Sechszig
Plastik eignet sich nicht zum Kompostieren. Hans F. Krebs

2017: Im sechzigsten Jahr

©Milena Findeis

Vernetzen von wahrnehmen,
erkennen, begreifen und verstehen.

Die Zeit als Eizelle im Bauch der Mutter -  eine aus dem Denken gereifte Nachstellung. Kein vom Wunsch nach Perfektion designtes Kind. Ein Un-Fall, wahrscheinlich. Der Heiratsgrund. Annahmen, halt.

Die Wahrnehmung der Eltern hat sich im Laufe der Zeit verändert. Die Spiegelungen vor und nach der Abnabelung reflektieren einen Moment, aneinandergereihte Momente lassen sich nicht automatisieren zu einem ganzen Selbst. Das Ego vulgo Ich ist und bleibt eine Baustelle. In Erzählungen gibt es das Ende, im Leben den Tod; ihn auszuklammern eine Fiktion, die mit der Wirklichkeit nichts gemein hat.

Im sechzigsten JahrDas Kind nach Rosinen in einem Reindl suchend,  dokumentiert auf einem Schwarz-Weiß-Foto. Hochformat, sechs mal neun Zentimeter mit gezacktem Rand. Es gibt wenige Fotos aus der Kinderzeit. Die Erinnerungen hängen an den Fäden einiger Erzählungen, gesponnen von Großeltern, Eltern und Bekannten.

Die erste bewußte,  selbst getroffene Entscheidung - ist jene, aus der elterlichen Wohnung auszuziehen, im achtzehnten Lebensjahr.

Den Erinnerungen unterlegt ist eine Kulisse aus Gerüchen und Geräuschen. Verbrannte Milch, der Rauch von feucht verheiztem Holz, das Knarren der Holztür, das Krähen des Hahnes, das Gequietsche und Gebrüll aus dem Nachbarhof wenn der Schlächter kam, um seine Arbeit  - das Töten - zu verrichten. Blutrinnsale die vom höher gelegenen Stall Richtung nachbarlichem Bauernhof rannten, beim abendlichen Milchholen waren sie vetrocknet.

Das Scheppern der Blechkannen. Tuckernde Traktoren- und  aufjaulende Mopedmotoren. Das Glockengeläut der Kapelle rief zum Lesen der Nachricht - angeschlagen ans Kapellentor. Meist war es eine Verlautbarung über das Absterben eines Dorfbewohners, der Ort der Aufbahrung, die Aufforderung zum gemeinsamen Gebet am Totenbett.

In einer Küche und in einem Zimmer lebten ohne fließendes Wasser fünf Erwachsene, zwei Kleinkinder. Es war kein Haus, es war ein provisorischer Anbau, die Verlängerung eines bestehenden Lagerraumes. Das Plumpsklo stand im Hof, zwei Mal im Jahr wurde es entsorgt. Armut war im Wortschatz der Kindheit nicht vorhanden. Das Leben in sich war reich an Eindrücken und Werten.

Keine Müllabfuhr ist aus den ersten Kindheitsjahren in Erinnerung. Blieb vom Essen etwas übrig, wanderte es zum Nachbarn, dem Großbauern, der damit die Schweine und die Hühner fütterte. Die ausgelesene Zeitung diente als Klopapier. Mit dem verbliebenen Rest an Abfällen wurde der Ofen beheizt, an dem jeden Tag gekocht worden ist; ihm einverleibt ein Wasserschiff. Die Milch wurde in einer Kanne täglich beim Nachbarn geholt. Die Gemischtwarenhandlung wurde mit einem Einkaufsnetz aufgesucht.

Der Verwertungsgesellschaft der Kindheit steht die Konsumgesellschaft der Jetztzeit gegenüber. Soll jeglicher Wandel hin zur Vermehrung mit Fortschritt betitelt werden?

Schwalbennester an den Stallwänden nah unter dem Dach gebaut: waren zuviele Schwalben geschlüpft, flogen die schwächsten aus dem Nest. Katzen, die auf diesen Abfall warteten und dem Abtropf, der von der Bäuerin handgemelkten Kuhmilch. Katzenwürfe wurden ersäuft. Mit diesem Wissen erscheint der Reklamefilm mit Katzenmenüs auf einem Silvertablett serviert als Groteske, zumal die Nachrichten mittelbar danach Bilder einer drohenden Hungerkatastrophe senden.

Dem Huhn wurde zuerst der Kragen mit einem scharfen Messer durchgeschnitten, danach wurde es aufgehängt, im heißen Wasser gekocht, die Federn gezupft, zerteilt, die Innereien verarbeitet, das Fleisch in Schweineschmalz herausgebacken. Einmal im Monat. Die Vorbereitungen für das Sonntagsmahl nahmen den ganzen Samstag Nachmittag in Anspruch. Fünf Jahrzehnte später sind der Stall, der Bauernhof, die Unterkunft eingeebnet. Der Beton eines Einkaufszentrum bedeckt alles, abgeschlossen. So vergeht Zeit, das Leben wandelt sich, von einer Generation in die kommende.

Wie oft haben sich die Zellen im Körper erneuert? Die Haarfarbe hat ohne äußeres, chemisches Zutun die Farben gewechselt aus dem Kinderblond, wurde im vierzehnten Sommer ein Brünett mit roten Streifen, nach dem fünfzigsten Jahr eine Melier aus Grau mit weißen Strähnen. Von langem Haar bis streichholzkurz wurde alles getragen. Die kurz geratenen Beine von Hosen verdeckt. Bis heute werden die langen Beine des Bruders, des Sohnes bewundert.

Es gibt aus dieser Zeit keine in Erinnerung verbliebene Freundin. Zum Herumhängen war in Kindertagen keine Zeit gewesen. Mithilfe im Haushalt war zu leisten, ohne wenn und aber, fürbittende Rosenkränze waren zu beten.

Während der zwölfjährigen Schulzeit war das Denken anderwärts unterwegs. Der zu lernende Stoff ähnelte den Jahreszeiten: Aussaat, Reife, Ernte und mit jedem Frühjahr begann es wieder von vorne. Wechselnder Stoff, das Zeugniswissen wurde nach Notenerhalt abgelegt, so gut wie nicht angewendet.

Was blieb - der Impuls, nachzufragen, Dingen auf den Grund zu gehen.

Umgeben von Geschwistern, den Beurteilungen der Nachbarn,  Verwandten und Bekannten zum Teil einer Reihenfolge geformt worden, frei von jeglicher Selbstbewusstheit - ausgenommen jener des angewandten Brav- und Ordentlich-Seins. Die gefühlte Zeit der Ferien mit den Großeltern waren Oasen im Alltagsbetrieb.

Im Sommer 2017, wieder einmal vor einem Umzug stehend, dieses Mal vom Erd- ins Dachgeschoss, rückt die Fokussierung  in den Erinnerungsmodus. Von Pirka nach Windorf, von dort nach Zeltweg, von da aus die elterliche Wohnung gegen die erste Mietwohnung getauscht. Weiter ging es von Zell am See nach Frankfurt, es folgte Prag. Innerhalb von Prag der fünfte Umzug. Ob es der letzte sein wird, diese Frage bleibt offen, wie viele andere auch.

Das Statische auf vorbestimmte Dauer liegt abseits der Wahrnehmung. Diese Blockade, Ursache einer frühen Entscheidung gegen das Heiraten. “Der Aufstand gegen die Ehe” oder so ähnlich - ein Text von George Bernard Shaw - elfjährig gelesen, prägte. Gedanken, Gefühle in Freilandhaltung kultiviert.

Fünfzehnjährig stand der Wunsch nach einem eigenen Zimmer im Vordergrund. Dieses wurde bis hinein ins achtzehnte Lebensjahr mit Geschwistern geteilt. Die älteste war verpflichtet auf die jüngeren Rücksicht zu nehmen. Eine Selbstverständlichkeit. Das Ziel der frühen Jahre: die zu erarbeitende Eigenständigkeit - mittels eigenem Verdienst in einen anderen Raum gelangen.

Mitte der siebziger Jahre war Zeltweg eine Arbeiterstadt, eine der größten Arbeitgeber die Kaserne. Dieser diente der Vater als Unteroffizier ein Leben lang. Der Fixpunkt neben der Schule die Kirche. Hilfsarbeiten im Haushalt. Kirchenchor. Volksgunstgilde. Reitversuche.

Die Ablehnung von Kochen und der Führung eines Haushalts bildete sich in der eigenen Wohnung heraus. Dort entfaltete sich das Leben durch das Lesen, der Denkstille zwischen den Büchern. Das Kochen, der Haushalt an sich und die Gefühle blieben bei den Eltern, den Großeltern. Der Verstand zog mit in künftige Lebensorte. Stundenlang am Herd zu stehen für ein Essen - eine zu würdigende Leistung, wie jede Art von haushalten, unpassend für das eigene Lebenskonzept.

Die Ereignisse dicht aneindergedrängt, durchkauten der Gedanken Entscheidungsmöglichkeit. Sprach alles dagegen wurde der Umkehrschwung eingelegt,  zum Sprung in die Gegen-Richtung des Gedanken-Karussells angesetzt. 

Halt vermittelt der Gegensatz während des Sprungs von einem zum anderen Ufer. Um die der Gewohnheit naheliegenden Gleichgültigkeit zu entgehen, waren immer wieder Sprünge vonnöten. Schwimmen im kalten Gewässern.

Vom fünfzehnten bis ins fünfundfünzigsten Lebensjahr berufstätig, ohne Unterlass, in verschiedenen Sparten: Motorsport, Seilbahnen, Tourismus und Hotellerie. Im Mittelpunkt waren Kommunikation, Produktentwicklung, Marketing. So spannend, dass es nie eine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit gegeben hat.

Mit fünfundfünzig das Aus: Frau trat den Beweis an, es ist möglich - sich durch Erreichen eines Vertragszieles selbst wegzurationalisieren. Einige lachten sich ins Fäustchen, gratuliert hat niemand. Für andere arbeiten, die erworbenen Fähigkeiten vermarkten für einen noch nicht abgewirtschaftes Segment eines Nischenmarktes? All DAS schmeckte lau, die Wissbegierde legte sich schlafen mit den Toten.

Neun Monate eine einundneunzigjährige Dame wochentags acht Stunden betreut. Der Gegensatz zur Zeit der Schwangerschaft - die so andere Wahrnehmung –von Zeit. Am Krankenlager der langsam Sterbenden dehnten sich Stunden ins Unermessliche. Wärend der schwangeren Zeit fanden ungezählte Ereignisse Platz in einem Tag, wozu gab es die Nacht? Länger als vier Stunden zu schlafen – das war Vergeudung an Zeit und Energie. Damals.

Im namenlosen ErinnerungskreislaufDer Kreislauf, der geschlossene von der Geburt hinein ins Grab, er war so fühlbar ins Herz gerückt. Mit dem Kleinkind waren Hindernisse ein Ansporn, in des Alters Todesnähe entfachten sie eine tief schlummernde Wut, die das Empfinden gegen die Freude immunisierten.

Das fehlende Lachen verwittert die Gesichtzüge, läßt Augen erkalten. Die Eiszeit als Schlusspunkt vor dem Ausatmen. Soll es das gewesen sein?

Das Erinnern an zurückliegende Begegnungen dockt nicht mehr an den befreienden Ruck einer geglückten Begegnung an, wo Gefühle ohne Vorbehalte flossen. Ist das dem Alter zuzuschreiben oder dem Schutzschild Abstumpfung?

Wenn die Großeltern vom Krieg erzählten, vom ersten und dem zweiten Weltkrieg, waren damit ihre Stimmen, ihre Gesichter verknüpft. Sie waren anwesend als Überlebende, ihr Lachen, ihre Tränen zum Anfassen vor- und nachher, während des Erzählens. Nach einem haltenden Arm greifen, gehalten zu werden -  das ist eine andere Form der Erfahrung als einer Bilderflut und einem Informationsfluss ungehalten ausgesetzt zu sein.

Den Tod annehmen, als Übergangspunkt in jedem Leben. Gewürdigt, nicht ausgeklammert. Den Wert des Lebens feiern, ohne in die vergleichende Falle zu geraten. Sich über den Begriffsrand des Alters hinaus entwickeln.

Die Langsamkeit als Verbündeten ansehen, die Falten gehören dazu  — nicht zu vergessen, der Humor, das Lachen, die Liebe angesichts der näher heranrückenden Asche. 

 

Prag, Sommer 2017

 Freilandherz, Wortfront 

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