Mein erster Luftschutzkeller
Igor Pomeranzew
Aus dem Ukrainischen von Chrystyna Nazarkewytsch
Aus der Online-Anthologie Jänner 2023 ©State of War Meridian Czernowitz
Präsentation "Můj první kryt'"
Einladung zur Präsentation des Buches "Mein erster Luftschutzkeller" von Igor Pomerantsev in tschechischer Sprache mit der Übersetzerin aus dem Russischen Jana Kitzlerová moderiert von Jiří Macháček. Auf dem Programm stehen auch jiddische Lieder der Sängerin Barbora Jirásková.
16.1.2024 / 19 Uhr / Buchhandlung, Café Božská Lahvice, Bílkova 122/6, Praha 1 – Josefov
Der Lemberger Zug kam in Kyjiw um 6 Uhr in der Früh an. Der Kyjiwer Bahnhof begrüßte mich mit der Melodie des populären Lieds „Und wieder blühen die Kastanienbäume“. Auf dem Gleis standen Soldaten mit Krücken herum. Eine halbe Stunde später war ich bereits im Hotel in Podil-Viertel. Um sieben Uhr heulte die Luftalarmsirene auf. Ich ging in den Luftschutzkeller runter. Die amerikanischen Kollegen waren schon dort. Ich versuchte ihnen das Gedicht vom Kyjiwer Dichter Semen Hudsenko zu übersetzen:
Bin ich ein Magnet
der Minen anzieht
Explosion – und der Leutnant röchelt
Der Tod geht wieder an mir vorbei.
(1942)
Die Übersetzung gelang mir mäßig, besonders unzufrieden war ich mit dem Wort „röchelt“. Die Amerikaner haben meine Übersetzung höflich gelobt. Oben floss bereits Blut in Strömen. Ich saß da und bastelte eine Reportage. Die beiden ersten Sätze hatte ich schon: Sperrstunde. Podil bei Nacht.
In einem Radiointerview, das ich mit einem Flüchtling und Künstler führte, antwortete er auf meine Frage nach der U-Bahn-Gestaltung: „Als erste habe ich die Metrostation Taras Schewtschenko künstlerisch gestaltet. Ich arbeitete am komplexen Stationdesign: ein monumentales Schewtschenko-Porträt an der Seitenwand. Außerdem entwarf ich Kronleuchter. Ich war Spezialist im Bereich der Leuchtenanker, machte für das Schewtschenko-Museum Leuchter im Empire-Stil. Die zweite Station war Respublikanskyj Stadion. Dort stellte ich Fußball- und Hockeyspieler auf Mosaiken und Reliefen dar.“
Wieder zu Hause blätterte ich in einem Erzählungsband von Julio Cortazar. Er schrieb gerne über die U-Bahn. Es gibt in diesem Band eine romantische Erzählung: der Protagonist lächelt hübsche Frauen an, mit denen er U-Bahn fährt, indem er sein Lächeln in das dunkle Fenster des Waggons schickt, in der Spiegelung erwidern die Frauen sein Lächeln. Auf diese Weise lernt er Frauen kennen. Eine andere Erzählung ist surreal und wie aus einer Unterwelt. Darin geht es um eine geheime Nation, die die U-Bahn-Räumlichkeiten besiedelt. Man kann diese Menschen an ihren blassen Gesichtern erkennen, an ihrem geräuschvollen Gähnen, an ihren ziellosen Wanderungen durch unterschiedliche U-Bahn-Linien. Sie befinden sich immer in Bewegung, ihre Liebesbeziehungen sind kurzweilig, ihre Routen kennen keine Endstationen.
Eine weitere Frage, die ich dem Künstler stellte, lautete: „Konnten Sie sich damals, als Sie an der Gestaltung der beiden Stationen arbeiteten, vorstellen, dass sie einmal zu Luftschutzkellern werden würden?“ – „Nein, natürlich nicht! Die U-Bahn-Stationen sollen der Beförderung der Menschen dienen. Ich weiß, dass meine Freunde die U-Bahnstationen als Luftschutzkeller benutzen und meine Monumentalwerke dabei betrachten müssen. Sie schauen sich die Werke wohl kaum mit der Gründlichkeit eines Museumsbesuchers an“.
In seiner ersten Erzählung schreibt Cortazar, der Mensch spüre gerade in der U-Bahn die eigene Einsamkeit und Abgeschiedenheit besonders schmerzhaft. Bei meinem Besuch in Kyjiw erzählten mir meine Gesprächpartner*innen, dass wildfremde Menschen gerade während der Luftalarme und während des Raketenbeschusses eine unvorstellbare Nähe und Verwandtschaft zueinander empfingen.
Eine Frau, die vor dem Krieg flüchten musste, sagte mir: „Wissen Sie, es ist problematisch, mich zu wecken. Weil ich unter Schlaflosigkeit leide. Ich weiß nicht einmal, ob ich schlafe oder nicht. Dabei träume ich. Einmal hielt ich Straßenlärm für ein Feuerwerk, ich dachte mir: was für festlicher Traum. Als ob ich im Stadtgarten wäre, um mich herum spazierten Menschen, eine Blaskapelle spielte, Kinder drehten sich auf Karusellen … Zum Glück leben wir direkt an der U-Bahn-Station. Ich raffte Osiris und nach fünf Minuten waren wir schon unten. Die gestresste Katze zerkratzte mir die Wange. In der U-Bahn wurden meine Kratzer mit Wasser ausgewaschen, Osiris und ich beruhigten uns allmählich. Von der Wand schaute uns der Dichter Schewtschenko an.“
Die Texte von Julio Cortazar handelten von der Pariser Metro und der U-Bahn in Buenos-Aires in den 1950-60er Jahren. Ich meinerseits schreibe über die Kyjiwer U-Bahn des Jahres 2022.
1938 veröffentlicht Antoine de Saint-Exupéry eine Reportage unter dem Titel Mitten in der Nacht hallen die Stimmen der Feinde aus den Schützengräben. Es ist vier Uhr nachts. Die Muttersprache der verfeindeten Menschen ist gleich, nämlich Spanisch. Sie können sich gegenseitig töten, auf eine glimmende Zigarette schießen, aber ab und zu rufen sie sich gegenseitig etwas zu. Das ist ihre akustische Brücke, ihre gemeinsame Vergangenheit, die vom Krieg untergraben wurde. Ihre Stimmen sind heiser, die Worte haben Risse. Jede Seite hat ihren eigenen Rufer mit starken Lungen. Er holt tief Luft und schreit:
– An-to-ni-o! Ich bin’s ... Le-on!
Die Nacht verstärkt nur den Widerhall, rollt ihn übers Tal, das die verfeindeten Lager trennt, zum Schützengraben an der anderen Seite. Nach fünf Sekunden kehrt das Echo zurück, zerrissen in Einzellaute:
– Z-e-i-t-z-u-s-c-h-l-a-f-e-n!
Es scheint ein Gespräch zwischen nahstehenden Menschen zu sein, vielleicht sind es Verwandte.
Schon wieder donnert ein Stimmenblitz:
– An-to-ni-o! Wo...für...kämpfst ...du?..
– Für… Spanien… Und du?..
– Fürs… Brot… für… unsere… Brüder…
Es wird klar: es ist ein Gespräch zwischen einem Sozialisten und einem Frankisten.
– Gu-te-Nacht, a-mi-go!..
Am nächsten Tag werden Antonio und Leon einander töten, nun aber werden sie wissen wofür.
Okkupanten aus einem anderen Land drangen in die Ukraine. Ja, sie sprechen eine hier verständliche Sprache, aber sie sind hier fremd, sie sind Eindringlinge. Ukrainische Soldaten wissen, wofür sie sterben können. Die Feinde jedoch hätten auf die Frage „Wofür kämpft ihr?“ keine Antwort. Die Antwort werden sie vermutlich verschweigen: „Wir sind zum Rauben und Morden hier.“
Jedes Jahr im September werden in Tschernowitz Gedichte gelesen. Es ist mittlerweile eine Tradition geworden. Der Krieg verleiht scheinbar den halbvergessenen Worten, die wir nur aus Militärwörterbüchern und alten Gedichten kannten, wieder Sinn. Eines dieser Wörter ist das Wort „Front“. So wird die vorderste Gefechtlinie bezeichnet. Es gibt gleichzeitig eine andere, offenere Bedeutung dieses Wortes. Frontmenschen kann man alle Menschen, von Charkiw bis New York, nennen, die mit dem Gedanken an die Ukraine einschlafen und nach dem Erwachen den Tag mit den Kriegsnachrichten beginnen. Auch die von uns gelesenen Gedichte klingen jetzt -- ob es uns recht oder nicht ist – wie Frontgedichte. Alle poetischen Klassiker, selbst Schewtschenkos Kirschgarten oder sein Testament gehören nun zur Frontlyrik. Warum? Weil Lyrik dem Tod widersteht, und der Krieg ist Tod. Die Lyrik besitzt zwar weder Haubitzen noch geflügelte bzw. flügellose Raketen noch Streubomben, dafür aber hat sie hochpräzise Wörter, gegen die Waffen machtlos sind.
Am Festivalabend in Tschernowitz liest Milena Findeis Gedichte. Sie wird von einem Tschernowitzer Germanistikprofessor gedolmetscht. Mitten in der Lesung fängt sie an zu weinen. Der Professor schweigt verwirrt. Das Publikum weint mit. Nach der Lesung kommt eine Frau aus dem Publikum auf die Lyrikerin zu und bedankt sich: „Danke für Ihre Tränen!“. Im September 2022 begegnen sich in Tschernowitz deutsche freie Verse und ukrainische Trauerklagen.
Literatur aus der Ukraine: Im Rahmen des Projektes „Verstärkung des Klanges ukrainischer Stimmen in Europa" wird die Anthologie «State of War» (2023) mit Essays der teilnehmenden Autor*innen vorgestellt.
*Igor Pomeranzev, Iryna Tsilyk und Artem Tschech (ZOOM). Moderation: Moderation Evgenia Lopata
Bei einem ihrer Prag Besuche gab ich Alena Wagnerová, das im Herbst 2023 in tschechischer Sprache erschienene Buch von Igor Pomerancev "Můj první kryt" - Mein erster Luftschutzkeller - aus dem Russischen ins Tschechische übersetzt von Jana Kitzlerová, Protimluv, auf die lange Bahnreise von Prag nach Saarbrücken mit. Milena Findeis
Als ich Pomerancevs Buch "Můj první kryt" im Zug in die Hand genommen habe und zu lesen begann, war es, als würde ich ihn durch sein Leben begleiten, berührt, neugierig; und plötzlich fand ich mich in einem noch lebendigen östlichen Mitteleuropa. Er wurde 1948 geboren und doch hat man das Gefühl, er lebt darin, aber nicht in Erinnerungen. Denn er fühlt, was alle die Städte und Orte der Bukowina, die einmal zu Österreich gehörten, heute noch ausstrahlen. Und die verlorene Gegenwart ist plötzlich wieder da. Nach den ersten Seiten scheint sein Buch einfach geschrieben zu sein. Aber hinter den Worten hört man seine Stimme und fühlt sein Herz. Und in seinem Buch, als wäre es ein Marktplatz zum Gespräch, wird die Geschichte wieder lebendig und ich mit ihm in Czernowitz. Danke, Igor Pomerancev, für die Tiefe der Klarheit mit der er den Leser in die Bukovina mitnimmt und sie für ihn entdeckt.
Alena Wagnerová