PAWEL L'WOWITSCH
Igor Pomeranzew
Palimpsest Czernowitz - Fiktive Erzählung: Paul Celan und Rumänien, übersetzt von Petro Rychlo
So nannte man ihn bei uns zu Hause. Ich war etwa fünf Jahre alt, als er zum ersten Mal zu uns kam. Ich erinnere mich nicht mehr, wie er damals aussah, wie und worüber er sprach. Dann verschwand er wegen einer kleinen Streitigkeit mit meinem Vater. Und tauchte erst wieder in meinem Leben auf, als ich bereits ein Halbwüchsiger war. Zu der Zeit wusste ich, dass mein Vater ihn an seiner Arbeitsstelle kennengelernt hatte. Mein Vater arbeitete damals bei der Czernowitzer Zeitung Radjanska Bukowyna (“Sowjetbukowina”) und Pawel L’wowitsch für die rumänischen Beilage Zorile Bukovinei (“Bukowiner Stern”). Mein Vater und seine Kollegen schrieben auf Ukrainisch Leitartikel, Notizen und Glossen und Pawel L’wowitsch und seine rumänischen Kollegen übersetzen diese Makulatur ins Rumänische. Beide Zeitungen logierten in demselben Haus in der Ukrainska-Straße.
Eines Tages kam Pawel L’wowitsch in Vaters Büro, stellte sich vor und sagte, er wisse nicht, wie er den Titel von Vaters Glosse über die wildernden Fischer “Pruth-Treidler” ins Rumänische übersetzen solle: Der rumänische Leser kennt das Bild des russischen Malers Ilja Repin Wolgatreidler nicht und kann die Ironie des Autors nicht verstehen. Mein Vater sträubte sich nicht und schlug einen neuen Titel vor: Fischsuppe nach Pruth-Art. Damit war alles entschieden. Seitdem trafen die beiden sich nicht mehr nur dienstlich. Pawel L’wowitsch besuchte uns mit seiner Frau Gisèle Neronovna in der Lermontov-Straße, und meine Eltern kamen bei ihnen in der Saksahanskyj-Straße vorbei. Es gefiel Pawel L’wowitsch, dass wir in der Lermontov-Straße wohnten. Er scherzte: “Deswegen übersetzte ich den Roman Ein Held unserer Zeit ins Rumänische!”. Meine Eltern hielten die Ehe von Pawel L’wowitsch für eine Mesalliance: Er stammte aus einer österreichisch-jüdischen Familie, seine Frau Gisèle Neronovna dagegegen führte ihre Abstammung auf bessarabische Juden zurück. Er sprach ganz gutes Russisch, wenn auch mit deutschem Akzent, sie dagegen klang in allen Farbtönen Jiddisch, und das voller Seele und in größter Lautstärke. Mein Vater ging gelegentlich zu seinem im heimatlichen Odessa erlernten Jiddisch über, doch Pawel L’wowitsch antwortete beharrlich auf Russisch oder Ukrainisch. Mein Vater ärgerte sich darüber und bat: “Bitte, lass uns doch Jiddisch sprechen, sonst verrostet mir die Sprache wie Altmetall.”
Eine Sternstunde in den Beziehungen meines Vaters zu Pawel L’wowitsch war der Besuch des populären Moskauer Schriftstellers Konstantin Simonov, der heutzutage in seiner Heimat beinahe vergessen ist, in Czernowitz. Simonov ergänzte das drollige Duett der beiden Czernowitzer. Er sprach den Laut “r” unsauber und schluckte das “l”. Sie trafen sich bei uns, da Pawel L’wowitsch nur eine Einzimmerwohnung lebte, und wir zwei Zimmer hatten. 1946 übersetzte Pawel L’wowitsch Simonovs Drama Die russische Frage ins Rumänische. Es wurde in Bukarest aufgeführt, und dank diesem Umstand brauchte Gisèle Neronovna sich selbst und ihrem Mann in keiner Weise etwas zu versagen. Simonov hielt die Nase nicht hoch, er nannte sowohl meinen Vater als auch Pawel L’wowitsch seine “Federblutsbrüder” und versprach dem “eminenten rumänischen Übersetzer und Freund” sein neues Stück Ein fremder Schatten zu schicken — in dem er “heimatlose Kosmopoliten” attacktierte. Als Simonov wegging, fragte der Vater: “Pawel, vielleicht reicht uns hier schon ein Agitationsblatt? Gut, er hat Amerika mit Dreck beworfen, aber “heimatlose Kosmopoliten” — das ist zu viel.”
Pawel L’wowitsch kannte den Ausdruck “heimatlose Kosmopoliten” nicht, wie sich bald zeigte. Er versprach, das neue Stück von Simonov nicht zu übersetzen, nahm seinen Verzicht dem Vater übel und verschwand wieder einige Jahre aus unserem Blickfeld. Die zwei haben sich erst 1961 bei einer Versammlung in der Redaktion von Radjanska Bukowina versöhnt. Bei dieser Versammlung forderten jüdische und ukrainische Journalisten, den Dichter Meir Charaz mit aller Strenge zu verurteilen, der seine Gedichte in der Warschauer jüdischen Zeitung Volksstimme veröffentlichte. “Von welchem Volk? Wessen Stimme? In welcher Währung wurde er bezahlt?” Damals lernte ich von meinem Vater das Wort “Ordalien” kennen, Gottesurteile.
Der Vater und Pawel L’wowitsch hatten bei der Versammlung geschwiegen, aber danach brachten sie Charaz mit zu uns nach Hause — wir hatten doch eine Zweizimmerwohnung! — und da hörte ich zum ersten Mal einen wirklichen Dichter. Charaz las in seiner jiddischen Muttersprache vor, und obwohl ich wenig verstand, hörte ich in seinem heiseren Brodeln die Stimme der jüdischen Lyra. Nach Charaz trug Pawel L’wowitsch seine Gedichte vor. Damals waren im Langwellen-Radio rumänische Stimmen oft zu hören, besonders die von Popstars. Bis heute erinnere ich mich an die tiefe Stimme von Doina Badea, an ihr Tango d’amore und Romania mea. Jede Stunde begann mit der Ankündigung: “Ora exacta”. Viel später begriff ich, dass das “genaue Zeit” bedeutet, aber als Halbwüchsiger stellte ich mir vor, dass es der Name einer rumänischen Dichterin sei, und erwog sogar, die für das russische Ohr so rätselhaft klingende Wortfügung “Ora exacta” als mein literarisches Pseudonym zu übernehmen. So falsch wäre das nicht gewesen: Gute Dichtung zeigt immer die genaue Zeit und findet genaue Worte. Ich verstand sofort, dass Pawel L’wowitsch auf Rumänisch las. Im Unterschied zu Charaz brodelt er nicht und sang keine hohen Töne, sondern trug seinen Tangoul Mortii (“Todestango”) sanft und unverbindlich vor. Ich konnte nur einzelne Wörter unterscheiden: negru (schwarz), laptele (Milch), german (deutsch). An jenem Abend vergaß Pawel L’wowitsch bei uns eine Zeitschrift, in der seine Gedichte publiziert wurden. Ich las sehr sorgfältig, denn zum ersten Mal hielt ich eine ausländische Ausgabe in meinen Händen. Die Zeitschrift hieß Contemporanul, Jahr und Monat verstand ich ohne Übersetzung: mai, 1947, den Ort verstand ich auch București. Der Name des Autors verwirrte mich etwas, denn ich wusste, dass der Nachname von Pawel L’wowitsch Antschel lautete. Am meisten aber verwirrte mich der Name des Übersetzers, wie überhaupt seine Existenz. Ich wusste doch genau, das Pawel L’wowitsch rumänischer Dichter ist und auf Rumänisch schreibt. Wozu braucht er dann einen Übersetzer mit dem komischen Namen Petre Solomon? War Solomon nicht auch ein Vorname und kein Nachname? Diese Frage blieb lange ohne Antwort, und das auch, weil am nächtsten Tag Pawel L’wowitsch wieder zu uns kam und seine liegengelassene Zeitung mitnahm.
Für einige Jahre vergaß ich die Existenz von Pawel L’wowitsch. Aber 1946 trafen wir uns wieder, diesmal auf seine Initiative hin, was ganz ungewöhnlich war. Damals, im Alter von sechzehn Jahren, hatte ich in der Stadt den Ruf eines Literatur Wunderkindes. Ich schrieb Gedichte und las sie frech überall vor, wo es möglich war: im Pionier Klub, im Eisenbahn Club, im Palast der Textilarbeiter. Meine Gedichte waren dümmlich und vorlaut:
In Jaremtsche sind Birken,
Jaremtsche ist einem Leuchter gleich,
Jaremtsche ist ein himmlischer Schaukasten,
Steine und Berge sind schneidend
an den Wasserfall angebaut, und das Wasser peitscht
Welle an Welle, Wirbel an Wirbel,
als ob jemand die Notbremse gezogen hätte …
Und so weiter. Pawel L’wowitsch rief bei uns an und bat zur Verwunderung meiner Eltern mich ans Telefon. So besuchte ich ihn dann zum ersten Mal. Kurz davor veröffentlichte die Moskauer Zeitung Jewgenij Jetwtuschenkos Gedicht Babij Jar. Es hatte sich herausgestellt, dass Pawel L’wowitsch im Sommer 1944 eine Fahrt von Czernowitz nach Kiew mit einem Lazarettzug gemacht hat, bei dem er als Krankenpfleger angestellt war, und dass er bei dieser Gelegenheit auch Babij Jar - den Ort der Massenerschießungen an Juden - besucht hatte. Er erzählte: “Es war einfach eine Müllhalde, kein Schild, kein Blumenstrauß. Die Deutschen haben dort mit der der Vernichtung von psychisch Kranken begonnen, dann haben sie immer mehr getan …” Jewtuschenkos Gedicht hatte Erfolg gehabt, und eine anerkannte Kischinewer Zeitschrift bestellte bei Pawel L’wowitsch eine rumänische Übersetzung. Er bat mich, ihm mit meinem Russisch einige Wörter und Sätze zu präzisieren. Was bedeutet das Wort “Rauschen” in der Zeile “Ist es das Rauschen Frühlings?” Mit “Rauschen” war ich schnell fertig. Aber warum die Zeile “Dreyfus, auch er, das bin ich./ Der Spießer denunziert mich, der Philister “spricht mir das Urteil” (Übersetzung von Paul Celan). Ich erklärte: Der Dichter meint, dass Dreyfus von einer Spießbürger Menge fast zu Tode gehetzt wurde. Pawel L’wowitsch wunderte sich: “Sind Alphonse Daudet, Jules Verne, Paul Cezanne eine Spießbürger Menge?”
Ich verbrachte den ganzen Abend bei ihm, und wir entfernten uns weit von der Übersetzung, blieben aber beim Thema. Er erwähnte Aron Pumnul, den Gymnasiallehrer des Dichters Mihai Eminescu. Ihm war eingefallen, dass Eminescu, als Kind noch Eminovici, seine jüdische Abstammung verbergen und sein Jiddisch im Rumänischen unterdrücken musste. Für mich war das alles ungereimtes Zeug, aber ich saß, ohne mich zu rühren. Pawel L’wowitsch konnte sich lange nicht beruhigen. Er erwähnte auch den Wiener Juden Karl Kraus, der mit einer Fackel in der Hand für die Reinheit der deutschen Sprache gegen die eingewanderten “jüdischen Barbaren” gekämpft hatte. Und dann kehrt er wieder zu Eminescu zurück: “Stellen Sie sich vor, Igor, sein Gedicht Doina wurde zur Hymne der “Eisernen Garde”, die jüdische Pogrome verübt hatte!” Den Namen Eminescus kannte ich dank der Gedenktafel an der Wand der allgemeinbildenden Mittelschule Nr. 1, in der meine Freunde gelernt haben. Offensichtlich hatte sich dort in endlos entfernter Vergangenheit das Gymnasium befunden, das der zukünftige Klassiker besucht hatte. Während des Gesprächs, genauer gesagt, des Monologs Pawel L’wowitschs, nickte ich eifrig mit dem Kopf, als ob ich verstünde, wovon er redete und seine Gefühle teilte. Gisèle Neronovna rettete mich: In der Wohnung waren Dinge zu erledigen, und so konnte ich mich schließlich wie ein Erwachsener verabschieden.
1965 wurde ich Student an der Universität Czernowitz, die in der Zukunft den Namen von Jurij Fedkowytsch tragen sollte. Ich hatte vor, Philologe zu werden und hegte große Pläne. Bereits am ersten Studientag begegnete ich im Korridor unseres Universitätsgebäudes abermals Pawel L’wowitsch. Er war gealtert, sah elegant aus, in einem Samtsakko und Wildlederschuhen — nach unseren damaligen Vorstellungen unerreichbare Dinge. Ich konnte meine Augen nicht von ihnen losreißen, und er erklärte sich fast schon rechtfertigend: “Ich war mit dem Vorsitzenden des Stadtrates in Jassy, das ist unsere Patenstadt in Rumänien. Als Dolmetscher. Da habe ich mich an meine Jugend erinnert und ging auf den lokalen Markt. Das war, man kann es so sagen, mein ausländisches Debüt. Ich habe einfach Glück gehabt! Ja, man hat mich inzwischen in den Schriftstellerverband aufgenommen, in die Übersetzer Sektion. Oh nein, gratulieren Sie mir nicht, das sind ja Kleinigkeiten.” Pawel L’wowitsch lud mich ein, an seinem Lehrstuhl vorbeizukommen, wo er seit einigen Jahren arbeitete. “Das ist dort” — er zeigte mit der Hand in eine unbestimmte Richtung. Es stellte sich heraus, dass es ein unsichtbarer Lehrstuhl war, an dem ein Häuflein rumänischer Philologen arbeitete. In den fünf Jahren meines Studiums fand ich ihr Büro nie, als ob sie sich absichtlich versteckt hätten. Bei unserer Begegnung sagte ich Pawel L’wowitsch, dass ich begonnen hatte, deutsche Dichter ins Russische zu übersetzen, und ihm für Ratschläge oder einfach für ein Gespräch dankbar wäre. Er lud mich zu sich ein, fügte aber hinzu: “Mein Deutsch ist ein wenig verrostet, ich schreibe seit langem nur Rumänisch” — er zog aus seiner Aktentasche die Zeitschrift Nistru und zeigte mir seine Publikation —, aber ich helfe gerne, soweit es mir möglich ist. Wie geht es dem Vater?” Ich antwortete, der Vater habe einen Infarkt gehabt und sei jetzt im Ruhestand. “Sind Sie weiter in der Saksahanisgasse?”, fragte ich. Wir verabredeten ein Treffen am nächsten Sonntag.
Ich kam zu Pawel L’wowitsch und brachte ein Konvolut deutscher Gedichte und meine Rohübersetzungen mit. Doch lief alles anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Zuerst bewirtete uns Gisèle Neronovna mit einem in Pfeffer gesülzten Spiegelkarpfen, Auberginenpüree und Karotten-Zimmes. Der Karpfen schmeckte wunderbar, stolz lag er mit geöffnetem Maul vor uns auf dem großen Teller und es schien, als ob er im nächsten Moment sprechen würde. Kurz nach dem Abendessen schaltete Pawel L’wowitsch zu meiner Verwunderung den Fernsehapparat ein. Meine Verwunderung ging in Erschütterung über: Der Fernseher zeigte einen rumänischen Sender. Ich war baff und erschrak, denn es war nicht erlaubt, ausländische Programme anzuschauen. Auf dem Bildschirm erschien währenddessen eine Künstlerin und sang auf Französisch. Pawel L’wowitsch nannte ihren Namen, indem er die letzte Silbe betonte: “Barbara. Ihre Mutter stammt übrigens aus Tarnopol”. Barbara wurde von einem dickbäuchigen Zwerg mit glotzenden Augen ersetzt.”Das ist Hitchcock, Igor, Alfred Hitchcock”. Der sprach Englisch, Rumänisch untertitelt. Er versprach, Zuschauer zu erschrecken und zeigte, dass er sein Versprechen halten würde. Doch Pawel L’wowitsch erlaubte Hitchcock nicht, mich zu erschrecken und schaltete den Fernseher aus. “Na, und wen willst Du übersetzen?”, fragte er mich. Ich holte ein verlottertes Büchlein von Gottfried Benn heraus, das mir meine Deutschprofessorin Rosa Sigmundovna gegeben hatte. Pawel L’wowitsch verzog das Gesicht “der schlaue Hintern auf zwei Stühlen. So sagt man das, glaube ich auf Russisch. Aber die Gedichte sind trotzdem gut. Was hast Du für die Übersetzung gewählt? Ah, das anatomische Theater, weiße Bettlaken, Sezierung … Alles steht weiß und schnittbereit … In meiner Jugend habe ich das gern gehabt. Warum auf zwei Stühlen?” Weil er über “arische Geistigkeit” und “Rassen Vervollkommnung” schreiben musste. Und über deutsche “Führer”, als Schöpfer und Architekten des Westens. Und das alles bereits in den 30er-Jahren! Aber seine Gedichte sind dennoch wunderbar. Ich liebe etwa dieses:
TRISTESSE
Die Schatten wandeln nicht in den Hainen,
davor die Asphodelenwiese liegt …
Ich dachte mir, dass es ein Gedicht über die Schatten hinter einem Asphodenfeld sein müssse. Pawel L’wowitsch setzte fort: “Oder dieses:
Wer allein ist, ist auch im Geheimnis,
immer steht er in der Bilderflut …
Der Einsame ist ins Geheimnis eingehüllt … und so weiter in demselben melancholischen Sinn. Wollen wir daran ein wenig gemeinsam arbeiten?”
Ich blieb bis spätabends bei Antschels, und Gisèle Neronovna gab mir zum Abschied den Karpfenkopf mit. Bis heute erinnere ich mich an jenen Abend als einen der glücklichsten meines Lebens. Richtige Asphodelen sollte ich nie sehen, ich fand sie aber wie alte Bekannte in den Krim-Gedichten Mandelstams wieder:
Fern ist noch der durchsichtig-graue
Frühling der Asphodelen.
Solang noch wirklich
der Sand raschelt und die Welle braust.
Zum letzten Mal trafen wir uns im Juli - vermutlich am 20. Juli - 1969. Pawel L’wowitsch fand mich im technischen Fremdsprachen Kabinett. Mit einer Geste bat er mich, die Kopfhörer abzunehmen und sagte: “Komm zu mir”. Mehr erklärte er nicht. Als wir zu ihm in die Wohnung gekommen waren, schaltete er den Fernsehapparat mit seinem Lieblingssender ein. Zuerst verstand ich nichts: Auf dem Bildschirm waren zwei Astronauten zu sehen — ungeschickt wie Bärenjungen schlugen sie unsinnige Kapriolen auf einer toten Fläche, tummelten sich, tollten umher, einer von ihnen sagte deutlich auf Englisch: “Wird der Raumanzug undicht, dann ist einer von uns tot, sofort”. Ich versteinerte. Dank Pawel L’wowitsch war ich beinahe der einzige sowjetische Bürger, der eine Direktübertragung der Landung des ersten Menschen auf den Mond sehen konnte. Pawel L’wowitsch schenkte mir den Mond.
Auf dem Mond, da wächst ringsum
kein einziger Grashalm;
Auf dem Mond, da flicht das Volk
wunderschöne Körbchen …
Wir haben uns nie mehr getroffen. Das Jahr 1970 war für mich außerordentlich schwer. Mein Vater starb an einem Herzinfarkt und Ende April fischten die Milizionäre die Leiche von Pawel L’wowitsch aus dem Pruth. An seinem Begräbnis nahmen vielleicht zehn oder zwölf Personen teil. Ich trug den Sarg. Er war ungewöhnlich leicht. Ins Grab senkte man ihn mit Seilen hinab. Der Rabbi sorgte dafür, dass der Tote in der Erde ordentlich lag: mit den Füßen nach Osten, mit dem Kopf nach Westen. Vor dem Begräbnis las der Rabbi keine Psalmen: Selbstmörder werden nicht besungen.
PAWEL L'WOWITSCH russischer Name von Paul Celan
©Aus dem Russischen von Petro Rychlo — Paul Celan Literaturzentrum - Deutsch-ukrainische Anthologie Paul Celan 100, 2020
PAUL CELAN 100
Das Video "Igor Pomeranzew: Versuch über Paul Celan" - erklärt den Hintergrund des Essays "PAWEL L'WOWITSCH", eine fiktive Erzählung, was wäre aus Paul Celan geworden, wenn er im sowjetischen Czernowitz geblieben wäre. Der Autor Igor Pomerantsev verbrachte seine Jugend in Czernowitz und ist einer der Initiatoren des literarischen Festivals "Meridian Czernowitz"
Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz: Im Rahmen des Projektes "Paul-Celan-Literaturtage 2020" gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Die deutsch-ukrainische Anthologie "Paul Celan 100" herausgegeben von Evgenia Lopata enthält weiters Beiträge von Juri Andruchowytsch, Nora Bossong, Serhij Zhadan, Alexandra Bulucz, Oksana Sabuschko, Max Czollek, Kateryna Kalytko, Daniela Danz, Andrij Ljubka, Klaus Reichert, Tanja Maljartschuk, Yoko Tawada, Ron Winkler
This happens every day
LONDON REVIEW OF BOOKS, Vol. 43 No. 15 · 29 July 2021
Paul Celan was born in 1920 and died in 1970. The symmetry of these dates, arranged around the end of the Second World War, seems cruelly freighted, as does the fact that Celan chose to end his life on Hitler’s birthday. Celan – he gave himself the name by inverting the order of the syllables of his original surname, Antschel – grew up in Czernowitz, then part of Romania, now part of Ukraine. During the war he worked in forced labour camps in Czernowitz, and was released in 1944 when the Soviet army advanced into Romania. Both his parents had also been sent to labour camps in 1942, along with all the other Jews in Bukovina. His father died of typhus, his mother was killed because she was no longer healthy enough to work. The German language, Celan often said, was his mother’s tongue and the tongue of her murderers (‘Muttersprache und Mördersprache’). Writing poetry in German was for him both an act of remembrance and a rescue mission, as if a language could and could not be saved from its historical contamination.
Celan lived in Bucharest for two years after the war ended, then in Vienna, moving in 1948 to Paris, which remained his home – or would have done if he had believed in such a thing – until he died. ‘Heimat,’ he told Daive, ‘is an untranslatable word. And does the concept even exist? It’s a human fabrication: an illusion.’
Michael Wood
»Joris’s translations of Celan’s collected later poetry, Breathturn into Timestead, appeared in 2014, and separate volumes were published much earlier: he started translating Celan in 1968. Now we have the collected earlier poems. Joris speaks of the pleasure of going back to ‘these four books in their order of composition’, and we may mention another pleasure: that of rereading the complete poems in a flipped arrangement, the second half first. It is astonishing how ‘late’ some of the earlier poems feel. This effect is enhanced by Joris’s style as a translator. A poet himself, he is not afraid of strangeness in diction. He doesn’t seek it out, but he knows when it sounds good. He brings us very close to Celan at work, shows him leading the words along and being led by them, as Celan himself describes the process.We can think of the poem ‘Heimkehr’ (‘Homecoming’), probably written in 1955, which concentrates so firmly on its unmetaphorical snow that it is hard for us to think of anything else. But then it’s hard too not to think of the several different histories the snow invites us to imagine. What does snow have to do with sleep? Who are the lost? Why are the separate hills some kind of home? What loyalties does the flag represent? A note suggests the poem is in part an improvisation on Kafka’s story of the same title.
Snowfall, thicker and thicker,
dove-coloured, like yesterday,
snowfall, as if you were asleep even now.
Far layered whiteness.
Over it, endless,
the sledtracks of the lost.
Underneath, salvaged,
bulging up,
what hurts the eyes so much,
hill after hill,
invisible.
On each,
brought home into its today,
an I that slid into muteness:
wooden, a stake.
There: a feeling,
blown over here by the icewind,
fastening its dove-,
its snow-coloured flagcloth.
«
PS: In einem Interview "A city where God eavesdrops" mit Dmytro Desiateryk, The DAY am 1. April 2008 führte Igor Pomoneranzew an, dass es ihn nicht möglich sei, nach Czernowitz zurückzukehren. Er kehrte zurück, ab 2009 besucht er jährlich Czernowitz.
Weitere Beiträge von Igor Pomerantsev in englischer und deutscher Übersetzung unter diesem Zeitzug Link