Michael D. Wolf

Ganzheitliches Denken ...


Michael D. Wolf... ist der Versuch, die uns gegebenen Möglichkeiten der Erkenntnis besser als bisher zu nützen, um uns in einer komplexen, vernetzten Welt voller Ungewissheit zurechtzufinden.

Es beruht auf der Einsicht, dass wir nie alles wissen können, dass wir selbst ein unlösbarer Teil der Welt sind, die wir erkunden, und dass wir deshalb nie objektiv Wahrheiten besitzen können.
Aber vielleicht gibt es eine innere Wahrheit, und vielleicht sind jene flüchtigen Augenblicke des Glücks, in denen auch die Zeit stillzustehen scheint, solche Momente, in denen wir dieser inneren Wahrheit gewiss sind in denen wir wissen, dass das, was wir denken und fühlen, hineinpasst in jene Welt außerhalb von uns selbst, von der wir nur wissen, dass es sie gibt.

Und vielleicht wäre es diese innere Gewissheit, die Augustinus meinte, als er sagte: „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; wenn ich danach gefragt werde und es erklären will, weiß ich es nicht“.

Ganzheitliches Denken ist kreativ, weil es bisher unverbunden Gedachtes verbindet und so erst Muster schafft, in die wir das Einzelne einordnen und damit verstehen können. Es zeigt Zusammenhänge auf, die wir bisher nicht gesehen haben, weil wir nicht nach ihnen suchten. Zusammenhänge zwischen Dingen, die sich so zu einem Ganzen fügen und dadurch eine andere Bedeutung, eine andere Qualität bekommen, Zusammenhänge auch zwischen Dimensionen des Wahrnehmens und Denkens, die durch die Spezialisierung der Wissenschaften voneinander getrennt worden sind.

Es schafft damit neue Bilder, die neuen Sinn ergeben, ohne den Anspruch zu erheben, einen endgültigen Sinn zu finden. Dies steckt, so glaube ich, hinter der Erfahrung, die jeder macht, der ernsthaft versucht, ganzheitlich zu denken: das plötzliche Sichtbarwerden von etwas, was man eigentlich schon immer gewusst hat.

Ganzheitliches Denken ist Vorstufe und Begleitung ganzheitlichen Handelns. Darauf, auf sinnvolles, vernünftiges, praktisches Handeln ist es gerichtet, dort muss es sich bewähren. Es zielt auf sinnvolle Entwürfe für Machbares, aber es ist gegenüber dem Gemachten notwendigerweise kritisch, weil es nicht mehr alles Machbare als eine unvermeidliche Folge wahrer wissenschaftlicher Erkenntnis akzeptiert.

Ganzheitliches Denken ist daher wesentlich mehr als eine bloße Technik des Systems Engineering. Es wirft unerbittlich die Frage nach sinnvollen Zwecken menschlichen Handelns auf und verbietet es uns, nur nach Mitteln für beliebige Zwecke zu suchen. Es macht den Denkenden wie den Handelnden verantwortlich für Entscheide, die andere betreffen.

Was den Wissenschaftler betrifft, so wird er durch das ganzheitliche Denken plötzlich aus der Position der außen stehenden, neutralen Beobachters einer unabhängig von ihm bestehenden Wirklichkeit herausgeworfen. Er fängt an, sich selbst als Teil der Welt zu verstehen, als einer, der das erst schafft, was er beobachtet. Der Schock geht tief und quer durch alle Wissenschaften. Er erschüttert das Selbstverständnis der Wissenschaft und führt gleichzeitig zur Bescheidung auf menschliches Maß der Erkenntnis wie auch zur Anerkennung der eigenen Verantwortung für die unvollkommenen Ergebnisse wissenschaftlichen Denkens.

Ganzheitliches Denken ist radikal, weil es so vieles, das wir für selbstverständliche Wahrheit hielten, als bloßes Produkt unserer beschränkten Erkenntnis entlarvt. Es macht uns unsicher, aber auch frei für schöpferisches Denken, indem es die engen Grenzen, die sich die Wissenschaften durch das Primat des linearen Kausaldenkens selbst setzten, als unnötig und als bloßes Produkt eines zeitbedingten Paradigmas erkennt.

Ganzheitliches Denken überschreitet notwendigerweise bisher gesetzte Grenzen, um sie weiter zu stecken. Es entsteht ein neues wissenschaftliches Weltbild, das Bruchstücke zu einem überraschenden, sinnmachenden Ganzen zusammenfügt. In meiner Sicht ist das der Kern des Paradigmawechsels, der heute in der Welt der Wissenschaft vor sich geht, aber vielleicht nur das widerspiegelt und bewusst macht, was in der Gesellschaft geschieht und was wir etwa als Wertewandel bezeichnen.
Von diesem Paradigmawechsel, diesem sich gegenseitig bedingenden Wechselspiel zwischen gesellschaftlichem Wandel und Wandlung im wissenschaftlichen Weltbild, sagt J. Rifkin: „Wir werden in das neue Paradigma stolpern wie Touristen in ein fremdes Land, voll Unbehagen und uns vorwärts tastend. Ganzheitliches Denken ist, so scheint mir, der Versuch, diesen notwendigen Weg gehen zu lernen.

Berlin, September 2008


Michael D. Wolf, Der Heckenphilosoph

 
 
 
 

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