Iryna Tsilyk

Tsilyk

Geboren 1982 in Kiew, Regisseurin, Autorin, Lyrikerin. Ich bin Iryna Tsilyk (auch Zilyk) auf der Buch Wien 2017 auf dem Stand von Meridian Czernowitz in Wien begegnet.

Igor Pomerantsev bat mich, die deutsche Übersetzung der Gedichte, von Iryna im Ukrainischen vorgetragen, zu lesen.

Sie haben mich berührt und halfen mir, tiefer in die ukrainischen Dichterfelder einzutauchen. Milena Findeis

 

 

 

 

 


Aus der Gedichtsammlung "Die Tiefe der Heftigkeit"


"Ich habe es satt, mich schuldig zu fühlen", sagst du.
"Bei euch ist Krieg, und ich lebe in der Schweiz.
Wenn du weißt, was ich meine?"

Ein Weihnachtsmarkt in Mitteleuropa.
Wir schälen heiße Maroni, pusten auf die Finger.
Lieblicher Advent.
Jemand singt leise "Halleluja",
jemand schneidet Mistel in handliche Zweige,
andere probieren Würstchen.

"Ist doch wahr!",
du wirst rot bis an die Haarwurzeln,
als schickte die Abendsonne rostige Wärme
in den dämmrigen Wald.

Eine nette Frau in meinem Alter, flüchtig bekannt.
Genau so, ganz anders.
Auf dem Poesiefestival weben wir ein paar Tage lang
gemeinsam komplexe Stoffe, entrollen Wortknäuel,
suchen aus dem Labyrinth unserer Fragen einen Ausweg,
den es nicht gibt.

"Weißt du, wir sind hier an allem und jedem schuld",
setzt du fort,
nun wirklich überanstrengt.
"Wenn du hereinkommst, dann nimm die Mütze ab,
wasch dir die Hände und entschuldige dich für die koloniale Vergangenheit
und den fremden Krieg ... Verzeih."

Du sagst - verzeih, und ich sage - verzeih.

Der Elefant im Porzellanladen.
Ein Streiter im Bruegelschen Karneval,
auch ich habe es satt, mich schuldig zu fühlen.

Doch die Sonne scheint, wir mischen uns unter die Leute,
und der Glühwein schaukelt gefährlich in unseren Bechern,
rot und klebrig schwappt er über.

Wir wissen nicht
dass einige Tage später
neue Bomben in Aleppa, Anschläge in Istanbul
auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin
Dutzende Leben fordern werden.

Du sagst - um Gottes Willen, und ich sage - um Gottes Willen,
als wir die Nachrichten auf dem Display lesen.

Die Frontlinie ist immer näher als gedacht.
Und wir zwei, wir sind natürlich nicht schuld.
Wenn du weißt, was ich meine?

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Claudia Dathe


"Nichts gibt es in diesem Land", sagte Lots Frau
voller Wut und Verachtung. "Was kriegt man hier schon?"
Die Suppe köchelt, ein fremdes Kind schläft
und Lot schafft derweil Autos aus Holland ran.

Alles hatte sie durch - Erdbeeren pflücken, eine Alte pflegen
in einer Stadt, wo die Leute nur in ihren Betten starben,
wo ungeschriebene Regeln seit Jahrhunderten galten,
wo die Wasserspeier an den Kirchen fett wurden.

Die Hauptsache ist - sich nicht umzudrehen, um nichts in der Welt zurückzugehen.
Es sei denn in fremde Zimmer. Um Kleider und Schuhe abzulegen,
Ewigkeiten unter der heißen Dusche zu stehen und immer
schon einzunicken, wenn der Himmel sich beige verfärbt.

Die Hauptsache ist - die Tochter zu drillen. Denn hier ist nichts.
Nur die Morgenende zu Haus, so klingend, und die Stille am Abend ...
Und plötzlich schreit sie fürchterlich, etwas von Gott,
wenn der Zöllner wieder ihr Habe durchsucht.

Lot ist gegangen, Mama ist krank. Harrt aus. Stellt zu Peter und Paul
eine Kerze auf. Das Licht kratzt an ihren kalten, rauen Händen.
Sie weiß genau, irgendwo irgendwsann geht ein Schuss fehl.
Warum sonst wären diese Wangen so salzig?

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Beatrix Kersten


Sie sagt mir also: "Wir entscheiden nur zweimal im Monat, uns zu trennen."
"Aha, und dann?" frage ich. "Wir haben doch Kinder! Wir gut, dass ich nicht schon
wieder schwanger bin."
Ja, ich weiß noch, wie dieses Paar -getrennt - es nicht aushalten konnte.
Wie sie einander endlos berührten, für alle sichtbar.

Und er sagt mir: "Eine gute Ehe wird vom gegenseitigen Hass gesteuert."
Er lacht und zitiert Dovlatov. Ich trinke Tee, sind über meinen Besuch froh.
Magnolie blüht zartrosa, sogar bei uns in der Stadt.
Es ist alles nicht so schlecht. Aber sie hasst sogar den Klang seiner Stimme, echt.

Es ist alles nicht so schlecht. Ihre Kinder sind hell, ähnlich und doch verschieden.
Unter kleinen Lügen wird das Leben fortgesetzt, fort und fort, es ist, wie bei allen.
Sie will Brot holen und steht lange am Fenster, mit gleichgültigem Blick.
"Es ist windig draußen, zieh die Jacke an", sagt er. Der Wind duftet nach Frühling -
sogar durch Fensterscheiben.

Aus dem Ukrainischen übersetzt von Chrystyna Nazarketwytsch


When poet/filmmaker Iryna Tsilyk first visits the Trofymchuk-Gladky family home in the war-zone town of Krasnohorivka, Ukraine, she is surprised by what she finds: while the outside world is made up of bombings and chaos, single mother Anna and her four children are managing to keep their home as a safe haven, full of life and full of light.

Every member of the family has a passion for cinema, so it feels natural to shoot a film inspired by their own life during a time of war. The creative process raises the question of what kind of power the magical world of cinema might have during times of disaster, and how to picture war through the camera’s lens. For Anna and the children, transforming trauma into a work of art is the ultimate way to stay human.

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