, das Mäuschen, und sich hingelegt, wo und wie es sich gehört. Sie war die schönste Hure in der ganzen Stadt. Mein Bruder hat seit frühester Jugend von ihr geträumt. Ihm blieb keine Wahl. Der Herbst um dich. Wie er lispelt, die Logopäden heben die Hände. Lass uns springen, uns drehen, aber halt dich gut an der flammenden Mähne der Mähre fest, siehst du, wie ein Kopftuch, wie ein Dach hat es den Titel fortgerissen, wir liegen da, und über uns, über der klaffenden Zimmerdecke stehen drei Sterne, ich habe von frühester Jugend von ihnen geträumt, und jetzt bleiben sie stehen.

ENDE

 

***

Geschrieben von Igor Pomerantsev 1975/76 in der Ukraine, von Claudia Dathe 2017 ins Deutsche übersetzt

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2023 Ex- Interieur Czernowitz, Igor Pomerantsev 

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