ICH LÄCHLE, WENN ICH AUF REISEN BIN

Ligurische Impressionen

Esther Hebein


ligurische-impressionenIch lächle, wenn ich auf Reisen bin. Wie jetzt, im Tunnel des aus dem Felsen gehauenen Bahnhofs von Vernazza, in dem der Zug hält. Es sind nur ein paar Schritte entlang der kühlen dunklen Wand aus Stein, bis mich das Licht aus dem Tunnel hebt und gleich wieder nach unten fallen lässt – mitten hinein in die Farben der Dächer von Vernazza und des Meeres, das um die Füße dieses Dorfes prescht wie ein stürmischer Galan. Von den fünf heute so berühmten, an den Felsen klebenden Dörfern ist Vernazza für mich die Üppige, die Sinnliche, die Frau, die ihre Schönheit offen zur Schau stellt und einen damit in den Bann zieht. Ich gehe nach unten. Man geht in den fünf Dörfern immer nach unten ans Meer oder nach oben in die Weinberge, es gibt keine andere Alternative. Ich gehe also zuerst nach unten, ans Meer, zum kleinen Hafen, wo die Boote aus Platzmangel nicht am Wasser, sondern am Land vertäut sind. Wo die Kirche Santa Maria Antiochia aus dem Wasser ragt wie ein grosses achteckiges Schiff und wo gleich daneben der Capitano seine Taverna überflügelt – ich kann es nicht anders nennen, denn er steht vor dem Eingang in seiner weißen Schürze und achtet wie Zerberus darauf, dass das Essen und das Trinken auf den Tischen vor dem Hafen noch immer so zelebriert wird, wie das in Ligurien Sitte ist. Müßig zu sagen, dass die Küche seiner Frau eine der besten in Vernazza ist. Hier schmeckt man das Meer in den Meeresfrüchten, hier wird mit Hausverstand gekocht und der Sud der Fische und Krustentiere als Basis für köstliche Risotti und Paste verwendet. Erstaunlich, mit welcher Lässigkeit der Capitano trotz seiner akribischen Geschäftsgebarung Unterkunftssuchende behandelt. Als ich das erste Mal in Vernazza nach Ubernachtungsmöglichkeiten fragte, schickten mich Einheimische zu ihm. Ich bekam einen Schlüssel über den Tresen geschoben, vor der Trattoria ließ er sich ein kurzes „da oben, 2. Stock“ mit einer etwas undefinierbaren Handbewegung auf das Haus gegenüber entlocken, und das war’s. Irgendwo passte der Schlüssel und mehr wollte ich nicht. So verhielt es sich bei jedem meiner Cinque Terre-Besuche in den Jahren danach, wenn ich für ein, zwei Abende auch Vernazza in seiner ursprünglichen Ruhe, ohne die tagsüber immer wieder mal einfallenden Reise- und Wandergruppen, genießen wollte. Denn am Abend bleiben nur die übrig, die in den Dörfern wohnen. Ich hätte nie die tiefe Sinnlichkeit dieses schmalen, wild zerklüfteten Küsten-Landstrichs so uneingeschränkt in meinem Herzen verankern können, wenn ich nur durchgezogen wäre, wenn ich nicht für einige Zeit geblieben wäre in den Dörfern – in allen.

In Ligurien ist die Levante die vom Mittelpunkt Genua nach Südosten verlaufende Küste. Die Konzentration von Sinnlichkeit erfuhr ich dort in den Cinque Terre, den fünf an den Felsen klebenden Fischerdörfern zwischen Levanto und La Spezia, mit ihrer im Schweiß erschaffenen Weinbergarchitektur, den Olivenhainen und dem aufbrausend wilden Meer. Wenn ich dort bin, bleibt alle Eitelkeit, alles Verlangen nach Mehr, einfach stehen. Nur ich gehe – täglich viele Stunden lang, durch die Weinberge hinauf in die Wälder, durch die Weinberge zurück in die Dörfer, durch die Dörfer hinunter zum Meer, über die Felsen am Meer entlang. Hafentavernen, schwindelerregend steile Gässchen, bunte Boote auf den Uferplätzen, Treppen, Stufen, Weinterrassen, Höhe, Tiefe, Stein. Basilikum, Olivenöl, Wein, Meer in der Nase und am Gaumen. Olivenbäume, Klatschmohn, Azurwogen, Agaven und Bougainvillea auf den Häusern, unter den Häusern, Dorfkulisse aus Terrakottatönen, Safrangelb, Rahmweiß mit Fensterläden in mattem Grün, wie es nur die Kraft der Sonne hervorbringt. Weinkeller in jedem Eingang, zum Trocknen aufgehängte Trauben, Flaschen, Körbe. Und kein Auto weit und breit. Dafür herrliche kleine Bahnhöfe in Tunnels unter den Felsen. Menschen, die singen bei der Arbeit im Weinberg, in den Gärten auf den Felsterrassen und in den Bars. Es ist einfach, sich diese Dörfer und ihre ursprünglichen Verbindungen, die zwischen den Weinbergen verlaufenden Fußwege hoch über den Meer, zu erlieben. Man muß sich nur die Zeit nehmen zum Schauen, zum Riechen, zum Fühlen. Man muß sich auch die Zeit nehmen zum Gespräch mit den Menschen, zum Einkehren – bei ihnen und bei sich selbst.

Die Faszination der Landschaft eröffnet sich einem nur dann ganz, wenn man sich auf alle ihre geographischen Ebenen einläßt. Tief unten ist es die Ebene des Meeres und der Dörfer, die von den Felsen ins Meer münden. Die Fußwege verlaufen über den Dörfern und erweitern den Blickwinkel um einiges. Darüber breiten sich die den leicht abrutschenden Hängen von Generationen in Schwerstarbeit abgerungenen Weinberge bis in den Himmel aus mit winzigen Ortschaften dazwischen, die im Grunde nur aus einer Anordnung von ein paar Steinhäusern bestehen. Der Ausblick auf das Meer und die am Meer liegenden Dörfer verändert sich nahezu nach jedem Schritt in Form und Farbe, läßt sich nicht festhalten.

Eine holprige, kurvenreiche Landstraße führt von der mittleren Ebene bis hinunter zu den Ortseingängen von Vernazza, Corniglia, Manarola und Riomaggiore. Ab dort heißt es „Stop“ für Automobile, nur die dreirädrigen Lieferantenfahrzeuge der Einheimischen sind erlaubt. Am höchsten Punkt des Bergkammes, zwischen Pinien- und Eichenwäldern, verläuft die Staatsstraße Via Aurelia. Auch wenn man heute die Cinque Terre mit dem Auto erreichen kann, ist das adäquateste Verkehrsmittel für diese Gegend nach wie vor der Zug. Die häufig verkehrenden Lokalzüge halten in allen fünf Ortschaften.

Auf dem Fußweg von Vernazza nach Corniglia kann man zu dem schönsten wilden Sandstrand der Cinque Terre gelangen – Guvano. Allerdings geht es – na was wohl – ziemlich steil nach unten ans Ufer. Sand am Meer gibt es in den Cinque Terre nur hier und im ersten Ort der Fünfergemeinschaft, im etwas mondänen Monterosso, wo sogar große Hotels zu buchen sind. In Monterosso findet man zwar gute Restaurants und Geschäfte, aber durch seine weitläufige, etwas flache Ausdehnung bot es sich für den Bau touristischer Destinationen an und verströmt für mich bei weitem nicht den Zauber der weiteren vier Dörfer, die durch ihre exponierte Lage an den Felsklippen der ligurischen Steilküste nur noch etwas in die Höhe wachsen können – etwa durch die Aufstockung eines Daches, den Ausbau einer Dachterrasse.
Kurz vor dem Ortseingang von Corniglia mache ich Rast bei „Cecio“, einem romantischen kleinen Restaurant mit weinlaubüberdachtem Sitzgarten. Der Sohn Carmelo führt das Lokal seit einigen Jahren, seine Mutter bereitet immer noch ihre köstlichen Risotti zu, mit welchen „Cecio“ zur kleinen Berühmtheit avancierte.

Corniglia, der Platz der Mitte, liegt hoch über dem Meer auf einem langgezogenen Felsenriff. Corniglia ist die spröde Schönheit, das Geheimnisvolle, das erobert werden will. Corniglia ist das einzige der fünf Dörfer, das sich nicht direkt ins Meer erstreckt. Vom Bougainvillea-umrankten Bahnhof führen 365 Stufen, so viele Tage wie das Jahr hat, hinauf zum Ortskern. Will man zur winzigen Bootsanlegestelle, geht es von dort wieder auf vielen Stufen nach unten. Das Meer ist hier besonders aufbrausend und unwägbar, hier können nicht einmal Ausflugsschiffe vor Anker gehen. Nur die Fischer wissen die unter dem Wasser liegenden Felsenriffe und ihr Zusammenspiel mit den Gezeiten richtig einzuschätzen.

Nachdem ich auf meiner ersten Cinque Terre-Exkursion in allen fünf Dörfern zwei-, dreimal genächtigt hatte, wohnte ich bei meinem nächsten Besuch ausschließlich in Corniglia. Dieses Felsennest hoch über dem Meer läßt einen fast andächtig den Atem anhalten. Es hat etwas nahezu Mystisches, die Welt löst sich los. Es schaut wie ein einsamer König auf einem uneinnehmbaren, steinernen Thron in die azurblaue Ewigkeit. Den Eingang in das Dorf bildet eine ansteigende schmale Gasse, der die hohen Steinhäuser zu beiden Seiten ihre Dunkelheit verleihen und jene gewisse Akustik, die jedes laute Wort als Fehltritt bloßlegt. Wo die schmale Gasse in den Dorfplatz mündet, liegt Matteos Bar. Für mich ist es immer noch Matteos Bar, obwohl nun schon Matteos nicht minder symphatischer Sohn Guido sie führt. Hier ist das Zentrum des Dorfes, drinnen am Tresen und draußen am Platz vor der Kirche San Pietro, wo ich mit Vorliebe mein ligurisches Frühstück, bestehend aus Foccaccia und Cafè latte, einnehme. Auf einer langen Holzbank vor einem hohen steingrauen Haus gegenüber der Kirche finden sich des abends die Alten ein. Sie sitzen auf dieser Bank wie die Hühner auf der Stange und beobachten alles und jeden. Wenn sie einen Fremden nach einiger Zeit eines Gespräches würdig befinden, ergeben sich wunderbare kleine Bonmots und wenn man will, erfährt man auch alles über jeden. Allerdings sollte man schon der italienischen Sprache etwas mächtig sein, wie dies überhaupt in Ligurien ratsam ist. Man spricht hier nicht deutsch, man ist in Italien.
Die schmale Gasse schlängelt sich weiter durch den Ort und mündet am Ende des steil abfallenden Felsenriffs, das Corniglia trägt, in ein Aussichtsrondell. Bei Nacht von hier aus den Himmel, das Meer und die Fischerboote zu beobachten, läßt einen vergessen, dass man sich noch ein paar Stunden Schlaf gönnen sollte.
Eines meiner schönsten Erlebnisse in Corniglia war die Fronleichnamsprozession. Schon in der Früh bedeckte ein dicker Teppich aus Blüten in Gelb-, Rot- und Blau-Schattierungen die Gassen und den Platz. Es folgte eine festliche Prozession, die Frauen trugen ihre schwarzen, kunstvoll gehäkelten Tücher um Kopf oder Schultern. Am festlichsten war aber der Ausdruck in den Augen der Menschen und ihr Singen in der Kirche. Das hatte mit wahrer Freude zu tun.
Corniglia ist ein guter Ausgangspunkt für Wanderungen in die Weinberge und ins Hinterland. Ein landschaftlicher Höhepunkt ist der Weg nach Volastra. Wieder zurück, kann der Tag nur mehr in einem Pesche Spada (Schwertfisch) oder in Pansotti, der mit Walnussmasse gefüllten Nudeltaschen-Spezialität der Region, gipfeln.

Die Wanderung zur nächsten Station, dem Dorf Manarola, erfordert den Abstieg über die 365 Stufen. Hier in der Tiefe breitet sich gleich nach dem Bahnhof der sogenannte „Strand“ von Corniglia aus, der eigentlich überhaupt nicht in die Cinque Terre paßt. Man wollte wohl dieses langgezogene, ruhigere Küstenstück ausnutzen, hat große Kieselsteine aufgeschüttet und Strandhütten daraufgesetzt. Am besten, man wandert schnell daran vorbei.

Der kleine Ort Manarola bietet eine dramatische Ansicht mit seinen in die Felsen geschachtelten Häuserreihen, man könnte meinen, es handele sich um ein vertikales Bauexperiment. Der Hafen am Eingang von Manarola ist eine Terrasse, die man über den Felsen des Meeresufers errichtet hat. Hier liegen die bunten Boote vertäut, die mit den Farben der Häuserfluchten wetteifern. Manarola ist ein Amphitheater ohne Zuschauer. Es gib nur Akteure – die Häuser, die Boote, die Menschen, die Manarola betreten. Ich empfinde Manarola als Übergang, als Zwischenstation für ein paar schöne Stunden. Um in diesem Ort länger bleiben zu wollen, läßt er mir zu wenig Weite zu, ist er zu sehr Bühne. Die Weite fängt erst wieder über Manarola an, wo der Berg in sanften Hügeln sich verbreitert und die Weinterrassen sich ausladender formieren können. Von oben sieht Manarola aus, als wäre es kurz vor einem Sturzflug ins Meer. Egal, aus welcher Position - der Anblick von Manarola ist immer wieder erregend in seinem Anschein von Irrealität. Großes Theater und man braucht nur einzutreten, um mittendrin zu sein.

Im letzten Abschnitt der die fünf Dörfer verbindenden, ehemaligen Trampelpfade findet sich kurz vor Riomaggiore ein gut ausgebautes, mit einem Geländer gesichertes Wegstück über dem Meer, das spektakulär „Via dell’amore“ benannt wurde und wohl aus diesem Grund einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte. Für mich ist dieses Wegstück nicht sonderlich romantisch und ich könnte mindestens zehn Abschnitte nennen, denen diese Bezeichnung eher gebühren würde. Doch die Vorfreude auf Riomaggiore läßt mich über die eigentümliche „Via dell’amore“ nicht weiter sinnieren. Denn schon bin ich am Ortseingang, gehe unten vorbei an den riesigen im Meer liegenden Felsblöcken, schnurstracks zu „La Lanterna“, der Trattoria am Hafen. Zu Alici, pikant eingelegten Sardellen mit Kräutern und Zitrone, trinke ich den herrlichen trockenen Weißwein aus dem Cinque Terre-Boden.

Der graugelockte Ober freut sich, er kennt mich vom letzten Jahr. Ich kam hier in Kontakt mit Urlaubern aus Turin. Die herrliche bodenständige Küche von „La Lanterna“ wissen auch die Italiener zu schätzen. Nach dem Mahl nahm uns der Ober mit in den privaten Weinkeller seines Freundes und hier wurde uns der ultimative Gaumenkitzel der Cinque Terre direkt aus dem Fass kredenzt: Sciacchettrà, der ambrafarbene Wein aus getrockneten Trauben. Er beinhaltet die gewisse Süße einer Trockenbeerenauslese, ist aber vom Charakter her ein trockener Wein. Einzigartig wirkt sich wohl das Salz des Meerwinds, das die Weinbeeren speichern, auf sein Aroma aus. Der traditionelle Sciacchetrà ist teuer und rar und man kann sich glücklich schätzen, ihn von einem Einheimischen angeboten zu kommen.

Riomaggiore ist der größte Ort der Cinque Terre und trägt seinen Namen nach dem Fluß Rio Majo, der unter dem Dorf fließt. Ansteigend geht es vom Meer nach oben, links und rechts der Häuserreihen öffnen sich die „caruggi“, die Gäßchen mit ihren vielen steilen Steinstufen, Geländern und Seilen zum Festhalten. Aus den Türritzen strömt der intensive Geruch von Basilikum, Wein, Olivenöl. Riomaggiore ist ein Marktplatz, vom Meer bis hinauf zur Pfarrkirche San Giovanni Battista, die das Dorf bewacht. Auf den schmalen Plätzen am Ufer liegen die Boote, aufgestapelt am Boden, auf kleinen Terrassen, auf Steinstufen. Weiter oben werden die bunten Boote abgelöst von bunten Schirmen, die die Obst- und Gemüsestände und die Sitzplätze der Lokale überdachen. Das Dorf breitet sich weit nach oben aus und mündet direkt in die Weinterrassen des Berges Montenero. Dort oben, im Kloster Montenero, fühlt man sich dem Himmel sehr nahe.

Der Tag der Rückreise ist gekommen mit warmem Regen und immer stärker aufkommendem Sturm. Bevor ich am Nachmittag in den Zug nach Genua steige, nehme ich Abschied – bei einem Essen im Ristorante „Gambero Rosso“ an der Mole im Hafen von Vernazza. Hier gibt es den traumhaftesten Pesto alla Genovese von ganz Ligurien und das Sardellengericht auf Kartoffelscheiben und grünen Bohnen läßt nichts zu wünschen übrig. Auf der Mole schaue ich dann in die ankommenden Brecher, die ihre Gewalt am Felsen austoben, der die Burg von Vernazza trägt. Wie jedesmal frage ich mich, warum ich nicht einfach hierbleiben kann in einem dieser Dörfer aus Stein und Seele.

Vielleicht ist das Erstrebenswerte einer Reise das Bewusstsein, auf der Reise zu sein. Manches, was ich beschreibe, findet man beim Reisen immer wieder. Wenn man offen genug ist, es in sich dringen zu lassen.

In Genua nutze ich die Zeit bis zum Abend für einen Altstadtbummel. Heute will ich noch einmal mit allen Sinnen aufnehmen – mich durch das Dunkel der gewundenen Gassen von Lampe zu Lampe vor den umwerfend duftenden Alimentari tasten, mir die Nase an deren Schaufenstern mit Kaskaden von der Decke hängender Schinkenkeulen plattdrücken und durch die geöffneten Türen die Düfte von Käse, Würsten, Brot, den unwahrscheinlichsten Pesti und ins Olivengold eingelegten Gemüsen und Fischen mit allen Poren aufsaugen. Da ich keinen Packesel bei mir habe und nicht einmal wüßte, wie ich all’ die Köstlichkeiten nach Hause transportieren sollte, bescheide ich mich mit etwas Coppa, einem Stück Pecorino und einer Flasche grüngoldenen, dickflüssigen Oliven-traums aus einer der erstklassigen Ölmühlen im Hinterland Liguriens. In der Gasse mit den Goldschmieden erstehe ich ein Paar wunderbar geformter Kreolen aus Rotgold.

Direkt von einer der geschäftigen Gassen kommt man in eine unbelebtere Gasse, die zum Hafen führt. Nach einigen weiteren Metern öffnet sich eine andere Welt, die Welt der vom Schicksal nicht Begünstigten. Sie leben in diesen hohen schmutzigen Häusern, in den Gassen, die hier wie Katakomben anmuten. Es sind viele Schwarze, die hier zuhause sind und Genueser, die sich nichts besseres leisten können. Es ist die Kehrseite der Superba und sie hat nichts Geheimnisvolles, sie gehört zur Realität Genuas wie anderer Städte auch. Wenn der Abend naht, beginnt das Leben. Vor den Häusern wird feilgeboten, was zu bekommen war aus Schmuggel, Diebstahl, vielleicht sogar aus legalen Schiffsladungen. Ich will nur ein paar CD’s kaufen, sie haben oft Aufnahmen von Interpreten, die ich im Musikgeschäft nicht finde. Die Menschen vor den Häusern wissen, dass ich nicht komme, um sie anzustarren oder ihr Gefüge infrage zu stellen. Meine Augen lächeln, wenn ich auf Reisen bin. Es ist dasselbe – ob es die düsteren Hafengassen Genuas sind, ob ich die Schönheit der Cinque Terre empfange, ob ich einen Menschen zu lieben beginne – ich reise zugleich im Unbekannten und in mir. Denn in mich fließt das Unbekannte und strömt im Reisen aus mir als Erkenntnis. Ich denke plötzlich an Christoforo Colombo.
Ich habe fünf wunderbare CD’s gefunden. Der Mann hinter dem Stand sieht mich an, überlegt kurz und sagt: „Signora, gehen Sie hier nicht mehr weiter.“ Ich sehe in seine Augen und nehme seinen Rat an.

Der Nachtzug aus Ventimiglia fährt ein. Es kommt vor, dass mein Lächeln sich mit meinem Weinen vermischt.

 

Oktober 2005, ©Esther Hebein: Ligurische Impressionen Ende der Achtziger Jahre,
Cinque Terre und die Altstadt von Genua

 

mein herz sprüht mohnrote trauer
- cinque terre november 2011 -

 

keine worte
keine tränen
mein herz
schreit sich dem weinen entgegen
mein herz
stöhnt vor schmerz
mein herz
taumelt unter der wucht dieses schlags

ich habe mein herz in all diesen jahren
nie so sehr an einen menschen gelehnt
nie an ein wesen
das gebaut ist wie ich

ich habe es gebettet
mitten in den roten mohn
unter den silbrigen schimmer des olivengezweigs
in das weinlaub über den steinen
und immer wieder
hinein in die sanften mulden der steine

in die steine
über dem dorf in die steine
unter dem dorf
in die steine am weg zum meer
ich habe jeden einzelnen stein
geborgen
getragen zu seinem platz in meinem herzen>

mein herz hat gesagt
irgendwann
komme ich zurück nach hause
dann lasse ich die steine wieder los
und lege sie an den platz ihrer geburt
leicht geworden
bleibe ich noch lange
im mohnhain im olivengezweig
das auge am weinlaub
das ohr an meinen steinen

der himmel hat gesagt
ein herz ist nichts wert
nicht eines und auch nicht viele
die macht hat das wasser
es reisst dein bett und deine träume von steinen
nach unten
als tosende schlammflut
als unwägbare gewalt
rollender fliessender steine

deine steine
lasse sie schlafen in deinem herzen
sie wollen kein teil sein dieser gewalt

ich schaue auf das wasser
den schlamm die verwüstung
das leid
zerstörung des paradieses
tod meiner sehnsucht
mein herz
ist gezeichnet vom schnitt eines kreuzes
mein herz sprüht mohnrote trauer
über die steine auf seinem grund

© Esther Hebein

 

Esther Hebein, Dichterin und Malerin in Klagenfurt, hat mit "es ist das meer" den dritten Preis im Jubiläums-Gedichtwettbewerb2007 der "Bibliothek deutschsprachiger Gedichte" gewonnen.
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