Radio - Mein Element der Freiheit

Igor Pomerantsev

Igor Pomerantsev, Radio Liberty


"Radium" und "Radio" haben denselben Wortstamm. Wenn Physiker mit Radium arbeiten, tragen sie Schutzkleidung, die Mitarbeiter einer Radiostation arbeiten ohne Absicherung - im öffentlichen Raum des Äthers lässt sich kein Sicherungsnetz aufspannen. Ich arbeite jetzt seit mehr als dreißig Jahren im Auslandsfunk, beim Russischen Dienst der BBC (im Bush House) und jenem von "Radio freies Europa" (in München und Prag). Gewöhnlich bin ich von intelligenten und kreativen Menschen umgeben. Viele von ihnen gehören zur Crème de la Crème der Kultur ihres jeweiligen Landes: führende Dichter, Regisseure, Essayisten. In "normalen" Ländern ist das Radio kein vergleichbarer Konzentrationspunkt einer solchen Anzahl an "Stars". Allerdings stamme ich ich aus keinem Land, das man zu den "normalen" Ländern zählt. Und auch die Menschen aus meiner Umgebung  kommen aus "anormalen" Ländern - entweder ist die Freiheit dort eingeschränkt oder es gibt sie gleich überhaupt nicht. Das Ganze  läuft auf Folgendes hinaus - meine Umgebung besteht aus historischen Unglücksvögeln und Verlierern, so groß der persönliche Erfolg meiner Kollegen auch sein mag. Mittlerweile blicke ich ich mit einiger Wehmut den ehemaligen Redaktionsmitgliedern nach, die in eine "normale" Welt entschwunden sind. Zuerst machten das die Ungarn, Polen und Tschechen; danach die Esten, Litauer und Letten. Vor gar nicht langer Zeit folgten dann auch die Bulgaren und die Rumänen. Kaum dass du aufschaust - und die Ukrainer reißen sich los in die Freiheit ... Sollte es möglich sein, dass ich "lebenslang" bekommen habe? Ich fühle mich wie einer, der noch ein weiteres, zweites Jahr blieb, aber - was heißt hier ein zweites Jahr? Ein zweites Jahrzehnt, ja sogar - ein zweites Jahrtausend! Vor Depressionen bewahrt mich jene Sprache, die ich für mich entdeckt habe - die Sprache des Radios. Die Sprache des Radios ist weiter, reicher und wohlklingender als jede beliebige andere Sprache. In ihr kann man das Alter mitteilen, erotische Verzückung, das Herannahen des Wahnsinns, das Sterben. Es interessiert mich nicht, Kultur zu beschreiben - sie hingegen zu erfinden und hinauszuschicken, ist eine berauschende Tätigkeit. Radio ist für mich eine Form der Kunst. Poesie und Radio existieren in einem Element - im Äther. Seit dreißig Jahren ist dieses luftige Element der Grund, auf dem ich mich bewege: es ist das Element der Freiheit.

 

Aus dem Russischen von Erich Klein

20.10.2023 Benjamin Stadler las den Beitrag im Rahmen der Veranstaltung  "Die Welt hörbar machen", Sprech(er)stunde 100 Jahre Radio des Bayrischen Rundfunks

Benjamin Stedler liest Igor Pomerantsev | Bild: BR/Andreas Dirscherl

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