Notiert
Die Lust auf Zeit
Yevgeniy Breyer
Gelesen vom Autor, Tage der deutschsprachigen Literatur, 1. Juli 2023, Klagenfurt
Apropos Gesicht. Seltsam, wie die Merkmale, Züge, an Bedeutung verlieren, obwohl sich erlebte Zeit in sie eingeschrieben hat. Erlebt, im Sinne einer aktiven Handlung wie „Ich habe es mir hart erlebt“, nicht im Sinne von „angeeignet“. Die Falte zwischen der linken und der rechten Stirnpartie als Symbol des Nachdenkens, abwechselnd Quäntchen Qual oder mein kleines Glück. Sie sieht blass aus, beinahe flach, ausradiert vom weißen Licht, das der Spiegel zurückwirft, förmlich in die Augen schießt. Auch diese Falte habe ich mir erlebt und ich weiß noch, wie ich sie zum ersten Mal bemerkt habe, zuerst mit den Fingern tastend, beim Verwischen von Nachtschweiß, Panikschweiß nach dem morgendlichen Anruf meiner Mutter. Was sie tun solle, mein Vater sei gefallen, liege auf dem Boden und könne sich nicht rühren, hätte sie mir sagen wollen, hätte ich den Anruf nicht verpasst. Und dann der eigentliche Anruf, einige Stunden später, er habe einen Schlaganfall erlitten – erlitten! –, liege auf der Intensivstation, sie habe nicht gewusst, was tun und er habe ihr stundenlang verboten, den Krankenwagen zu rufen und so weiter. Aber was tun? Da. Hier also zum ersten Mal die Falte ertasten. Was für ein dunkler Moment, denke ich später im Zug auf dem Weg ins Krankenhaus, was für eine Dunkelheit, die aufzieht. Und mir fällt ein, dass ich doch eigentlich einer dieser Menschen bin, der Glück hat. Pure Reinheit, pures Glück, das sich auf meine Umwelt auszustrecken vermag. Mir fällt mein Großvater ein, wie ich nach einer OP an seinem Krankenbett sitze als Dreizehnjähriger und mir sicher bin, dass ein finsteres Loch, eine Aura von Grauen um ihn kreist. Eine Niere in der Klinik zu verlieren ist schlimmer als ein Bein im Krieg, sagt er. Ja, Opa, stimmt, sage ich. Stimmt auffallend! Aber ich sag‘s Jahre später vor mich hin als ich allein bin und er längst tot ist. Die Stirnfalte also, aber was noch? Das Kinn, das gespaltne. Sage ich ins Wartezimmer, Kinnlein, Kinnchen, Kinn, das spricht! Mein Gegenüber im Spiegel lächelt mich an. Auch er wartet, denke ich, auf nichts Neues. An der Rezeption räuspert sich ein Empfangsjunge, sein Krächzen wird zum Rauschen und legt sich als Schutzfilm auf meine Ohrmuscheln. Die vierte Notaufnahme dieses Jahr, sage ich dem Gegenüber, wie viele werden es? Bei der ersten schneite es und die Schuhe der Angehörigen hinterließen matschige Spuren auf dem Linoleum, bei der zweiten regnete es und die Jacken und Anoraks hinterließen kleine Pfützen. Beim dritten Besuch wehte ein enormer Wind, ein exzessiver Sturmwind, der die Äste der Bäume zu Splittern zerriss, die Menschen davontrug ins Unbekannte und bloß ihre Schirme verschonte, die herrenlos über die Straßen kreiselten, dann verharrten wie angeklebt an Asphalt, Erde, Kies. Jetzt Sonne. Sonne, die die Gedanken gleich aufhellt, wärmt, umsorgt mit Vergessen oder Erinnerung, je nach Bedarf. Das Gegenüber sieht auf die Uhr. Wie lang warte ich, denkt es, es sind doch drei Stunden. Oder vier? Oder sind es Minuten? Nein, es müssen Stunden sein, die Ärztin geht achtundvierzig Schritte den Gang entlang, bis sie in das Zimmer eintritt, in dem mein Vater liegt. Weil sie langsam geht, dauert es länger als eine Minute. Sie verbringt vierundsechzig Atemzüge im Zimmer. Weil ich langsam atme, dauert das etwa fünf Minuten. Dann geht sie den gleichen Weg zurück, wechselt zwei Worte mit dem Empfangsjungen, der zwei oder drei Atemzüge lang überlegt, etwas in einem Kalender notiert, ein Kreuz macht und ihr zunickt. Ab da sind es sechzehn Schritte in ihr Büro. Wie oft hat sich das zugetragen? Siebzehn Mal, antworte ich ihm. Siebzehn Mal? Siebzehn Mal. Aber die Wartezeit dazwischen! Die Stirnfalte, das Kinn, das doppelte, was noch?, denke ich, was noch? Die Augen waren immer schon unauffällig, dazu gibt es nichts zu sagen. Höchstens die Augenbrauen, die seit Kurzem längere weiße Härchen tragen zwischen den braunen. Ich mag sie sehr und reiße sie dennoch raus, aus Zwang oder Neurose. Grübchen, Wangenknochen, die ganzen Dinge, die man kennt, völlig unbedeutend, belanglos geworden. Das persönliche Leid und das universelle, sage ich meinem Gegenüber. Das Universelle, hallt es zurück, ist wichtiger, Menschen sind zum Leiden gemacht, aber nicht die Gesellschaft. Nicht die Gesellschaft? Aber besteht sie nicht aus Menschlein?, frage ich zurück. Die grundsätzliche Gesellschaft besteht aus allem, Stein, Holz, Saft, Fleisch, Fernlenkung und Vögeln. Aber die akute Gesellschaft ist bloß das, was in diesem Zimmer Platz hat, sechs rote Polsterstühle, eine gelbe PVCKommode, eine Topfpflanze, deren Bezeichnung du nicht kennst, ein Spiegel, eine Deckenlampe, das Licht, das sie wirft und die Kälte, in der du in deiner Kleidung sitzt, deiner hellgewaschenen, früher dunkelgrauen Stoffhose, dem Hemd mit zu engem Kragen, das du seit vier Tagen trägst, die weißen Sandalen. Weiße Sandalen. Und meine Gedanken, werfe ich ein. Und meine Gefühle, Wünsche und so weiter. Und so weiter und so fort, spricht der Spiegel. Die Ärztin verlässt ihr Büro und spaziert vorbei an der Rezeption, spaziert zum Zimmer, in dem mein Vater wartet. Sie öffnet die Tür, sieht hinein, dreht sich zu mir um, nickt mir zu und wartet einige Atemzüge, bis sie im Zimmer verschwindet, sich schlucken lässt und die Tür hinter ihr zufällt. Reines pures Glück.
Es ist warm, aber nicht zu warm. Ich schwitze dennoch, wie immer. Ich habe gelesen, dass den Menschen, die besonders viel schwitzen nachgesagt wird, sie lebten länger und empfänden Lust stärker. Sie seien angesichts von Katastrophen resilienter als andere, deren Körper ans Schwitzen weniger gewöhnt seien und deren Schweiß deshalb untrennbar mit Panik verbunden sei. Mein Körper kennt das, er lässt sich nicht von Angst oder von Trauer überwältigen. Für ihn ist die tägliche Katastrophe kaum anders als die großen Bewegungen, die um ein Menschenleben kreisen und es in einem Moment von Unachtsamkeit umwerfen. Der Großvater ohne Bein, der schwitzte von klein an, kommt mir in den Sinn. Völlig durchnässt trat er vor die Tür, als sein Vater, mein Urgroßvater, als Staatsfeind nach Sibirien verschleppt wurde. Bis auf die letzte Naht durchgeschwitzt trat er in den Garten, als man seinen Vater zurückkarrte, um ihn vor seinen Augen lebendig zu vergraben, während die Flüssigkeiten aus den Körpern der Mutter und des Bruders nur so strömten, Rinnsale bildeten, Sturzbäche. Aber er stand, erstarrt, denn er wusste, was auf ihn zukam. Mein Gegenüber sieht mich an und ich beobachte, wie seine Hände umherschweifen, einen Ort suchen und sich auf dem linken Oberschenkel beruhigen. Mir fallen Sätze ein, von denen ich nicht sicher bin, wer sie mir zugeworfen hat und wann. „Sag es nicht deiner Mutter“, „Partisanen atmen leise“, „Als kleines Mädchen habe ich am Fließband gestanden und Patronen gegen die Deutschen zusammengebaut“. Das Telefon an der Rezeption klingelt und der Empfangsjunge grüßt mit dem Stationsnamen. Nein, sie sei augenblicklich nicht zu sprechen, nein, er wisse nicht, wann sie wieder erreichbar sei. Dann notiert er eine Nummer für einen möglichen Rückruf. Lieb, denke ich. Was für eine Freude, Gefälligkeiten in Aussicht stellen zu dürfen, von denen man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weiß, sie einhalten zu können, Versprechen einhalten. Ich sage das ganz ohne Häme. Ich sage es dem Spiegel-Ich, dem Du, das mich denken hört und mich liest. Wir werden noch ein Weilchen hier sitzen, es miteinander in dieser Lage aushalten und plaudern. Es bleibt uns schlicht nichts übrig, als die Gefangenschaft als Chance zu begreifen. Dass aus manch misslicher Lage ein schönes Pflänzchen erwuchs, ist kein Geheimnis. Ich strecke dir meine Hand entgegen und du mir deine. Wir waren zwei – wir sind eins. Wieder klingelt das Telefon, der Junge sieht mit müden Augen auf das Display und überlässt das Gespräch dem Anrufbeantworter. Ich höre Geräusche aus dem Zimmer meines Vaters, helles Klopfen, Glockentöne, und bin unsicher, ob ich wach bin. Der Empfangsjunge bleibt ruhig sitzen und hackt rhythmisch in eine Tastatur. Ich überlege, aufzustehen und schaue in den Spiegel, frage: Soll ich aufstehen? Soll ich dieses Zimmer betreten? Ich weiß nicht, sagst du, es ist deine Sache, deine Entscheidung. Die Zimmertür geht auf und die Ärztin tritt in den Gang, ohne hochzuschauen. Achtundvierzig Schritte, vorbei am Warteraum, vorbei an der Rezeption, sechzehn Schritte. Was bedeutet Entscheidung?
Starke Lust, stärkere Lust. Ist es vorstellbar, Lust zu vergleichen oder gar zu messen? Ein Mensch empfindet bei einer Tätigkeit Lust, ein anderer bei der gleichen Tätigkeit keine. Verständlich. Was aber, wenn derselbe Mensch, der dieselbe Tätigkeit soeben noch lustvoll verrichtet hat, diese im nächsten Augenblick als abstoßend wahrnimmt? Sie ekelt ihn! Du kennst das, es ist dir selbst hin und wieder passiert. Am Anfang hat es dich verstört, aber du hast dich bald daran gewöhnt, es ist auch nichts weiter dabei. Schwierig wird es erst, wenn die Lust nicht zum Eigensinn wird, weil Zweite, Dritte an ihr beteiligt sind. Du betrachtest dich im Spiegel. Du schwitzt. Du betrachtest die Arme des Empfangsjungen, du schwitzt. Auch beim Gedanken an den Kittel der Ärztin schwitzt du. Aber dir ist nichts vorzuwerfen, denn dein Schweiß hat, wie du weißt, keinen Grund. Mein Vater liegt in diesem Zimmer, denke ich, er muss es schaffen, er wird es schaffen, das Zimmer zu verlassen. Würde ich das Zimmer betreten und seine Hand nehmen, wäre es für ihn einfacher? Schwieriger? Natürlich einfacher, sagt der Empfangsjunge. Nein, sagt er nicht, das Gegenüber sagt es, es ist wieder bloß das Gegenüber. Mir wird ein wenig übel und mein Körper erinnert sich daran, wie ich am Klettergerüst hänge, ganz an dessen Anfang, wo die Füße beinahe den Boden streifen, immerhin die zweite oder dritte Sprosse. Die anderen Kinder klettern munter an mir vorbei und beachten mich nicht. Immerhin!, sagt meine Mutter und sagt es mit ernsthaftem Stolz. Immerhin. Und meine Finger rutschen ab, dass ich auf den Rücken fliege und mir für mehrere Atemzüge die Luft wegbleibt. Das ist das erste Mal, dass ich denke, ich werde sterben. Nicht jetzt, aber sicher irgendwann.
Die Sonne färbt den Himmel in ein sattes Gelb. Wolken jagen sich und ihre Außenhaut erglüht, ihre Hüllen blitzen, wenn sie ineinanderschmelzen. Ein Vogel setzt sich auf ein Stromkabel und putzt seinen Schnabel. Fenster werden aufgemacht, damit neue Luft die alte ersetzt. Es wird Wäsche gewaschen, Worte fallen. Würdest du alles wissen, zur gleichen Zeit alles sehen, würdest du nicht umhinkommen, zu bemerken, wie auf einigen Bildschirmen die Nachrichten den heutigen Tag zusammenfassen und den morgigen ankündigen. Dieser Tag dringt nicht zu dir vor. Du wartest, hast keine Zeit für den Tag. Du hast schreckliche Lust, Lust auf Zeit. Dein Oberkörper steht krumm, dein Becken sitzt schwer auf deinen Beinen, deine Füße springen winzige Sprünge, die niemand braucht. Oh!, fällt es dir ein. Oh. Ich wollte doch hingehen, diese Tür aufmachen, das Zimmer betreten, die Hand meines Vaters nehmen, aber ich schaffe es ja nicht einmal bis zur mittleren Sprosse. Das Licht der Deckenlampe flackert und du suchst Bestätigung im Blick des Spiegelbilds. Warten Sie?, fragt die Stimme der Ärztin. Und ja, es ist leibhaftig sie. Worauf warten Sie? Und ich erzähle ihr die ganze Geschichte. Wie der Urgroßvater zum Nachbar einen Witz über Stalin machte, den dieser umgehend der Parteizentrale meldete. Wie er den Witz bei der obligatorischen Befragung wiederholte und darauf bestand, ihn nicht zurückzunehmen. Dann der Gulag, in Hemdkragen eingenähte Zettel, Briefe an die Ehefrau, transportiert als Wäsche. Auffliegen, lebendig begraben werden vor den Augen der Familie, was die Ehefrau bis ans Lebensende krank machen wird. Zwei Söhne, der eine meldet sich freiwillig an die Front, der andere verweigert. Der eine kommt stolz ohne Bein zurück, die Seele des andren verkümmert. Und alles akribisch weitergereicht, vererbt bis ins kleinste Detail, bis ins kleinste Trauma. An den Sohn, meinen Vater, den Kohlkopf, den klugen Lügner, der dümmer und dümmer wird im Alter und an den Enkel, mich, der alles weiß und nichts, und der immer schwitzt, immer dieser Schweiß, klebrige Hände und salzig-süße Haut. Wen kümmert das?, fragt das Gegenüber. Wer hat dich denn gefragt?, sage ich. Die Ärztin ist schon weg. Stunden sitzt du hier, Tage sitze ich hier wegen einer Kleinigkeit, einem Missverständnis, einem Unvermögen, das mich daran hindert, Mensch zu sein. Worauf warten Sie?, wiederholt die Ärztin, und außerdem spricht man nicht von Leuten, die man nicht kennt. Ich senke den Blick und betrachte meine Sandalen. Dann sehe ich wieder auf. Das Licht scheint angenehm und unauffällig, es ist ruhig, still. Kein Laut, kein Geräusch, nichts stört. Der Körper verlässt den Stuhl, richtet sich auf und steht gerade im Raum. Er wartet, dann setzt er sich in Bewegung, gleitet aus dem Warteraum über den Flur zum Zimmer des Vaters, und ich öffne die Tür. Im Zimmer sind vier Betten, auf drei von ihnen liegen Menschen, auf einem davon mein Vater, stoisch, entspannt mit geschlossenen Augen. Ich sehe, wie sich seine Brust langsam hebt und senkt. Er schläft ja nur. Hallo!, ruft ein Körper vom Bett am anderen Ende des Raums, kannst du mir ein Wasser bringen? Ich nehme ein Glas vom Beistelltisch am leeren Bett, fülle es im Bad mit warmem Wasser und bringe es dem Körper, der darum bat. Ich gebe es ihm in die Hand. Die Hand nimmt es, führt es zum Mund und kippt es sanft an, damit der Wasserfluss nicht gefährlich beschleunigt. Die Zunge empfängt das Wasser und hilft der Speiseröhre beim Schlucken, dann schmatzen die Lippen und die Hand stellt das Glas auf das Fensterbrett neben der Liege. Danke, ich danke dir vielmals, sagt die Stimme, warum hast du so lang gewartet?
Links:
- Yevgeniy Breyger erhält 2023 den "manuskripte"- Preis des Landes Steiermark
- Yevgeniy Breyger wohnt in Frankfurt und stammt aus Charkiw in der Ukraine. In seinem neuen Gedichtband „Frieden ohne Krieg“ spannt er den Bogen vom 2.Weltkrieg zum russischen Überfall der Gegenwart. Die Schriftstellerin Marjana Gaponenko meint: „Breygers Poesie ist in vollem Bewusstsein ihrer Verwundbarkeit. Außer ihrer unfassbaren Coolness, Aktualität und Anmut ist das eine ihrer Stärken.“, SWR 19.
- Mai 2023»Ich habe mich frei gefühlt« Yevgeniy Breyger, Porträt von Eugen El 18.04.2022
Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf.«
Tanja Maljartschuk, Klagenfurter Rede zur Literatur 2023
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Autorinnen und Autoren, liebe Ingeborg,
ich danke zunächst den Veranstaltern ganz herzlich für die Einladung, in diesem Jahr die Klagenfurter Rede zur Literatur zu halten. Das ist für mich eine große Ehre, auch wenn ich bezweifle, dieser Ehre würdig zu sein. Denn ich betrachte mich selbst als eine gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – schlimmer noch – in die Sprache verloren hat.
Seit über einem Jahr, das sich wie drei Ewigkeiten anfühlt, führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen mein Land. In dieser Welt wüten auch andere Kriege, die genauso schmerzen und stumm machen, so wie jeder Krieg aus der Vergangenheit dies getan hat. Wie mir scheint, ist es ein ewiger Krieg, der schmerzt und stumm macht und nicht aufhört, egal wie sehr wir es uns wünschen. Und das Hauptinstrument aller Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Sprache, die schönste Gedichte hervorbringt, kann auch dazu dienen, Befehle kundzutun, zum Abschuss von Raketen, die Zivilisten töten, oder zum Vorrücken von Panzern. Die Sprache ist daher nie unschuldig, man muss, wie es ein mir bekannter Schriftstellerkollege aus dem Kongo neulich formulierte, selbst sauber sein, wenn man mit einer schmutzigen Sprache arbeiten möchte. Das bin ich nicht, meine Damen und Herren, ich bin nicht sauber, denn ich habe Angst bekommen vor der Sprache, die Millionen von mehrheitlich friedlichen Bürgern überzeugen kann, im Recht zu sein, andere zu ermorden.
Ich verstehe, wie absurd meine Angst von außen aussehen muss. Kann sich ein Bäcker vor Mehl fürchten? Oder ein Bauarbeiter vor Ziegeln und Zement? Im Jahr 2023 fürchtet sich eine Autorin vor der Sprache. Und ich frage mich ständig, ob es nicht zu wenig ist, eine Autorin zu sein. Ob die Literatur sich vor den Hunderttausenden von Opfern, zerstörten Städten und auseinandergerissenen Familien in der Uneindeutigkeit der Metaphern verstecken kann. Es ist immer wieder gefragt worden, ob eine schöne Literatur angesichts des Grauens in der Welt noch möglich wäre, angemessen, berechtigt – oder doch barbarisch. Diese Frage stellt sich nun auch mir ganz persönlich. Vor allem aber frage ich mich: Nimmt sich hier die Literatur nicht zu wichtig? Geht es nicht viel mehr darum zu fragen, wie man es unmöglich machen kann, dass das Grauen sich vollzieht, als zu fragen, ob man danach noch dichten könne? Warum sucht man nicht nach dem Knopf, der die gewaltauslösende Maschinerie in und zwischen uns ausschalten könnte? Vielleicht würden wir gar keine Gedichte mehr brauchen, hätten wir den Weg gefunden, eine Welt ohne Gewalt zu erschaffen.
Verstehen Sie mich und meine Verbitterung nicht falsch. Ich verdanke alles in meinem Leben der Literatur, die ich mir als Blüte am Ast eines Baumes vorstelle. Einerseits ermöglicht sie die Fortpflanzung der Ideen, und doch fällt sie bei einem Unwetter als erste ab. Auch im Donbas haben in diesem Frühling Bäume geblüht. In den verlassenen Dörfern, vor den zerbombten Häusern, über den noch nicht entdeckten Massengräbern. Ein Baum blüht, während ein Soldat ein Mädchen auf den Wurzeln des Baumes vergewaltigt. Ein blühender Baum ist machtlos und hilflos der Gewalt gegenüber, die Menschen einander antun. So wie die Literatur bleibt ein Baum nur ein stummer Zeuge, dessen Aufgabe darin besteht, Luft zu schaffen, damit wir atmen können, zu brennen, damit wir Wärme fühlen, zu Papier zu werden, damit wir weiter eine schöne Lüge, die wir Hoffnung nennen, aufs immer Neue niederschreiben. Wer sind wir ohne unsere Bücher, frage ich mich. Und gleichzeitig, wie ein Bäcker, der Schimmel in seinem Brot entdeckt, sehe ich erschrocken, wie auch die Sprache der Literatur faul sein kann. Wie oft hat sie Gewalt als Liebe definiert, Mord als Rettung verschönert, Arroganz als Würde gezeigt. Wie oft hat sie die Umbringer, die Auslöscher und die Gauner sämtlicher Sorten verherrlicht und verharmlost. Wie oft war die Literatur unfähig, die Dinge so zu benennen, wie sie sind. Und wie oft hat sie die Opfer nicht sprechen lassen.
2018 habe ich selbst am Wettlesen um den Bachmannpreis teilgenommen. Meinen Auftritt wollte ich einer rumänisch-schweizerischen Autorin, Aglaja Veteranyi, widmen, aber am Ende habe ich es doch nicht getan, aus der Befürchtung, nicht verstanden zu werden. Veteranyi hatte an dem Wettbewerb 1999 teilgenommen, und ist dabei verrissen worden, fast ausgelacht. Ich würde ihr gerne sagen, wie sehr ich das bedauere, aber sie ist nicht mehr am Leben. In ihrem wunderbar gruseligen Zirkus-Text, später als Buch unter dem Titel »Warum das Kind in der Polenta kocht« veröffentlicht, hat sie ihren eigenen Weg zwischen Gewalt und Missbrauch sowie ihre geistige Versehrtheit in ein wildes surreales Märchen verwandelt. Denn aus der Schlacht gegen jene, die uns vernichten, verschlucken, versklaven, kontrollieren und demütigen wollen, kehren wir immer ein bisschen kaputt zurück. Manche erholen sich davon, manche nicht, manche, wie Aglaja Veteranyi, erzählen Märchen und gehen zugrunde. Auf die Frage im Titel ihres Buches hat Veteranyi eine mögliche Antwort angeboten: Das Kind kocht in der Polenta, weil Gott einen großen Hunger hat. Im Jahr 2023 genügt mir diese Antwort nicht mehr. Der kleinen Tochter meiner Freundin, deren Vater in Bachmut gefallen ist, kann ich nicht sagen: »Ein hungriger Gott hat deinen Vater geholt.« Eine solche Antwort würde sie auch nie akzeptieren. Seit eineinhalb Jahren habe ich den Verdacht, dass die Erwachsenen Märchen nicht für die Kinder, sondern für sich selbst schreiben und erzählen, weil sie hilflos und zerstört mitten in der Realität stehen und nicht mehr wissen, wohin. Auch ich stehe heute hilflos da, der Sprache und der Zukunft beraubt und ein bisschen kaputt. Und das Einzige, was ich weiß: Ich möchte kein Futter für irgendwelche Götter mehr sein – oder für Dämonen oder gewöhnliche Soziopathen ohne einen Schimmer Empathie. Weder füttern möchte ich sie, noch mich vor ihnen fürchten. Ich möchte, dass sie verlieren, sämtliche Sorten von Umbringern, Auslöschern und Gaunern, und dass der Tag endlich komme, wo … Ach, Ingeborg, du weißt, was ich meine.
Hätte Ingeborg Bachmann doch auch nur gewusst, wie berührend es im Jahr 2023 für eine Slawin war, in einem ihrer letzten Interviews zu lesen, dass sie sich auch zu den Slawen bekannt hat. »Ich gehöre dorthin«, sagte sie, »ich gehöre zu diesen Leuten«. Slawen seien »emotiver«, sagte sie, was aber nicht bedeute, sie könnten weniger rational denken. Denn es gehöre zusammen, und es müsse zusammen gehen: die höchste Vernünftigkeit und die Fähigkeit zu fühlen. Denn wer nur ein Hirn habe und kein Herz, sei niemand.
In diesem großen slawischen Herz – genauer gesagt: in diesem meinem ukrainischen Herz – steckt leider auch viel Angst. Es liegt in der Natur eines seit Ewigkeiten unterdrückten und kolonisierten osteuropäischen Volkes, dessen Sprache vor nicht allzu langer Zeit noch verboten war. Es liegt in der Natur einer Frau, die in durchaus patriarchalen Verhältnissen aufgewachsen ist. Es liegt in der Natur einer politischen Gemeinschaft, die einen Angriffskrieg erleben und für ihre Existenz kämpfen und sterben muss. Dreifach Opfer zu sein, ist für ein Leben womöglich zu viel.
Aber zu wenig für einen Roman.
Der Roman, von dem ich spreche, ist im Februar des letzten Jahres für immer unvollendet geblieben. Er sollte meine literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust in der Ukraine abschließen oder allgemeiner gesagt: meine Beschäftigung mit den Themen Herkunft, Gewalt und beider traurigem Kreislauf. Mit vierzig, zweimal geschieden, mehrmals umgezogen, oftmals weggelaufen, meinte ich damals, das Schlimmste bereits hinter mir zu haben. Man hatte sich einen kleinen Raum der Freiheit – ein, zwei Quadratmeter vielleicht – erkämpft. Man war stolz, dass der Vater der letzte Mann im Leben sein würde, der schlug, man saß drei Jahre in den Archiven in Wien und in der Ukraine, man plante nach Ludwigsburg zu reisen, wo sich die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen befindet, sowie nach Warschau zum Museum der polnischen Juden. Der Versuch, sich noch mehr zu befreien, indem man sich von der Geschichte befreite, indem man das Unerzählte in ihr, das Ungeheuerliche endlich zur Sprache brachte, war der Mühe wert. Und doch saß in diesem meinen Roman von Anfang an die Unmöglichkeit seiner Vollendung.
Lassen Sie mich von ihm ein bisschen erzählen.
Zunächst hatte ich den Titel: »Schnee in meinem Kopf« – Warum Schnee? Erstens: Ich liebe ihn. Kaum bin ich jemals glücklicher, als wenn es schneit. Zweitens: Schnee legt sich betäubend auf den Schmerz und dämpft Geräusche. Stellen Sie sich eine Vergangenheit vor, in der nichts weh tut und niemand aus Verzweiflung jammert. Gäbe es eine solche Vergangenheit, würde es darin ganz bestimmt ununterbrochen schneien. Drittens: Ich war wie besessen von der Idee, eine Brandstätte mit Schnee zu beruhigen, nach einem Feuer, das am jüdischen Pessachfest 1942 in einem unauffälligen westukrainischen Ort gelegt worden war.
Von diesem Brand habe ich zufällig erfahren. Nach der Meldung einer jüdischen Zeitung erschien 1947 beim Lagergericht in Föhrenwald ein gewisser staatenloser Mann namens Wojt Chuna. Zu der Zeit war dieser Mann 44 Jahre alt, verwitwet, ein Bauer und – wie sich später herausstellte – der einzige überlebende Jude aus dem Ort, aus dem meine Familie stammt. Aus benachbarten Städten und Dörfern gibt es in den Archiven genügend Augenzeugenberichte, Memoiren der Überlebenden und sogar kleine Tagebücher. Sobald es aber um den Ort ging, den ich so gut zu kennen behauptete wie meinen eigenen Körper, fehlte jede Überlieferung. Als Kind habe ich dort die Kühe meiner Großeltern gehütet, unbeaufsichtigt bin ich überall herumgelaufen, jede Ruine war mir vertraut, jeder Plaudertasche war ich ein Kumpel, und doch hatte ich von einem Schtetl, das hier vor nicht langer Zeit stand, nie erzählt bekommen. Man möchte glauben, dass ein Genozid immer woanders stattgefunden haben muss, und nicht in deinem Garten, nicht zwischen deinen Nachbarn. Das geerbte Haus, bereits verwahrlost und baufällig, kann unmöglich einer jüdischen Familie gehört haben. Und du kommst nicht mal in die Nähe einer Antwort auf die Frage, ob jemand von ihnen den Genozid, der nicht hier stattgefunden haben kann, überlebt hat.
Als ich den Holocaust zum ersten Mal am Abendtisch bei meiner Familie ansprach, errötete mein Vater und sagte, dass er die Tragödien anderer Völker anderen Völkern überlassen würde, er selbst habe genug der Eigenen zu betrauern. Seine Mutter überlebte die vom stalinistischen Regime künstlich herbeigeführte Hungersnot, den Holodomor (wie schrecklich ähnlich klingen diese Wörter!) – ihre Familie starb an Hunger. Mein Vater ist kein Antisemit, obwohl in dem Moment, als er mir zurief: »Willst du, dass ich weine? Ich werde es nicht tun!«, dachte ich, er sei einer. Weder Babyn Jar kümmerte ihn, noch das Vernichtungslager Bełżec, wo die Viehwaggons mit seinen ehemaligen Dorfmitbewohnern nicht länger als 15 Minuten anhielten. Der sowjetische Alltag, der meinen Vater sozialisierte, war durch und durch antisemitisch; mein Vater selbst hatte nie einen einzigen Juden gekannt, und niemand hatte ihm jemals gesagt, dass seine antisemitischen Witze nicht lustig waren. Nur ich. Und je öfter wir miteinander stritten, desto beharrlicher suchte ich nach Spuren und Beweisen, um ihm seine Geschichte zu erzählen. Deshalb zitterte meine Hand, als ich Wojt Chunas Aussage im Wiener Dokumentationsarchiv aus einem Stapel von Verhörberichten herausfischte. Mein einziger Zeuge, mein Nachbar, mein Richter.
Zunächst wurde ein Ghetto im Ortszentrum errichtet, sagte er aus. Dann sei die Schutzpolizei aus der Kreisstadt Kolomea gekommen, im April 1942, sie umzingelte das Ghetto, schüttete Brennstoffe aus und steckte es in Brand. Alle, die sich vor dem Feuer zu retten versuchten, wurden auf der Stelle erschossen oder von den schwarzen Schäferhunden zerfleischt. Das Feuer brannte acht Stunden. Am nächsten Tag musste Wojt Chuna die Leichen zusammentragen, es seien über 1.000 gewesen. Ich stellte mir diese Arbeit vor. Ich stellte mir dieses Feuer vor. Ich fragte mich, wie es den Übriggebliebenen gelungen ist, die Erinnerung an ein solches Feuer nicht zu bewahren? Wie könnte man ein solches Feuer nur vergessen? Ich las den Bericht von Wojt Chuna wieder und wieder, lernte ihn auswendig, ich wusste nun, wo sein Haus war, und wusste, wo das Feuer war, dann rief ich meinen Vater an und sagte, dass ich nun alles wisse, es sei ein Feuer gewesen, ein großes Feuer, es sei von überall zu sehen gewesen und brannte acht Stunden, ist das viel oder wenig? Ich sagte, ich habe Namen von den ukrainischen Helfern, vielleicht würde der Vater jemanden kennen, ich habe Namen der Schutzpolizisten, die das Feuer entzündeten, »stell dir vor«, sagte ich dem Vater, »sie sind alle aus Wien gewesen, aus der Stadt, wo ich jetzt wohne, ich habe ihre Adressen gesucht und gefunden, jetzt lebt dort wer anders. Ich habe ihre Gräber gefunden, die nächstes Jahr aufgelöst werden, da niemand mehr für das Nutzungsrecht bezahlt.« Ein Täter gestand: Dort seien so viele ermordet worden, dass es auf die paar, welche er umgelegt habe, gar nicht angekommen sei. »Dort« hieß »bei uns«, erklärte ich meinem Vater. Dort, bei uns. Nur wenige der Täter erhielten Strafen (für die sie später eine staatliche Entschädigung forderten). »Metzger, Schlosser und Bäcker haben sich in der Ukraine als Herrenmenschen gefühlt, sie kamen zu uns und zündeten ein Feuer an, das acht Stunden brannte, ist das viel oder wenig, Vater«, sagte ich, worauf mein Vater antwortete, ich sei verrückt und solle ihn in Ruhe lassen, 150.000 russische Soldaten stünden an der Grenze zur Ukraine.
Und so treffen sie sich: die Literatur und die Realität. Und die Realität gewinnt jedes Mal, und die Literatur verliert, denn sie bietet die Rettung für einzelne, aber nie für alle zusammen. Sie ist schön, aber hilflos wie ein Wald der blühenden Bäume. Was sie vielleicht kann: Den Opfern in dunklen Tälern eine Stimme geben, beim Schreien und beim Schweigen zuhören, sie stärker machen, damit die Umbringer, Auslöscher, Verbrecher und Gauner, all jene, die überzeugt sind, mehr Recht zu haben und besser zu sein als die anderen, endlich nicht mehr die Oberhand behalten. Damit, wie Ingeborg sagt, ein Tag komme, an dem die Hände der Menschen »begabt sein werden für die Liebe und […] für die Güte« – ein Tag, der den Menschen verheißt »sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter die Wasser gehen, […] sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sie gemeint haben.«
Klagenfurt, 28. Juni 20223
Tanja Maljartschuk
3.Juli 2023, Facebook Eintrag
Es begann vor ein paar Tagen in Klagenfurt, als ich von ihrer Verletzung durch die russische Rakete erfuhr. So schwer war es, die Rede zur Literatur zu halten, wissend, dass sie irgendwo in Kramatorsk im Spital mit einem Splitter im Kopf bewusstlos liegt. Nun ist sie tot. Russland hat sie getötet. Diesen Engel mit strohigem Haar, diese kluge, sensible, intelligente ukrainische Stimme, für immer verstummt, eine Autorin, die mehr Mut hatte, als viele von uns je haben werden. Das Interview für den Stern vom 01.06.23 wird ihr letztes bleiben. Darin sagt Viktoria Amelina: „Wir sind normale Menschen, die gezwungen sind, heldenhaft zu handeln.“ Seit Monaten dokumentierte sie Verbrechen im „Osten des ukrainischen Sieges“, wie sie es selbst nannte, denn sie hatte ein großes Herz und viel Humor. Sie sammelte Zeugnisse, fotografierte zerstörte Häuser, sprach mit vergewaltigten Frauen und gefolterten Männern. Sie hat die Tagebücher von einem in Okkupation ermordeten ukrainischen Schriftsteller Wolodymyr Wakulenko gefunden (das Bündel war in seinem Garten vergraben). Eines Tages wird ihre Arbeit dazu beitragen, Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, weil dies der einzige Weg ist, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Daran glaubte sie. „Geh, sprich mit den Frauen!“ — endete eins ihrer letzten Gedichte. Juri Durkot hat es ins Deutsche übersetzt. „Ich kenne schon alle in dieser Stadt und alle ihre Toten sind meine Toten, und alle Überlebenden sind meine Schwestern“.
Schwester, ich weiß nichts mehr zu sagen. Meine Hosentaschen sind nass von Taschentüchern.
Ob die Welt da draußen versteht, was wir alle erleben müssen und dass unsere Kräfte schwinden? Ob jemand sich fragt, was nach uns kommt?
Wie geht man mit der eigenen Sprachlosigkeit angesichts des Krieges um? Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk setzt dem Schrecken persönliche Geschichten entgegen. Über Emotionen in Zeiten des Krieges spricht sie mit der Historikerin Ute Frevert. Es moderiert Joachim Telgenbüscher.
Der russische Angriff auf die Ukraine provozierte weltweit heftige emotionale Reaktionen. In ihrer „Klagenfurter Rede zur Literatur“ im Juni 2023 berichtete die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk von ihrer eigenen Sprachlosigkeit angesichts der russischen Invasion. Sie bekannte, Angst zu haben vor einer Sprache, „die Millionen von mehrheitlich friedlichen Bürgern überzeugen kann, im Recht zu sein, andere zu ermorden“. Kann Literatur dazu beitragen, den Krieg zu beenden? Im Versuch, dieser Sprachlosigkeit zu entfliehen, setzt sie dem Schrecken eine emotionale Geschichte der Angegriffenen entgegen. Was bedeutet Krieg für die Erinnerung und verändert sich durch eine solche Zäsur der emotionale Blick auf die eigene Geschichte? Zugleich wird auf einen Krieg nicht bloß emotional reagiert, Gefühlsregungen beeinflussen sowohl Akteure als auch Beobachter:innen in ihren konkreten Handlungen. Auch in Deutschland löste der russische Angriffskrieg sowohl Bestürzung und Angst als auch Solidarität aus. Welche Bedeutung trägt bei diesen individuellen und kollektiven Gefühlsäußerungen die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts? Gibt es einen emotionalen Nachhall der Erlebnisse vergangener Generationen? Und welche Wirkmächtigkeit hatten Emotionen in der Geschichte?
Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Tanja Maljartschuk und der Historikerin Ute Frevert. Es moderiert Joachim Telgenbüscher, Redaktionsleiter GEO EPOCHE.
Die vierteilige Reihe »Gebundenes Leben« in Kooperation mit dem Literaturhaus Hamburg setzt sich mit Widerstand und Resilienz, Emotionen, Gewalt und Grenzen in verschiedenen Kontexten des Krieges und Friedens auseinander.
Körber Stiftung, 1.2.2024, Hamburg
2023 geht der Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil an die in der Ukraine geborene und in Wien lebende Autorin Tanja Maljartschuk. Die mit 8.000 Euro dotierte Auszeichnung wird von der Theodor Kramer Gesellschaft am 1. September im niederösterreichischen Niederhollabrunn, dem Geburtsort des Lyrikers Theodor Kramer (1897-1958), überreicht.
Tanja Maljartschuk wurde 1983 in Iwano-Frankiwsk (Ukraine) geboren und lebt seit 2011 in Wien. Neunprozentiger Haushaltessig (2009), Biografie eines zufälligen Wunders (2013), Von Hasen und anderen Europäern (2014) Blauwal der Erinnerung (2019) , Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus (2022).
"Der Ton des Krieges, die Tonarten des Friedens"
Festrede von Ilija Trojanow
Eröffnung der Salzburger Festspiele, 26.7.2022
Liebe Zuhörende,
Die Sieben, die Drei und das Ass. In einer Oper von Tschaikowski sind das die drei Karten, die am Spieltisch stets Gewinn garantieren.
Zunächst die Sieben. Eine Glückszahl, im Westen wie auch in Odessa. Von dort stammt das Lied "Gop so smykom." Ein Gaunerlied. Durchsetzt mit Argot besingt es das Leben eines Räubers, der nichts bereut. Der Publikumsliebling Leonid Utjossow, ebenfalls aus Odessa, darf mit seiner Band im Kreml vor ausgewählten Zensoren auftreten. Während des Konzerts erhält er den Befehl des anwesenden Stalin, er solle Gop so smykom spielen. Doch das Lied ist auf Geheiß Stalins verboten! Was soll der Musiker tun? Den Befehl Stalins missachten oder das Gesetz Stalins?
Bachs Chaconne kann lebensgefährlich sein
Die Sieben, die Drei und das Ass. Dreimal Zuversicht auf Gewinn.
Nun die Drei. Eine heilige Zahl. Nicht nur im Osten. Der jüdisch-polnisch-russische Komponist Mieczysław Weinberg schreibt eine Oper mit dem unscheinbaren Titel "Die Passagierin". In einer Szene wird der Geiger Tadeusz in Auschwitz von einem deutschen Offizier aufgefordert, zu seinem Amüsement aufzuspielen, einen süßlichen Walzer. Stattdessen intoniert er die Chaconne in d-Moll von Johann Sebastian Bach. Der polnische Widerstandskämpfer verteidigt die deutsche Kultur gegen den vulgären Nationalisten. Die glasklare Logik Bachs konterkariert die schmierige Unlogik der Gewaltherrschaft — das kann der Nazi nicht ertragen. Tadeusz wird abgeführt, in den Tod.
Die Sieben, die Drei und schließlich … das Ass. Aller guten Gewinne sind drei.
"Pique Dame": Mailand, St. Petersburg, Kiew
Das Ass ist ein sicherer Stich, eigentlich. Doch das Spiel geht schief, weil auf Pique Dame gesetzt wird, grausig schief: eine Inszenierung der Tschaikowski-Oper an der Mailänder Scala, die Premiere am 23. Februar 2022 ist ein jubelumtoster Erfolg. Stunden später fallen die ersten Raketen auf die Ukraine. Wissen Sie, wo die ersten zwei Aufführungen von Pique Dame stattfanden? In Sankt Petersburg am 19. Dezember 1890 und in Kiew am 31. Dezember desselben Jahres. Elf Tage dazwischen — drei plus sieben plus ein vermaledeites Ass.
Das Verhältnis von Kunst und Macht, es ist komplex.
I.
An der Scala dirigiert ein Mann namens Valery Gergiev, ein Meister am Pult, ein Virtuose der Macht. Einige Wochen später wird ein Video von Alexei Nawalny veröffentlicht. Er steht vor der Metropolitan Opera in New York als hemdsärmeliger Talkshowmaster, er beherrscht die Klaviatur der vermeintlich harmlosen Ironie, die zu ätzen beginnt, je tiefer er uns in den moralischen Morast führt. Denn der Mann, der den Taktstock schwingt, erweist sich als Großgrundgewinnler: Dutzende Immobilien, vor allem in Italien — eine Villa mit 18 Zimmern in einem Golfklub, ein ganzes Kap in Amalfi, dreißig Hektar in Rimini, 800.000 qm in Mailand, ein Palazzo in Venedig und und und.
Das Ass im Ärmel dieses Dirigenten ist sein eigener Wohltätigkeitsfonds, an dem er sich nach Belieben bedient, gefördert von den mafiösen Banken seines Landes. Und von der Moskauer Regierung. Vier Milliarden Rubel insgesamt. Nun da wir dies wissen, stellt sich die giftige Frage: Was hören wir, wenn wir seiner gefeierten Interpretation von Igor Strawinskys "Le Sacre du printemps" erneut lauschen? Schamanen in Trance am Lagerfeuer oder Satrapen, die um das Goldene Kalb tanzen? Wilde Ekstase oder hemmungslose Huldigung der schlimmsten Zivilisationskrankheit, der Gier? Was wird geopfert? Die Jungfräulichkeit oder der Anstand? Das ist nicht mehr Tschaikowski und auch nicht Strawinsky, das ist eher Kurt Weill, das sind Die sieben Todsünden, vor allem eine, die Habsucht.
"Lügner und Heuchler"
Лжецы и лицемеры, wiederholt Alexei Nawalny, sowohl russischer wie ukrainischer Abstammung, in beiden Sprachen beheimatet, inzwischen Häftling in der Strafkolonie Nr. 6. "Lügner und Heuchler." Nicht nur in Russland. Vergessen wir nicht die deutschen und österreichischen Groupies von Putin, die mit seinen Oligarchen Händchen gehalten haben — bekanntlich wäscht eine lupenrein demokratische Hand die andere —, darunter ehemalige Kanzler und Ministerinnen. Wie viel Sinekure befriedigt die Gier?
Seit dem 24. Februar dieses Jahres zeigt der Krieg wieder einmal seine Fratze. Der Krieg! Die schlimmste Waffe der Macht. Die ultimative Erniedrigung des Menschlichen. Imperiale Alchemie, bei der verkohlte Männer in heroische Diamanten verwandelt werden. Die zerstörten Städte in der Ukraine sind nicht Ausdruck unfassbaren Wahns, sondern unvermeidbare Folge der Logik enthemmter Macht. Oder wie Stalin gesagt hätte: Kein Mensch, kein Problem.
"Der Krieg ist perverse, redundante Monotonie"
Seit Kriegsausbruch sprechen wir die Sprache des Krieges. Antworten auf jede Frage mit einem entschiedenen Ja oder Nein. Oft ohne die Frage wirklich verstanden zu haben. Reden von Kriegsverbrechen und vergessen, dass der Krieg an sich ein Verbrechen ist, unabhängig davon, wie gerechtfertigt die Selbstverteidigung sein mag, egal, wie die Aggressoren vordringen, der Krieg ist perverse, redundante Monotonie, die nichts anderes zulässt als den einen, den angeblich wahren Ton. So ist es, einmal und immer wieder.
Am 12. August 1914 marschieren 200.000 österreichisch-ungarische Soldaten siegessicher über die Drina und die Save in Serbien ein und stoßen auf erbitterten Widerstand. Scharmützel auf Scharmützel, die imperiale Armee weicht zurück. Das Oberkommando stachelt die Truppen an: "Jede Humanität und Weichheit ist höchst unangebracht." Die Soldaten vernichten Dörfer, hinterlassen verbrannte Erde, vergewaltigen Frauen, exekutieren Männer. In dem Städtchen Šabac zum Beispiel sechzig Zivilisten, vor der Kirche abgeschlachtet mit dem Bajonett. All das ist dokumentiert in dem 1916 erschienenen Bericht eines Schweizer Professors namens Reiss, übersetzt in mehrere Sprachen. Niemand wurde bestraft. Schlimmer noch, diese Massaker sind so gut wie vergessen, hingegen werden in jedem Örtchen dieses schönen Landes die eigenen Kriegshelden heldengemäß gewürdigt. Das ist anderswo nicht anders. Unter der Schläfe des Friedens pocht der kriegerische Puls.
Was uns am Krieg erschüttert, ist nicht nur der Tod, sondern die Vereitelung des Lebens in seiner ausufernden Schönheit. Es ist seine Gewalttätigkeit, auch in der Sprache. Was sich in friedlicheren Zeiten als Stottern und Stammeln offenbart, entwickelt inmitten von Bombeneinschlägen eine unentrinnbare Zwanghaftigkeit. In ihrem Schatten hat alles andere zu verstummen. Alle Ambivalenzen, alle Schattierungen, alle Nuancen. Ratschläge werden brachial zu Schlägen und aus dem guten Rat wird im Salutierschritt der Verrat. Es wird nicht gesät und geerntet, sondern geplündert, es wird nicht getanzt, es wird exerziert. Der Krieg setzt einen alten jiddischen Fluch in die leidvolle Tat um: "Ale tseyn zoln dir aroysfaln, nor eyner zol dir blaybn af tsonveytik." Mögen dir alle Zähne ausfallen, außer jener, der dir Schmerzen bereitet. Krieg ist verdammte Ein-Tönigkeit.
"Kunst ist fast nie vom Krieg inspiriert"
Das Verhältnis von Kunst und Macht, es ist sehr komplex. Die Wahrheit des Tages ist nicht die Wahrheit der Nacht. Weswegen Kunst fast nie vom Krieg inspiriert, sondern dem Krieg auf mühsamste Weise abgerungen ist. Die Ästhetik ist ein Opfer mörderischer Intoleranz. Die Kunst und der Krieg sind Antipoden. Nehmen wir Isaak Babel. Auch er aus Odessa, ein gebildeter Feingeist, durch und durch friedfertig, der sich unerbittlich zwang, aus einem Gefühl der Verantwortung heraus, Eindrücke von der furchterregenden Gewalt und Brutalität des Bürgerkriegs in der Sowjetunion nach 1918 einzufangen. Er setzte sich dem Verhassten aus, um es in seine eigene Sprache zu verwandeln. Das Ergebnis ist niederschmetternd, kaum erträglich. Einen Kosaken lässt er sagen: "Mit einer Kugel kannst du nicht dorthin dringen, wo der Mensch eine Seele hat, und du kannst nicht herausfinden, wie sie ist. Aber ich schone mich selbst auch nicht, ich stampfe manchmal auf dem Feind herum, eine Stunde lang, weil ich wissen will, wie es da drinnen aussieht." Bei Babel gibt es keine Heroisierung und keinen Hass. Wie überhaupt die Literatur ein Universum der Vielfalt ist, mit vielen Tonarten in Verwendung. Wer aus Hass schreibt, um eine Rechnung zu begleichen, geht ästhetisch bankrott. Jenseits des poetischen Wortes herrscht die Einfalt.
Hören wir den dritten Satz des Zweiten Streichquartetts von Béla Bartók, fast zeitgleich mit Babels Kurzgeschichten entstanden. Die Trauer dieser lyrischen Dissonanz zieht uns den Boden unter den Füßen weg, ein Strudel erfasst uns, wir fallen ins Haltlose, über das Zupfen der letzten Noten hinaus. Kondensierte Verzweiflung nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs. Doch auch hier, wie schon bei Babel gibt es Momente lebensbejahender Schönheit. Die Kunst hält Erhöhung und Erlösung bereit. Gegen die Fernsehbilder können wir abstumpfen, gegen die Aufschreie der Kunst gibt es keine Immunisierung, solange wir noch Gefühle haben.
Ein Vogel aus Usbekistan
Ein Vogel geistert durch die Mythologie Usbekistans, ein hässlicher, aschfarbener Vogel namens Qaqnus. Er hat tausend Zähne im Schnabel, und jeder Zahn singt eine andere Melodie. Er sammelt Dornen und Zweige, baut sich ein Nest und beginnt zu singen. Sein Gesang ist unerträglich schön, die menschlichen Zuhörer werden krank. Der Gesang entzündet den Vogel, er verbrennt. Der Asche entschlüpft ein Küken, das sein Leben damit verbringt, Dornen und Zweige zu sammeln, um eines Tages auf seinem eigenen Scheiterhaufen singen zu können.
Damit ist der Bogen geschlagen: Der Krieg lässt nur den Zahn des Schmerzes übrig; die tausend Zähne der Kunst singen tausend unterschiedliche Lieder.
II.
Es gibt einen kalten Krieg und es gibt einen heißen Krieg, und beide finden im versehrten Frieden statt. Wenn wir wissen, oder zumindest wissen sollten, wie sehr der Krieg alles negiert, was uns wertvoll ist, wieso bekämpfen wir ihn nicht entschiedener in Friedenszeiten? Wieso werden Soldaten und Generäle im öffentlichen Raum geehrt, mutige Deserteure hingegen totgeschwiegen, abgesehen von einem einzigen Mahnmal in Wien, das wie ein Alibi wirkt, errichtet nach sechzig schamhaften Jahren.
Und was bringen wir den Kindern bei? Vor einigen Wochen habe ich zu einer Schullektüre gegriffen, mit der ich einst sechs Monate lang gequält wurde: Julius Caesar, De bello Gallico. Ich las das erste Kapitel, auf Deutsch. Es war entsetzlich. Dieser Unterrichtstext ist eine Apologie des Massenmords, verfasst mit der gefälligen Selbstherrlichkeit eines siegreichen Feldherrn. Und so etwas mussten wir durchpauken. Warum? Um das lateinische Wort für "abschlachten" zu lernen? Interficere. Es kommt oft genug vor. Um es konjugieren zu können? (Interficio, interfeci, interfectus.) Am wichtigsten: Interfecerunt — es wurden alle abgeschlachtet.
Was haben wir aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts gelernt, wenn nicht dies: Nationalismus führt zu Krieg. Unweigerlich. Nur eine Frage der Zeit. "Nationalism kills", verkündete ein Plakat in England, als das Land 1975 über den EU-Beitritt abstimmte. Diese Lehre wird immer wieder vergessen. Im Jahr 2022 können wir nur mehr zerknirscht sagen "quod erat demonstrandum" und uns trösten mit einem beschwingten "humanum errare est", oft zitiert, stets unvollständig. Denn bei Augustinus heißt es: "Humanum fuit errare, diabolicum est per animositatem in errore manere." Was ich übersetzen kann, Julius Caesar sei Dank: "Irren ist menschlich, durch Arroganz im Irrtum zu verharren, jedoch teuflisch."
III.
In Friedenszeiten streift der Tod manchmal als Geld getarnt durchs Land. Sabotiert Traditionen. Vergiftet das natürliche Rechtsempfinden. Der heiße Krieg, das ist zum Beispiel die Extraktion — damit ist nicht nur das Herausziehen eines Zahns gemeint, sondern auch das Ausbuddeln von Bodenschätzen. Der Grund für die systematische Gier unserer Zeit liegt unter der Erde. Wir können uns nehmen, was uns untertan sein soll. Wir haben Techniken entwickelt, um in kürzester Zeit sehr viele Schätze herauszuholen. Was in Millionen von Jahren entstanden ist, verbrauchen wir in einem Jubeljahr. Nickel etwa. Gefördert beispielsweise durch einen Bergbaukonzern namens Solway.
Nur wer glaubt, es wäre akzeptabel, die Sparkasse zu überfallen, um "Fidelio" auf die Bühne zu bringen, kann so tun, als wäre Sponsoring wertneutral. Darf sich die Kunst von mafiös organisierten Konzernen oder von Firmen finanzieren lassen, die brutale Ausbeutung betreiben, von Mensch und Natur? Nein, wir müssen stets genau hinschauen, auch nach Guatemala, auf einen See, wo die Fische tot auf dem Wasser treiben. Weswegen es richtig und richtungsweisend war, dass die Festspiele in diesem Fall eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben haben, die zu einem Abbruch der Beziehungen zu Solway geführt hat. Ich war nicht an diesem See und weiß wenig über Nickel, aber ich war in Sierra Leone, wo Diamanten abgebaut werden, und kann berichten, wie Extraktion funktioniert — es könnte Sie interessieren.
Aus der Ferne sehen die Erhebungen wie Hügel aus. Aus der Nähe erweisen sie sich als Geröllhalden, bis zu fünfzig Meter hoch. Steht man mitten in Koidu City, links die Commercial Bank und rechts die Union Bank, sieht man am Ende der Flucht eine dieser Halden. Auf einmal versteht man das deutsche Wort Berg-Bau. Wortwörtlich. Wenn die Sprengungen erfolgen, erzittert die ganze Stadt, erbeben alle Häuser. Straßen werden blockiert, alle Arbeit ruht, die Mine herrscht über alles. Die Erde unter Koidu City birgt Diamanten. Oft wird behauptet, die Menschen vor Ort hätten nichts von den Bodenschätzen. Das ist falsch: Sie haben gravierende Nachteile. Statt Wohlstand wirtschaftliche Stagnation und Verarmung. Nach einem langen Bürgerkrieg, finanziert von diesen verfluchten Diamanten, auch Blutdiamanten genannt. Das Prinzip ist einfach: Sklaven und Söldner — die einen holen die Diamanten aus der Erde, die anderen schützen die Ausbeutung. Die Minengesellschaft hat nichts für die Stadt und die Region getan. Es ist keine Infrastruktur sichtbar. Die lokale Bevölkerung ist aus Sicht der Konzerne "überflüssig": Sie wird als Arbeitskraft zunehmend weniger benötigt, zudem ist sie im Weg, denn die Vorkommen liegen unter der Stadt und den umliegenden Dörfern. Vor einer der Geröllhalden sitzen dreißig Frauen auf Felsbrocken, erschöpft nach einem langen Tag der steineklopfenden Monotonie. Sie haben keine Werkzeuge außer einigen Hämmern und Hacken. Die Beine sind zerschnitten, die Hände schwielig und jede einzelne schaut zehn Jahre älter aus, als sie ist. Sie besitzen kein Land und andere Arbeit gibt es nicht.
Dieses gewalttätige Verfahren wird Okkupationswirtschaft genannt. Gemeint ist die hemmungslose Nutzung herrenloser Güter. "In Guatemala tauschen wir unseren Reichtum an Bodenschätzen gegen Brosamen aus", notiert der Anwalt Rafael Maldonado in einem Facebook-Eintrag am 12. November 2021. "Das Bergbauunternehmen verdient Milliarden im Jahr und zahlt uns Almosen, während es Zerstörung und Verschmutzung hinterlässt." Gelegentlich gibt es Proteste. Der Ausnahmezustand wird ausgerufen, die Armee marschiert ein, danach kehrt wieder Friedhofsruhe ein.
Was in Guatemala und Sierra Leone geschieht, ist permanenter Krieg, gegen unsere Mitmenschen, gegen die Natur. Vor wenigen Wochen erklärte der UN-Generalsekretär, wir müssten endlich unseren "sinnlosen und selbstmörderischen Krieg gegen die Natur beenden". Ein Krieg, bei dem das Notwendige und Schöne vernichtet wird, oft um Überflüssiges zu schaffen. Die zynische Erwiderung, wer unter uns habe schon saubere Hände, darf nicht gelten. Wenn Wohlstand nur entstehen kann, indem Mitmenschen geknechtet werden und Natur zerstört wird, dann wird es höchste Zeit, das System zu ändern, nicht nur die Sponsoringregeln.
IV.
Die Sieben, die Drei und das Ass.
Was ist den Künstlern aus unserem anfänglichen Triptychon widerfahren?
Der Bandleader Leonid Utjossow überstand den Abend im Kreml. Wie auch eine wüste Kritik von Maxim Gorki in der Prawda, der darin die Jazzmusik für die sexuelle Degenerierung verantwortlich machte und als "Musik der Dicken" abkanzelte. Utjossow beugte und bückte sich, trat hunderte Mal an der Front auf und schrieb Memoiren, in denen er Odessa, diesen quirligen Zusammenfluss der Kulturen, mit zuckersüßer Nostalgie und volkstümelnder Banalität übergoss, getreu den russischen Projektionen auf diese Hafenstadt am Schwarzen Meer.
Stalins Tod rettet sein Leben
Weinberg hatte es schwerer. Er floh vor den deutschen Truppen aus Warschau nach Minsk, später nach Taschkent, schließlich nach Moskau, auf Einladung Schostakowitschs. Seine Familie wurde von den Nazis ermordet. Im Februar 1953 wurde er verhaftet, wegen "bürgerlichem jüdischen Nationalismus", weil er angeblich auf der Krim eine jüdische Republik errichten wollte (wer sich dieser Tage über die propagandistischen Tiefflüge Moskaus wundert, sollte sich vergegenwärtigen, dass Putin ein gelehriger Schüler Stalins ist). Stalins Tod rettete Weinberg das Leben. Er mühte sich ab, über die Runden zu kommen, war nie mehr frei von Angst. Opus 138 ist betitelt: Krieg — kein Wort ist grausamer; Opus 143: Die Banner des Friedens. Und sein Meisterwerk, die bereits erwähnte Oper "Die Passagierin," wurde erst 2010 in Bregenz szenisch uraufgeführt, 14 Jahre nach seinem Tod.
Und das vermaledeite Ass: "Pique Dame"? Puschkin, der die Vorlage für das Libretto schrieb, verbrachte das Jahr 1823 in Odessa, eine glückliche Zeit, wenn auch unter Aufsicht zaristischer Schergen, die einen seiner Briefe abfingen. Der Dichter erwähnt darin, er studiere Atheismus bei einem tauben Engländer, der bewiesen habe, dass die Seele nicht unsterblich sei. Puschkin wurde daraufhin in die Verbannung geschickt. Und Tschaikowski? Er wird neuerdings nicht mehr aufgeführt, nicht in Polen, nicht in Wales, sein Name wird in der Ukraine von den Straßenschildern entfernt. Angeblich werde er, der an der Intoleranz gegenüber seiner Sexualität zugrunde ging, von dem homophoben Moskauer Diktator und seinen erbärmlichen Schergen propagandistisch vereinnahmt. Der Krieg verwirrt das Denken.
Isaak Babel, der Dichter Odessas, erlitt das grausigste Schicksal. Nach drei Tagen ununterbrochener Verhöre und Folter unterschrieb er ein Geständnis, er habe ausländische Spione jahrelang mit den Geheimnissen der sowjetischen Luftfahrt versorgt. Eine reine Erfindung und zudem gestohlen, aus einem seiner Werke, einem Drehbuch über Intrigen unter Wissenschaftlern in einer Fabrik für Luftschiffe. Babel, der scheue Chronist des Kriegs, wurde exekutiert. Sein letzter Roman, den er als sein Meisterwerk betrachtete, ist für immer verschollen.
Die Sieben, die Drei und das Ass. Garantierter Gewinn, aber nur für Kriegsprofiteure, für Machthaber, für einige wenige Privilegierte. Alle anderen müssen auf Untergang setzen.
So marschieren wir weiter. Zu martialischer Gebrauchsmusik, eingesperrt in einem rhythmischen Käfig, der Taktstock ein Gitterstab, jedes Mal, wenn Marschieren wichtiger wird als Musizieren. Manchmal wirft der Marsch seine Stiefel ab. Ein weiteres Lied aus Odessa: "S odesskogo kitschmana". Da knistert und knastert es, Bass und Blech, seht, zwei Knackis, sie taumeln der Freiheit entgegen, wundschwer, herzwund, die Fragen der Klarinette flattern im Rhythmus des Gesangs, wofür kämpfen wir, wofür vergießen wir unser Blut, während die da oben prassen und saufen, die Tuba rülpst, gestorben wird mit einem Lächeln, mein Freund, mit einem Lied auf den Lippen — es endet derart abrupt, dass wir in der Stille hängen.
"Desertieren wir also aus der Eintönigkeit"
Vor Jahr und Abend saß ich in der Alten Oper zu Frankfurt inmitten des orchestralen Wunders namens Ensemble Modern. Ein Marsch von Helmut Lachenmann wurde angestimmt. Was handkantenbügelfaltensteif begann, löste sich zunehmend auf, die sturen Takte desertierten, die Befehlshoheit der stiernackigen Rhythmen wurde zerlegt. Ich fühlte ein existenzielles Wohlbefinden und dachte an eine Anekdote aus dem Ersten Weltkrieg, als ein übereifriger italienischer Offizier aus dem Schützengraben sprang und mit einem fulminanten "Avanti" seine Truppe zum sinnlosen Angriff aufforderte, worauf die Soldaten ihre weißen Taschentücher herauszogen und ihm hinterherwinkten: "Ciao, ciao, commandante."
Desertieren wir also aus der Eintönigkeit des Krieges in die Vieltönigkeit der Kunst!
Alles hat kein Ende
Anlässlich des 100. Geburtstages von Georg Kreisler
Gedanken von Friedrich Orter, Journalist und Autor
Der Rundfunksender Österreich 1 produzierte die von Friedrich Orter verfassten Gedanken „Alles hat kein Ende“ Georg Kreisler
Gedanken für den Tag, 11.7.2022
„Ich singe in die blauwattierte Ferne." Die Nachrichten der neuen Woche sind absehbar und wiederholbar. Krieg in der Ukraine, Energieknappheit, Hungersnöte, Zukunftsängste, Pandemie, Wiederaufflammen der nie endenden Antisemitismus-Debatte. Wir hätten es ahnen und wissen können:
"Die Wirklichkeit ist verschwunden, und wir haben es nicht gemerkt“, lässt Georg Kreisler den Protagonisten seines Romans „Alles hat kein Ende“ sagen, einen Mann, dem die Welt aus den Fugen gerät. Kreislers Wirklichkeit war die Welt eines Vertriebenen und Emigranten, der nicht verdrängen und nicht vergessen konnte. In seiner unnachahmlichen Selbstbeschreibung liest sich das so: „Ich bin makaber, schauerlich, doch andererseits ganz nett/ und manchmal auch bedauerlich/ ein bisschen Kabarett// Nehmt ihn nicht ernst! Er ist doch gut/Und er bemüht sich redlich/ Er ist ein Wiener und ein Jud/ Zusammen ist das tödlich."
In meiner Bibliothek halte ich ein vergilbtes dtv-Bändchen aus dem Jahr 1964 in Ehren. Titel: "Georg Kreisler: Zwei alte Tanten tanzen Tango. Seltsame Gesänge“. Als damals Fünfzehnjähriger dachte ich, einen Dichter entdeckt zu haben in der Nachfolge von Wedekind, Mehring, Ringelnatz, Kästner oder Morgenstern, bis ich kurz später herausfand, dass diese Texte auf Schallplatten nachzuhören waren. Surreale, sarkastische, melancholische, vertonte Gedichte, die Kreisler zu einem Idol meiner Jugendjahre machten.
Den späten Kreisler lernte ich vor zwei Jahrzehnten in Bela Korenys legendärer Wiener Broadway Bar kennen, in der seine Tochter Sandra gelegentlich Lieder ihres Vaters interpretierte und ein anderer prominenter Barbesucher, Kreislers Todfreund Gerhard Bronner, zu morgengrauer Stunde über beide lästerte. Ich erinnere mich an einen Konzertabend im Wiener Musikverein im Februar 1972, an dem Elfriede Ott, die Lebensgefährtin des frühen Kreisler-Bewunderers Hans Weigel, drei Kreisler-Lieder sang und den zuhörenden Meister in der Loge mit den Worten begrüßte: „Das ist unser Nestroy!“ Ob sich Kreisler geschmeichelt fühlte, weiß ich nicht. Aber Nestroys melodiösen Sprachduktus höre ich aus seinen Liedern, so böse, so makaber und sarkastisch sie sein mögen, immer wieder heraus.
"Ich singe Lieder in die blauwattierte Ferne.
Ich hänge Klagen an die pausenlose Zeit.
So hebt ein jeder seine winzige Laterne,
und ich lerne,
nur das Lied bleibt und die Hoffnungslosigkeit.
Denn seh´n Sie, so ist das Leben.
Und dieser Schaden lässt sich schwer beheben.
Andere singen ebenso – sicherlich, aber zu leise für mich.
Gedanken für den Tag 12.7.2022
Das Jahr 1938 war ein besonders ungutes für Juden in Österreich. “Ich musste Jude üben statt Klavier“, schreibt Kreisler in seinem Buch.
Als Sechzehnjähriger kann Georg Kreisler mit seinen Eltern vor den Nationalsozialisten nach Kalifornien fliehen. „Die Optimisten endeten in Auschwitz, die Pessimisten in Beverly Hills“, reflektiert Kreisler selbstironisch. Ein Cousin in Hollywood hilft ihm, Kreisler erlernt die englische Sprache, finanziert als Barpianist den Lebensunterhalt, auch den seiner Eltern, verkehrt in Exil-Künstlerkreisen, lernt Schönberg, Eisler und die Dietrich kennen, an die er sich als Kekse backende Hausfrau erinnert.
Als Zwanzigjähriger wird er als US-Soldat einer Spezialeinheit zugeteilt, die auf Verhöre von deutschen Kriegsgefangenen trainiert wird. Einer seiner Kameraden war der spätere Opernführer der Nation Marcel Prawy. In diesem nach einem ehemaligen US-Gouverneur benannten Camp Ritchie wurden Soldaten ausgebildet, den Feind mit nichtmilitärischen Mitteln zu bekämpfen. Die US-Militärs waren zur Einsicht gelangt, dass psychologische Kriegsführung ebenso wichtig ist wie militärische Erfolge auf dem Schlachtfeld. Dafür waren die deutschsprechenden jungen Exilanten bestens geeignete Rekruten. Als Verhörspezialist spricht Kreisler nach Kriegsende mit Nazi-Größen wie Göring, Kaltenbrunner und dem berüchtigten antisemitischen Hetzer Julius Streicher. Seine Begegnung mit Streicher ist so makaber, dass sie nicht einmal von einem Kreisler hätte erfunden werden können. Der ehemalige Stürmer-Herausgeber sagte dem vernehmenden US-Soldaten Kreisler zum Abschied: „Sie waren ja nett zu mir. Aber die Juden haben mir sehr zugesetzt.“
Ein Schicksalsgenosse Kreislers, George Tabori, hat einmal geschrieben, „die Wunde versteht das Messer“. Und ich möchte ergänzen: aber das Messer versteht die Wunde nicht. Das Unsagbare der Shoa, die Landschaften des Todes, die Ausgrenzung der Erinnerung verdichtet Kreisler in vier Zeilen: "Bayern, Hessen, Schleswig-Holstein /Bockwurst, Bier und Brüder Grimm// Mandelbaum und Kohn und Goldstein/ Schlummern tief in Oswiecim."
Die Rückkehr nach Wien, wo er in den 1950er Jahren dann Karriere machte, war für Kreisler keine Heimkehr. Er wagte es lange nicht, die Wohnung aufzusuchen, aus der er mit seiner Familie vertrieben worden war. In den Wohnungen und Geschäften der Vertriebenen und Ermordeten hatten es sich die Täter und Arisierer gemütlich gemacht.
„Und ich grüße ebenso den Frisörgehilfen Navratil/
Der auch in der SS war – oder war es die SA?/
Einmal hat er angedeutet, während er mir die Haare schnitt/
Was damals in Dachau mit dem Rosenblatt geschah/
Er war erst zwanzig – zwölf Jahre jünger als der Rosenblatt/
Jetzt ist er fünfzig und ein sehr brauchbarer Frisör/
Grüß Gott, Herr Hauptmann! Der heißt nur Hauptmann/
Er war Oberst und hat in Frankreich einige zu Tode expediert/
Er ist noch immer Spediteur/ Es hat sich nichts geändert.“
Gedanken für den Tag 13.7.2022
Zeitlebens hätten ihn die düsteren Themen des Alltags angeregt, erklärte Georg Kreisler einmal. Seinen Ärger über die Gesellschaft und ihre Zustände brachte er in scharfzüngigen, oft bitterbösen Liedern und Texten zum Ausdruck. „Man schreib doch Böses, um das Gute zu bewirken. Es kann keine Rede davon sein, dass böse ist, wer so schreibt", so hat der Musiker, Schriftsteller, Poet und Kabarettist Georg Kreisler einmal selbst seine Position beschrieben.
"Die Wirklichkeit ist ein Märchen“, ein Kreisler-Satz, der mich an einen alten Kalenderspruch erinnert: „In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders.“
Was Wirklichkeit und Wahrheit anlangt, diese Frage hat Kreisler, so scheint es mir, ein Leben lang beschäftigt. Und er kam zum Schluss: „Es gibt viele Wirklichkeiten und nur eine Wahrheit. Unsere Wirklichkeit liegt in der Kunst, aber das kann man nicht beweisen.“ In diesem Sinne erinnert er mich an Heinrich von Kleist, der seiner Verlobten 1801 – also lange vor Kreisler – schrieb: „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es nur uns so scheint."
Ich bin kein Philosoph, aber als Journalist stelle ich mir die Frage bei der Interpretation der Nachrichtenlage im Zeitalter von Fake News, Deepfakes und der sogenannten Lügenpresse täglich. Halten wir das für wahr, was unserem Weltbild entspricht, was unsere Vorurteile bestärkt? Gibt es so etwas wie unumstößliche Fakten überhaupt? Nur weil etwas als wahr gilt, heißt es ja nicht, dass es für immer so sein muss. Solche Fragen sind allerdings Wasser auf den Mühlen aller Verschwörungstheoretiker. Die Mondlandung war ein Fake, Impfen macht unfruchtbar. Und an allem sollen natürlich die Juden schuld sein.
Auch Kreisler, der sich zu seinem Judentum immer bekannt hat, stellt sich in einem seiner vielen Bücher die Frage: "Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten?“ – Eine Lebensbilanz mit epikureisch-stoischer Einsicht, dass ja niemand wissen kann, wer er wahrhaftig wirklich ist. Aber Kreisler glaubte aus seiner Lebenserfahrung eines zu wissen: „Jeder Mensch ist ein Flüchtling. Wer Zuhause bleibt, flüchtet vor der Realität." Und ich würde im Sinne Kreislers ergänzen: Unter der Oberfläche der Wirklichkeit lauert das Unsagbare.
"Denn der Mensch will immer was beweisen/
Im Gegensatz zur Gans/
Doch er kann´s nicht und er wird entgleisen/
Solang er glaubt, er kann´s/
In der Wirklichkeit gibt’s nie Beweise/
Denn die Wirklichkeit, die ist wahr./
Kommt mit mir auf eine wahre Reise/
Voller Traum und ohne Kommentar/
In der Wirklichkeit sind die Träume/
Die kein Physiker je beschreibt/
Kommt mit mir in meine Zwischenräume, wo kein Mensch die Wahrheit übertreibt/
Kommt mit mir auf meine Purzelbäume, wo von Wissenschaft nichts übrig bleibt.”
Gedanken für den Tag 14.7.2022
„Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau – gehen wir Tauben vergiften im Park.“ Georg Kreisler wollte in seinen späten Jahren nicht mehr, wie er selbst einmal sagte, an dieses „dumme Lied“ erinnert werden, wenngleich es kommerziell vermutlich eines seiner erfolgreichsten war.
Diese Parodie des Wiener Gemüts, des angeblichen goldenen Wiener Herzens, das sich im März 38 als Mördergrube offenbarte. Der hinterhältige Sadismus, die grinsende Fratze der schmierig-selbstzufriedenen Gemütlichkeit. Das Böse im Walzertakt, die Heurigenseligkeit als Totentanz. Zeitlos besungen auf seinen wichtigsten Schallplatten Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre, heute auf YouTube jederzeit abrufbar.
Friedrich Holländer, einst Kreislers Schwiegervater, schrieb einmal: „Clown, du hast deine Stellung verloren/ Sieh dich nach einer anderen um/ Zogst die Politik lang genug an den Ohren/ Dummer August, sei nicht länger dumm.“ Auch Kreisler wollte nicht der dumme August sein. Er wollte als Schriftsteller und Komponist ernst genommen werden. Mit seiner Oper „Der Aufstand der Schmetterlinge“ versucht er 2000 noch einmal einen künstlerischen Neuanfang. Den erhofften Erfolg hat er damit nicht.
Er wird wohl immer mit Kabarett-Texten und mit seinen bitterbösen Liedern in Erinnerung bleiben, die ihn – wenn er selbst es auch nicht so sah – als großen Denker ausweisen. Nur ein Beispiel aus seinem Gedichtband „Zwei alte Tanten tanzen Tango“: „Gar nichts ist schon längst verklungen/ Und was ich bis jetzt gesungen/ Multiplizier ich mit gar nichts/ Und lösche dadurch alles aus./ Ich hab nichts, verdien nichts und spar nichts/ Und geh dann befriedigt nach Haus/ Dort sitz ich und erleb nichts und erfahr nichts/ Außer natürlich gar nichts.“ Georg Kreisler, der Taubenvergifter, ein Chronist der Verlogenheit unserer Gesellschaft.
„Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau/
Gehn wir Tauben vergiften im Park/
Die Bäume sind grün und der Himmel ist blau/
Gehen wir Tauben vergiften im Park/
Wir sitzen zusamm´ in der Laube/
und ein jeder vergiftet a Taube/
Der Frühling, der dringt bis ins innerste Mark/
Beim Taubenvergiften im Park. Nimm für uns was zum naschen /
In der anderen Taschen /
Gehn wir Tauben vergiften im Park“
Gedanken für den Tag 15.7.2022
„Die Gerechtigkeit besteht darin, dass es keine gibt.“, bilanziert ein verbitterter Georg Kreisler seine Lebenserfahrungen. Zu seiner Geburtsstadt Wien hatte er zeitlebens ein gespanntes Verhältnis:
„Wien, die einzige Stadt, in der ich geboren bin.diese Stadt hat nie einen Finger für mich gerührt“, klagte er einmal. „In Wien starb ich den Heldentod / Ich wollte nicht mehr stinken/ Man sprach ein letztes Zuckerbrot / Und ließ die Peitsche sinken // Es lächelte der Stephansturm / Bis in mein Grab hinein / Und rief: Wohlan, du Wiener Wurm, nun kannst du glücklich sein// Und wenn ein Wiener Patriot/ Sich jetzt bei mir beschwert / Dann sag ich: Stirb den Heldentod / Der hat sich sehr bewährt //.“
Und auch mit dem Staat Österreich, dessen offizielle Vertreter sich nach Kreislers Tod mit Ehrerbietungen überboten, kamen nicht auf die Idee, dem Vertriebenen zu Lebzeiten die Staatsbürgerschaft zurückzugeben. Konsequent verbat sich Kreisler daher in seinen letzten Lebensjahren jede offizielle Ehrung durch den österreichischen Staat. Der ätzende Zeithistoriker, der scharfe Beobachter mit dem zynisch-provokanten Humor wurde mit zunehmendem Alter immer radikaler in seinen politischen Ansichten. „Es hat keinen Sinn mehr, Lieder zu machen / Statt die Verantwortlichen niederzumachen.“ Texte wie dieser trugen ihm auch den Vorwurf ein, ein „Troubadour des Terrors“ zu sein, wie etwa sein lebenslanger Gegenspieler Gerhard Bronner formulierte.
Kreisler, der misstrauische Gegner von Lügen und Halbwahrheiten, verstand sich als Anarchist: „Anarchismus ist keine Macht für Niemanden“, gab er zu bedenken und präzisierte seine Auffassung wenige Jahre vor seinem Tod im November 2011 in einem Zeitungsinterview. „Ich glaube, jeder Künstler ist Anarchist, sonst ist er kein Künstler. Das hat nichts mit Bombenwerfen zu tun, sondern mit dem Glauben an Gewaltlosigkeit, Abschaffung von Herrschaft und Macht, Eigentumsmöglichkeiten für alle und die Förderung individueller Eigenarten. Als Künstler darf man eine Utopie nicht über Bord werfen. Als Politiker muss man das sogar."
"Ein Politiker hat seine Macht./
Ist er rege /
Geht die Macht bald eig’ne Wege,/
Und beherrscht ihn selber, ehe er’s gedacht./
Durch Verschlingung/
Wird sie schließlich zur Bedingung,/
Ihr stetes Wachstum wird sein Lebensunterhalt./
Ein Politiker hat keine Liebe,/
Ein Politiker hat nur Gewalt. //
Ein Politiker muss isoliert sein/
Lass ihn tanzen dort am Rande des Vesuvs/
Denn Gefühle stören immer seine Kühle/
Das ist nichts als eine Folge des Berufs/
Du geh der Liebe nach/ Genieße deine Triebe/
Alles andere wäre unverantwortlich/
Ein Politiker hat keine Liebe/
Ein Politiker hat dich und mich.“
Gedanken für den Tag 16.7.2022
Ausklang einer Woche mit Georg Kreislers Gedanken: „Der Tod, das muss ein Wiener sein“. Oder wie Kreisler, der Lebensphilosoph, an anderer Stelle schreibt: „Das Leben überfordert den Menschen, der Tod nicht.“ Ein Satz, der mir während meiner Arbeit als Reporter in Kriegs- und Katastrophengebieten immer wieder in den Sinn kam. Die Konfrontation mit dem Sterben, mit dem Tod mir Unbekannter in Leichenschauhäusern auf Kriegsschauplätzen, lässt mich zweifeln, ob der Tod, wie Kreisler ihn besingt, ein Wiener sein muss. Er ist es gewiss nicht in der Ukraine, in Afghanistan, in Syrien. Er ist der große Gleichmacher, wie ihn zwei Autoren der Antike wahrnehmen, die ich – Zufall oder nicht – gleichzeitig mit einem Gedichtband Kreislers als Fünfzehnjähriger zum ersten Mal las. Epikur und Horaz. Zwei Sätze über das Sterben von zwei Autoren, die mich immer wieder zum Nachdenken bringen: „Solange wir existieren, ist der Tod nicht da. Und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“- Ein Satz des Epikur. „Der Tod ist das Ende aller Dinge, die letzte Trennlinie der Realität und Wahrheit“. – Ein Satz von Horaz.
Kreisler, der Epikuräer und Stoiker, lässt uns in seinen Texten und Liedern ja im Unklaren, ob mit dem Körper auch die Seele stirbt oder diese unsterblich bleibt. Sein Begräbnis war frei von religiösen Zeremonien. Irgendwie hatte er es aber doch auch mit der Religion: „Zu leugnen, dass es einen Gott gibt, ist vor allem unglaublich arrogant, denn es bedeutet, dass alles, was über unseren Horizont geht, nicht existiert. Nun gibt es auch Spinozas Gott, also einen Gott, der alles geschaffen hat und dann weggegangen ist. Aber dem widerspricht unter anderem die Kunst, denn für Künstler ist der Glaube an einen präsenten Gott eine Selbstverständlichkeit."
Also heißt es, von Kreisler lernen – von diesem wortschöpferischen, fabelhaften Pianisten, von diesem einzigartigen Sprach-Jongleur zwischen makabrem Witz und sinnvollem Unsinn. Auch das Untragbare ist erträglich, das Unverständliche verständlich und das letztlich Unfassbare fassbar, wenn es im Walzerklang auf uns zukommt.
"Der Tod das muss ein Wiener sein/
genau wie die Lieb a Französin/
Denn wer bringt dich pünktlich zur Himmelstür/
Ja, da hat nua a Wiener das Gspür dafür/
Der Tod, das muss ein Wiener sein/
Nur er trifft den richtigen Ton/
Geh Schatzerl, geh Katzerl, was sperrst dich denn ein/
Der Tod muss ein Weana sein/
geh Mopperl, du Tschopperl, na komm brav mit´n Freund Hein./
Na kumm schon/ Der Tod muss ein Wiener sein.“
PS: Die aus Polen stammende Lyrikerin Tamar Radzyner hat mit Georg Kreisler zusammengearbeitet. Georg Kreisler: "Vor vielen Jahren gab es eine österreichische Rundfunkserie, die "Das unbekannte Chanson" hieß, und bei der das Publikum eingeladen wurde, Liedertexte zu liefern, die, wenn brauchbar, professionell vertont und gesendet werden. Mir wurde die Aufgabe zuteil, die von Amateurdichtern eingesandten Texte zu prüfen und in den Papierkorb zu werfen. Denn es gab so gut wie nie empfehlenswerte Texte, nur Wäschekörbe mit kitschigen, faden Ergüssen armer, frustrierter Menschen. Gelegentlich fand man kleine Lichtblicke, also Texte, die man bearbeiten und irgendwie hinbiegen konnte, und ein einziges Mal erlebte ich die Entdeckung einer Dichterin. Sie hieß Tamar Radzyner."
THE SCAVENGERS
JULIA CALFEE
We are all scavengers shifting through the garbage dump, waiting for the trucks to empty the leftovers of the world, hunting for some forgotten treasure we can call our own. Our garbage dumps are disguised, but in the municipal dump of Kuala Lumpur - Malaysia it is all out in the open. Accumulating in the 105 degrees humid heat are hills and hills of trash. This mass of recjects ferments and strange gases bubble up, mixing with the juices of discarded meat and rotten tropical fruit. These gently shaped hills, covering perhaps 10 square miles, are inhabited their home. Furnished on the spot - a sofa with the springs popping up, a radio which doesn't work, a bent parasol, a folding chair, some kid's leftover - stuffed pink elphant. Sunday they go fishing on a huge chunk of styrofoam in a lake, filled constantly by the sewers of Kuala Lumpur. Sometimes they wash themselves and their clothes in the sewer lake as well. On a bad day the police come and they flee their shelters deep into the highest hills of garbage where the stench is overwhelming, the flies thick and ooze up to their thighs.
Day after day I come back sliding around in this sea of debris with my camera. I am greeted with smiles, asked to sit down on a folding chair and shown the finds of the day. A small ring with no stone left, an imitation Chanel bag, shoes, even a watch, newspapers, wrapping paper, piles of paper of all sorts, piously washed sheet by sheet to be 'recycled' elsewhere. Meanwhile the skyscrapers under construction grow taller. Under these growing shadows they explain: "We are the saviors of the world. We are the finders of what is precious before all is buried. We are the ultimate archivists."
On my last evening there the lights were already on in the city, everything else was white and grey in the evening mist. The exitement of finding treasures had died down as the garbage trucks headed slowly down the hill. The foreman came up to me. "Thank you. For you have given these people importance. No one has ever come here before to photograph them. Now they are proud. "Shortly afterwards the police came. The scavengers fled silently into the grey mist; I also fled.
The dump is no longer there I have heard, the hills are now flattenend by expensive apartment builidings and grass covered courtyards. Mercedes drive up the asphalt roads.
The scavengers have been replaced.
Photos and text, ©Julia Calfee, 2000
Thank you Julia!
Die Ukrainer wissen ihr eigenes Leben und das Leben anderer zu schätzen
Ein Gespräch von Roman Krawez mit Taras Prochasko, 28.4.2022
Übersetzt von Christian Weise
Taras Prochasko ist einer der populärsten zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller. Er ist ein Symbol des heutigen Iwano-Frankiwsk. Einer Stadt in der Westukraine, die zu einem Zufluchtsort für Zehntausende Binnenvertriebener geworden ist.
In einem Interview mit Ukrajinska Prawda denkt Prochasko nach, wie der Krieg seine Heimatstadt verändert, erklärt, wie sich Ukrainer von Russen unterscheiden, warum wir auf den Tod von Wladimir Putin warten müssen, und argumentiert, dass eine Diktatur in der Ukraine unmöglich ist.
Foto Christian Weise, Les Kurbas-Theater, September 2018
"Die Menschen, die gerade in Frankiwsk angekommen sind, haben die Atmosphäre der Stadt verändert"
Wenn man das so sagen kann, lebt die Westukraine in einem Spagat – zwischen Frieden und Krieg. Wie können Sie den Stand der Dinge jetzt in Iwano-Frankiwsk beschreiben?
Frankiwsk ist sehr reich an verschiedenen Empfindungen. Von hier kommen viele mobilisierte Soldate, ein bedeutender Teil der Armee stammt von hier.
Auf der anderen Seite sind unheimlich viele neue Leute gekommen, die plötzlich die Atmosphäre der Stadt veränderten, und es wurde irgendwie unglaublich, ich würde sogar sagen bezaubernd. Und darin liegt auch Mitgefühl, Empathie, dass wir diese Menschen gerade akzeptieren können.
Es gibt hier Schichten vieler Empfindungen. Schließlich gibt es so etwas Wichtiges wie die Tatsache, dass Galizien, wie Sie sagen, in einer gewissen Zwickmühle steckt. Denn einerseits ist sie Trägerin der Idee der Einheit der Ukraine. Andererseits ist sie Trägerin eines gewissen eigenen Ideals, wie die Ukraine sein sollte.
Hier ist so eine sehr subtile, sinnliche Sache. Wir befinden uns im Krieg, wir kämpfen, wir verteidigen eine geeinte Ukraine, aber ist sie so, wie wir sie wollen? Manche Leute hatten das Gefühl, ja, wir werden unsere Seele und unseren Körper hinter diese Idee stellen. Und manche hatten das Gefühl, dass dies nicht wirklich die Ukraine ist, die wir uns vorgestellt haben. So war das lange Zeit.
Und jetzt ist die Zeit gekommen, in der klar wurde, dass die Ukraine, was auch immer sie in Wirklichkeit sein mag, und was auch immer ihre Beziehung zu der erträumten, idealen Ukraine sein mag, dass sie der einzige Ort auf der Welt ist, der die Existenz der ukrainischen Nation, des ukrainischen Volks, gewährleistet und garantiert,
Ich erinnere mich an die seit 30 Jahren vorherrschende permanente Stimmung, dass es nicht so ist, dass irgendetwas nicht stimmt, dass es besser werden muss. Und dann kam der Moment des echten Gefühls, dass es keinen anderen Ort, kein anderes Ökotop, keine andere ökologische Nische für uns gibt. Und dass wir unser Land bewahren und beschützen müssen.
Was hat sich in Iwano-Frankiwsk seit dem 24. Februar geändert?
Es gibt viele Leute, die nicht von hier sind, "Zugereiste". Vergleichen, sagen wir, es mit Vichy – der Hauptstadt des von Deutschen nicht eingenommenen Frankreich, wohin viele Menschen geflohen waren, und das war so ein Ferienort.
Solche Vergleiche tauchten vor allem bei sonnigem Wetter auf: Blumenverkäufer, Straßenmusik, Unterhaltung. Und auf der 400-Meter-Promenade, auf den sogenannten „Hundert“ von Frankiwsk, spazieren all diese Leute, die gekommen sind, sich an den neuen Ort zu gewöhnen.
Und das war nur eine neue Nuance von Frankiwsk.
Es gibt mehrere Kategorien von Menschen, die nach Frankiwsk kamen. Einige kamen zuvor, vor allen Gefahren – sie sind abgesichert, haben hier Wohnungen gefunden. Viele Menschen gingen nach Bukowel. Aber es gibt viele Menschen, die schreckliche Erlebnisse hinter sich gelassen haben, als all diese schlimmen Dinge um Kyjiw und Charkiw begannen.
Diese Leute haben bereits die Bombardierung erlebt und die russischen Truppen in der Nähe erlebt und so weiter. Und sie sind nicht betucht. Sie kamen hierher und fanden Ruhe.
Hier sieht es wirklich wie eine Art Paradies aus, in dem man in Frieden leben kann. Hier haben sie sogar aufgehört auf die Sirenen des Luftalarms zu achten. Und das sind komische, einfach paradoxe Situationen, wenn Lebensmittelsupermärkte bei Luftalarm nicht funktionieren, aber die Leute auf der Treppe vor dem Supermarkt stehen und darauf warten, dass er öffnet.
Das heißt, sie gehen nirgendwohin, in keine Notunterkünfte, rennen nirgendwohin, und es sieht aus wie eine Art Liebe in Zeiten der Cholera oder manchmal in Zeiten der Pest.
„Der Moskauer macht wieder einmal, was er will“
Kommen wir zu umfassenderen Themen. Putin sagt öffentlich, die Ukraine sei ein „erfundener Staat“, Lenin habe ihn geschaffen, und anderen Unsinn. Was für eine Welt will der russische Präsident bauen?
Putin ist nicht originell, das ist eine sehr alte russische Legende. Er baut eine maximale Präsenz in jenen Ländern auf, die nach einigen alten Vorstellungen als Russlands Einflusssphäre gelten.
Putin hat diese alte Idee einfach zum Leben erweckt. Nach ungefähr solchen Ideen lebt er.
Wie hat es Putin Ihrer Meinung nach geschafft, sein Volk in eine stille „Herde“ zu verwandeln?
Ich möchte eine jüdische Antwort in Form einer Frage geben: Aber wann gab es dort keine „Herde“?
Das heißt, ich will nicht sagen, dass alle Russen zu irgendeiner „Herde“ gehören, aber…
Aber 71 Prozent unterstützen den Krieg.
Es war nie anders. Wir erinnern uns daran, was im Kaukasus im 19. Jahrhundert geschehen ist, an Suworow oder Warschau, oder die kurzzeitige russische Besetzung Galiziens, die Besetzung von Lemberg 1914-1915. Jahr. Das heißt, sie waren immer so. Und ich denke, das zu verstehen ist eine sehr wichtige Sache.
Das ist nicht aus dem Nichts aufgetaucht, das ist kein Wunder. Und dieser russische Stil, einschließlich des Verhaltens der Besatzer, der Rhetorik ihrer Führer, die mit der Ideologie einiger Hierarchen orthodoxer und russischer Intellektueller und Philosophen verflochten ist, das alles dauert lange.
Ich bin also überhaupt nicht schockiert über das, was passiert ist. Es musste so kommen.
Was meinen Sie damit?
Diesen Krieg.
Warum musste er sein?“
Weil dies die Haltung Russlands zur Ukraine ist. Und diese Wellen, wie russische Schriftsteller sagen, „momentaner Schwäche“, wo die Russen sich entspannten und mit sich selbst beschäftigt waren, sie sind vorüber. Und es gibt immer diese Welle der Expansion, der Aggression.
Sie haben selbst die Zeiten der Besetzung Galiziens erwähnt. Nehmen Sie jetzt eine mögliche russische Besetzung Galiziens an?
Nein, ich glaube nicht, dass das passieren kann. Bis hin zur Besetzung - nein. Obwohl viel davon abhängt, was in der gesamten Ukraine passiert. Die Situation in Mariupol, wie viele Menschen dort starben, wie sehr Charkiw zerstört wird ... Der Moskauer macht wieder einmal, was er will.
Und es ist schrecklich, sich einzugestehen, dass er tatsächlich tun kann, was er will. Er kann Dinge tun, die niemand annimmt oder anerkennt …
Und was mir an Galizien am meisten Angst macht, ist, dass ich weiß, dass die Russen schreckliche Bedingungen durchstehen können. Wo alle westlichen Ökonomen und Analysten sagen, dass sie in Schwierigkeiten sind, da können sie immer noch unter solchen Bedingungen leben.
Die Russen haben viele Male übermenschlichen Druck ertragen. Man nennt das: „Was für einen Deutschen der Tod ist, ist für einen Russen gut.“
Sie sind imstande, extreme Niveaus von Bedrückung auszuhalten und können dann gehen, gehen, gehen und fallen, fallen, fallen. Und deshalb können sie noch sehr lange mit ihrer erodierten, verstümmelten, erschöpften Kraft der Ukraine Schläge versetzen.
Viele Menschen hoffen jetzt, dass die Ukraine nach Putins Tod normal leben kann. Kann Putins Tod die Lage in Russland verändern?
Ja, er kann sie ändern. Denn in Russland war schon immer alles schrecklich verknüpft mit dem Führer oder Diktator. Die gesamte russische Geschichte bestätigt, dass jeder Tod des Diktators die Situation in irgendeiner Weise verändert.
Es reicht als letztes Stalins Tod zu erwähnen. Er war in jeder Hinsicht furchtbar wichtig, sowohl im Ausland als auch im Inland. Und, nicht überraschend, spiegelte sich dies sogar im Regime, im Gulag wider.
Wenn sie verstehen, dass Stalin nicht mehr ist, dass es keinen Dschingis Khan oder, wie er genannt wird, Tamerlan, als ihren obersten Mann gibt, dann beginnt sich jeder anders zu verhalten.
Also müssen wir auf Putins Tod warten? Macht das Sinn?
Ja. Das wird die Haltung des russischen Volkes zur ukrainischen Frage nicht ändern. Aber er wird in jedem Fall die taktischen Vorgehensweisen und ihre Entscheidungen verändern.
Es gab einen Mythos, dass Ukrainer und Russen „Brudervölker“ seien, der jetzt eindeutig entlarvt wurde. Wie unterscheiden sich Ihrer Meinung nach Russen von Ukrainern im Allgemeinen?
Auf eins reduziert, ist es die Einstellung zum Leben und seinem Wert.
Die Ukrainer schätzen verschiedene Lebensformen und all die Anker, die sie im Leben halten: Arbeit, Reichtum. Sogar das komische Salo (Speck), Wodka, gutes Essen, Arbeit, Ruhe, Kinder, ein sauberes Haus, eine Art Garten um das Haus.
Die Ukrainer wissen ihr Leben zu schätzen und dementsprechend haben wir die Fähigkeit, den Wert eines anderen Lebens zu verstehen. Wir füllen das Leben mit irgendeiner Aktivität, einem Sinn, etwas muss getan werden, etwas muss erreicht werden, etwas muss besser werden.
Bei den Russen gibt es etwas, worüber Turgenjew einmal geschrieben hat, wenn auch in einem etwas anderen Sinne – alles ist verf…kt, alle rundherum sind verf…kt, sowohl die Familie ist verf…kt als auch die Arbeit verf…kt. Das heißt, nichts ergibt für sie einen Sinn. [im Deutschen, wo anal geflucht wird, wäre die entsprechende Übersetzung des Fluchs vor allem der Abgehängten „am Chuj“: „für den Arsch“]
Es ist klar, dass ihnen einige Konsumgewohnheiten und so weiter anerzogen werden. Aber das ist mehr mit einem solchen östlichen Fatalismus verbunden, dass du nichts bedeutest.
Obwohl sie andererseits diese Gemeinschaft, diesen Kommunismus, diesen Kollektivismus immer geliebt haben, sind sie alle seit den Tagen der Horde an so etwas gebunden.
Aber es gibt keinen Wert eines Mechanismus, was sie Rädchen nannten, Menschen bedeuten nichts. Das heißt, das Leben ist eine Kopeke. So leben sie.
„Der Ukraine droht keine Militärdiktatur“
Glauben Sie, dass der Krieg im Allgemeinen lang sein wird?
Ich hoffe wirklich, dass die aktive Phase des Krieges bald endet. Aber ich fürchte, dass das Einfrieren und die Konfrontation, die in den letzten 8 Jahren der Fall waren, noch einige Zeit andauern. Länger als wir denken.
Und noch einmal, ich verstehe, dass selbst wenn der Krieg endet, Russlands Kapitulation nicht wirklich stattfinden wird.
Wir müssen das verstehen. Es kann zu einem vollständigen Abzug der Truppen aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine kommen. Aber Russland wird nichts passieren. Das heißt, wir werden es nicht besiegen. Und selbst unsere Militärdoktrin sieht jetzt keine Offensive im Ausland vor, wie es die Russen im Zweiten Weltkrieg machten, als sie nicht nur an die ehemaligen Grenzen der UdSSR vordrangen, sondern den Feind in seinem Lager besiegten.
Das heißt, in der Ukraine gibt es kein solches Verlangen, kein solches Konzept, keine solche Fähigkeit, keine solche Unterstützung.
Es wird keine vollständige Niederlage Russlands geben, daher ist ein neuer russisch-ukrainischer Konflikt einige Zeit nach unserem Sieg immer noch möglich.
Seit langem wird am Rande ernsthaft über ein mögliches Waffenstillstandsabkommen mit Russland gesprochen, was immer unwahrscheinlicher wird. Wird es nicht so sein, dass die Gesellschaft einen solchen Waffenstillstand nicht akzeptieren will, wenn ein solches Abkommen unterzeichnet wird?
Ich denke, dass die ukrainische Gesellschaft bald zwei Dinge klar verstehen wird. Das erste ist, dass wir, um den Krieg fortzusetzen, die Mobilisierung intensivieren müssen, zumindest um der Rotation willen. Das heißt, um den Krieg fortzusetzen, werden wirklich viele neue Leute gebraucht.
Und all diese Menschen, die jetzt Erfolg und Sieg erwarten, werden sehen, dass sie oder ihre Angehörigen in den Krieg verwickelt werden oder zumindest den Krieg vorbereiten.
Und zweitens denke ich, dass die ukrainische Gesellschaft bald die wirtschaftliche Last des Krieges spüren wird.
Bald wird spürbar sein, dass all dies enorme Mittel erfordert.
Wie verändert der Krieg die ukrainische Gesellschaft?
Der Krieg verändert jeden in vielerlei Hinsicht. Aber ein solcher Aspekt, den ich erwähnen möchte, ist, dass der ukrainische Nationalismus aufhört, ethnisch zu sein. Das heißt, während sich der ukrainische Nationalismus entwickelt und verstärkt, ändert sich auch die Vorstellung davon, wie die Nation sein sollte.
Bisher war nämlich das größte Problem der ukrainischen Nationalisten der Kampf um die Reinheit der Nation. Und hier wurde endlich zum ersten Mal seit langer Zeit der Kampf um die Existenz der ukrainischen Nation für ukrainische Nationalisten relevant. Und viele Kräfte wurden in diesen ukrainischen Nationalismus integriert, die bis dahin nicht unter den Begriff des Nationalismus fielen.
Das ist nun eine Veränderung. Und sie ist historisch sehr wichtig, weil auch, sagen wir mal, der französische oder der britische Nationalismus ein etwas breiteres Konzept liefert, als die Ideologen des ukrainischen Nationalismus behauptet haben.
Wie wird sich Ihrer Meinung nach die politische Elite verändern? Es gibt die Meinung, dass nach dem Sieg das Militär an die Macht kommen wird - ähnlich wie die Kombattanten 2014 ins Parlament eingezogen sind. Was denken Sie darüber?
Mir scheint, dass das ukrainische Militär bisher eine große Befriedigung und Selbstverwirklichung im militärischen Sinne erfahren hat. Und vielleicht fördert dies nicht politische Ambitionen.
Denn nie hatte das Militär in der Ukraine eine bessere berufliche Situation.
Und ich hoffe, dass das wirkliche Militär genug Verstand hat, um zwischen diesen Dingen zu unterscheiden und sich weiterhin in der Militarisierung der Ukraine und der Entwicklung der Armee zu verwirklichen.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Ukraine sich wie in Israel verhalten und ernsthaft eine dauerhafte Militärpräsenz aufbauen muss.
Aber selbst wenn es so kommt, dass das Militär in der Legislaturperiode präsent ist, denke ich, dass es nur vorübergehend sein wird.
Der Ukraine wird keine Militärdiktatur drohen.
Aber droht uns nicht durch den Krieg die Entstehung einer Diktatur im politischen Sinne?
Ich denke, dass in der Ukraine unter den jetzigen Umständen eine Diktatur nach dem Krieg unmöglich ist. Der Krieg ist deshalb ausgebrochen, weil die Ukrainer sich der Diktatur nicht ergeben haben.
Im Moment müssen wir die Freiheit, die Demokratie schätzen, die unserem Land innewohnt und sich entwickelt.
Was auch immer war, wir haben Freiheit. Und jetzt waren viele Menschen, die keine ethnischen Ukrainer waren, „Verbraucher“ russischer Kultur, mit der diktatorischen Realität Russlands konfrontiert wurden sie zu Bürgern der Ukraine. Sie haben erkannt, dass die Ukraine ein gutes Land ist, um hier zu leben. Weil es hier wirklich gut ist, und niemand hier sie gedemütigt hat, und überhaupt eine ganz andere Lebensqualität herrscht, im Gegensatz zu Russland.
Was empfehlen Sie Leuten zu lesen, die während des Krieges Zeit zum Lesen haben?
Ich empfehle, Klassiker zu lesen. Der Krieg hat das Leben aller so sehr verändert, dass man auch beim Lesen etwas verändern kann. Und für diejenigen, die noch nie etwas Antikes gelesen haben, würde ich raten, einfach Vergil, Horaz oder sogar Julius Caesar oder Plutarch zu lesen. Etwas sehr Altes, mit dem unsere Zivilisation begonnen hat.
Das zweite ist etwas aus dem 19. Jahrhundert (überlegt). Ich rate Ihnen, Thomas Manns „Doktor Faustus“ zu lesen.
Warum „Doktor Faustus?
Weil es um die Natur des Göttlichen und des Teuflischen geht. Und was sehr wichtig ist – es geht um die den Sinn, für den jeder von uns existiert.
Und was ganz wichtig ist: Dieser Roman wurde in den für den deutschen Staat schlimmsten Zeiten geschrieben, 1944 oder sogar 1945.
Und das dritte Buch, das ich empfehlen würde, ist einer der ukrainischen Dichter Ihrer eigenen Wahl.
Zum Beispiel kann man die Gedichte von Andruchowytsch lesen. Jetzt komme ich zu einem unpopulären Zitat aus Bykows Film „Erfahrene Hasen des Geschwaders“: „Alles ist vergänglich, aber die Musik ist ewig.“ Das gleiche gilt für die Poesie.
Sie dürfen es sich nicht erlauben, in einer Sache des Überlebens primitiv zu sein.
Quelle: Ukrajinska Prawda, 28. April 2022
Taras Prochasko, 1968 geboren, ist auf Deutsch zu lesen in dem 2009 bei Suhrkamp erschienen Band, Daraus lassen sich ein paar Geschichten machen (Übersetzung von Maria Weißenböck).
2020, im Jahr, als er den renommierten Schewtschenko-Preis erhielt, erschien in Kyjiw der ausführliche Interview-Band: Tetjana Teren, Erschaffung der Welt. Sieben Tage mit Taras Prochasko (Сотворіння світу. Сім днів із Тарасом Прохаськом). Kyjiw, Pabulum, 2020.
Regelmäßig erscheinen seine Beiträge in der ukrainischen Online-Kulturzeitschrift „Zbruc“.
Oksana Zabuzhko, Оксана Забужко
We have not learned too much from history
8.3.2022 European Parliamant
Dear President, dear Members, dear friends, I cannot be more appreciative for this invitation and for this unique opportunity to speak here on Women’s Rights Day at probably the darkest hour in Europe since 1939.
For most of my literary career, I’ve been speaking for women and in the name of women. In my writings I have aimed to give voice to the experiences of women subjected to violence, to those living and dead whose feelings, ideas or accomplishments were ignored, devalued or simply forgotten. I’ve spoken for women’s rights to be free from discrimination and gender inequality, for their right to live in accordance with their own wishes and preferences. This, however, is the first time that I have to stand up for a woman’s right to life itself.
Ukrainians are a strong nation. This appears to have surprised many in the West. Yet were it not so we would not have survived Stalin’s genocide, the horrific man-made famine of 1933, notably still unrecognised by most of the countries represented here.
And we are a nation of strong women too. Along with the rest of the world, I cannot but admire, with tears in my eyes, my fellow countrywomen now fighting right alongside our men. They have joined the army and the civil territorial defence forces. They manage the distribution of supplies across our besieged cities, some of which, like Mariupol, stand on the verge of a humanitarian catastrophe now.
They give birth in bomb shelters supported and supervised by doctors online. Ukrainian doctors meanwhile have created Facebook pages offering instructions on how women over 37 weeks pregnant might safely deliver children in bomb shelters. An image that strikes me as almost biblical, as thousands of Marys hide with their newborns, evading Kind Herod in basements, subway stations and other stables.
Yes, we are strong and grateful for your support and your admiration. The problem is that Putin’s bombs will not be stopped by the strength of our spirit. And babies born in bomb shelters die of sepsis caused by the dust raining down on them during attacks, Mary’s stable was much more hygienic.
Since 24 February, when Russia launched its invasion, conceived as a blitzkrieg, only to be foiled by the ferocious determination of our military and mobilised civilians, one of history’s unshakable rules has been reconfirmed: in any ‘hot’ war women make the most vulnerable targets, if only because it’s women who remain to take care of those in need, of children and the elderly.
And it is precisely this living shield which Vladimir Putin now uses to break Ukraine’s heroic resistance. Having failed to take Kyiv, Putin began shelling residential areas, including elementary schools, nurseries and hospitals.
Let me take the liberty of stressing this: every moment of hesitation on the side of western policymakers and the NATO decision-makers about whether to provide Ukraine with anti-aircraft weapons, not to speak of the no-fly zone, every coffee break you are taking during your discussions about how to interfere without provoking Putin to go further, costs someone’s life. Most likely a civilian’s – a woman’s or a child’s.
After all, Putin said it quite openly back on 17 April 2014, in the first act of the current tragedy, which he called special military operation ‘Russian Spring’, and which then resulted in the annexation of Crimea and in creating two Russian-controlled military zones in Donbas, but was initially meant to accomplish much more.
That day eight years ago he openly announced that Russian troops in Donbas would be standing against the Ukrainian army, behind Ukrainian women and children. I quote literally, not in front of them, but behind, daring the Ukrainian army to shoot a living shield. A typical terrorist tactic. He was then so confident of his superiority, so sure that no one would dare stop him, that he did not even bother to lie out of contempt for his audience. Isn’t it amazing, ladies and gentlemen, that no one, outside of Ukraine maybe, took then his words seriously.
In May 2014, after Russian soldiers in Donbas had already begun slicing open people’s bellies and shooting at teenagers for carrying yellow and blue flags, I was speaking in Berlin at the European Writers Forum. And when in my speech I compared Putin to Hitler and Stalin, the moderator was so shocked that my microphone was turned off, and in the publication the comparison was censored.
Eight years passed. So many human lives could have been saved if only the EU and the US would have woken up eight years ago to the fact that they knew Hitler was ready to pick up where the previous one had left off. If the current package of sanctions had been applied to Russia back then, right after the annexation of Crimea, and evil called by its proper name and resisted, instead of being ignored and appeased, we would not be where we are now.
I know my ‘ifs’ sound similar to the litanies that writers and intellectuals who survived World War Two were proposing after the war ended. Yet for me it is also a sign that we – and by ‘we’ I mean all Western civilization, to which Ukraine, with its millennium long history, also belongs – that we have not learned too much from history.
Putin deliberately imitates Hitler. He even uses Hitler’s very language, referring to the ‘final solution of the Ukrainian question’ and barely disguising quotations from Hitler’s speech at the Reichstag on 1 September 1939: ‘I will not war against women and children. I have ordered my Air Force to restrict itself to attacks on military objectives.’ That’s from 1939, not from 2022.
Yes, ladies and gentlemen, it is the announcement of war. Vladimir Putin has done it in his tricky, perverted KGB language. But I am here to tell you, as a writer who does know something about language and how easily its power can be misused, that it is already a world war, not a ‘conflict in Ukraine’ as it is still described in many Western media. And that you better trust Mr Putin when he pronounces his ambitions.
He has already claimed back the former Soviet bloc, which is what he really means by demanding that NATO pull back from eastern Europe, and he won’t stop unless he is stopped by an international front of all those nations which still believe that freedom and human solidarity are worth more than gas and oil.
Ladies and gentlemen, you have all seen videos of how Ukrainian civilians, men and women, stop Russian tanks with bare hands and loud curses. Here lies the secret of our heroism. We are not afraid of Russia. Of all the nations in Europe, we know that what Putin has for decades been selling to the West as the true story, his nuclear blackmailing included, is nothing but a pack of lies, illusion and bluff.
We know this because we do have our share in the past three hundred years of Russian imperial greatness, and by no means a minor one. That is why of all the nations, it is Ukraine that has found herself at the forefront of this war. Without us, there can be no Russian empire, no evil empire, ladies and gentlemen – that used to be a good term, after all.
First, there was Austria, then Czechoslovakia, then Poland, then Europe. First it was Georgia, then Belarus, then Ukraine, afterwards Europe.
While I was writing this, my niece and her two children, one eight years old, the other eight months old, were driving from Kyiv to western Ukraine at a speed of 200 kilometres in 10 hours. The women of Ukraine are fleeing en masse from the Russian bombs threatening their homes, while Ukrainian men stay to fight as long as it’s needed, to free Europe from the spectre of the new totalitarianism.
They all know their job, both men and women. Please, don’t be afraid to protect the sky above them.
Tuesday, 8 March 2022 - Strasbourg
08.03.2022
6.3.2022 My friend Semyon Gluzman is in his apartment in Kyiv, waiting for the Russians to come. He is not leaving, because ten years of camp and exile in the Soviet Union was enough – he is free at his home and no Russian invaders can change that.
Yet he faces the terrible feeling of having been pulled into a war imposed by a madman, in which there are only losers. Even when Ukraine has won, it will have paid a huge price and have faced unimaginable human suffering.
The following he wrote several days ago, when the first Russian armor had entered his city and the sirens were calling citizens several times a day to hide in bomb shelters from attacks by the “brother nation”, Russia. Robert van Voren
LETTER TO A RUSSIAN FRIEND
©Semyon Gluzman
We met in prison. In a camp for political prisoners in the Urals. Relatively close to the place where Vladimir Putin lives today. Incredible fate going into the distant future… The Soviet regime kept and "re-educated" political prisoners in Russia. Only in Russia. Although our “educators” were not only Russians. Among them were also Ukrainians.
You were a naval officer, I was a doctor, it was an unexpected, unpredictable acquaintance. I remember vividly you, silent, preferring solitude, reading a lot. You rarely talked to me. You spoke more often with Vladlen Pavlenkov and Gosha Davidenko. I know you've served your entire sentence, all 15 years. Previously, you had told the sailors on the ship where you served the truth about the Soviet regime.
Later, after the camp, I wasn't looking for you. I knew that you had sincerely started believing and had become a priest somewhere in the Russian outback. You avoided politics and former camp fellows. Once in the camp, you saw "Letters to a German friend" by Albert Camus in my hands. It was a publication in Ukrainian in the magazine "Vsesvit". You asked me to read this text to you in Russian. You had heard about this heartfelt essay before. In the evenings, after work, I was slowly translating it for you. I don't remember how many evenings we were sitting next to each other on the stools. I was translating clumsily, very slowly.
From time to time, we made breaks. We discussed Camus' thoughts. About the war. To which you were professionally related. About resisting evil. About pacifism. As you said then, about the sin of pacifism, I remember those words of yours. Sometimes we talked until lights out.
We both knew then that we had no future. No real, bright, non-Soviet future. But we didn't want to talk about it. While reading Camus, we were not discussing the blood and odiousness of Nazism that had conquered France. We talked about something else – the causes of Soviet evil, Soviet tragedy. About the fate of an unknown Stalinist prisoner, our predecessor, who had left an inscription in a chemical pencil on the ceiling beam: "25 years of hard labor, 12 left, Maximov A. Gr." There had been a political camp of the Stalin era before us here.
How many years have passed. The USSR collapsed. Vladlen Pavlenkov went to America and committed suicide there. We ended up in different countries. Where the books of Albert Camus are easily accessible, but little read. I don't know if any of the Ukrainian presidents have read them… But the president of Russia has definitely not read them, I'm sure. If you were around, I would ask you a lot of things. But you're not around. Moreover, I do not know if you are alive.
In that vanished country that brought us together in prison, we were both strangers. Without any future. It is bitter to realize this, but I have been a stranger for decades in my new country, Ukraine, as well. Only now, in these bitter, bloody days of war with your country, I begin to experience other, warmer feelings. Because the former "hopak Ukrainians" (do you remember this bitter expression of Ivan Alekseevich Svitlychny?) are changing into Europeans who know how to protect their human dignity. It's night, I'm talking with you in my thoughts, and outside there are gunshots of the Ukrainian army shooting down Russian helicopters and drones. Your president wants to re-educate us, as Brezhnev tried to re-educate us with disciplinary cells and decomposing fish.
We often talked about Russia. And we didn’t accept the ideology of Igor Ogurtsov, who was serving his sentence with us, blinded by the hope of the revival of Great Russia. And here he is, a strange dreamer who has long gone to another world, embodied in Putin, your president. An amazing embodiment of the victim of the KGB, an honest, impractical and very lonely dreamer in a cynical, deceitful, poorly educated man who believes in the thoroughness of the logic of the bad philosopher Ilyin. In the worst of the KGB officers, the destroyer of Russia, Vladimir Putin.
Another shot outside. Our shot, we are resisting. I know we're going to win this war. At a terrible price, but we will win. Because the whole world is behind us. Putin has done the incredible: by hating and killing us, he pushed us into the arms of Europe.
At that time, in the camp, I told you about the famous remark of the writer Ilya Ehrenburg during the war: if you want to live, kill a German. You hadn't read Ehrenburg. But we started talking about something else: could a member of the French anti-Nazi resistance, Albert Camus, ever pronounce such words? You believed that each of us, who was at war with obvious evil, had the right to think and act like this. And I argued that Camus could not have been the author of such words.
Today, during the brutal war with Russia, I hear such words more and more often. Yes, we kill because they kill us. We Ukrainians are being killed in our country, on our territory, and we are obliged to respond in the same way. This is how resistance to Stalin's aggression was formed in Western Ukraine, Estonia, Lithuania and Latvia. In the camps next to us, the last of them were serving out their astronomical term of 25 years, remaining faithful to their simple, indisputable truth: a cruel enemy came to me, I have the right to resist.
Tell me, my friend, do you remember them? Those who lived in the Ural camp next to you? We were together then, we called it camp resistance. Today we are forced to kill your compatriots, perhaps young men from the families of your parishioners. I am sure that today you understand my truth, the truth of my country. But you are silent, you do not warn from the pulpit. This is a sin, the grave sin of passive complicity in murder.
Semyon Gluzman, Ukrainian psychiatrist and human rights activist
Überleben! Über das Leben ... in Freiheit
UKRAINE
Zusammenschau aus Berichten von Freundinnen, Bekannten und eigenen Erfahrungen
Was bewirken Wörter?
Sie werden benutzt als Mittel der Kommunikation und der Desinformation
Sie hinterfragen ... "Russischer Angriffskrieg", das ist meine Definition betreffend des Geschehens in der Ukraine seit 2013, nach dem Maidan, der Revolution der Würde. Die Ukraine verteidigt sich, sie verteidigt sich gegen die Russische Förderation.
Die Liste der von der Russischen Förderation geführten Kriegshandlungen seit 1991: Georgien, Transnistrien,Tadschikistan, Abchasien, Tschetschenien, Dagestan, Südossetien ,Nordkaukasus, Zentralafrikanische Republik, Ukraine, Krim ... Dank der Freundschaft mit dem Dissidenten, Dichter, Radioproduzenten Igor Pomerantsev wurden mir die Augen früh geöffnet, dass mit Putin die Diktatur in der Russischen Föderation von neuem etabliert wurde.
Milena Findeis 10.7.2023
25.3.2024 A series of explosions rocked Kyiv on March 25 as Russia launched yet another missile attack on Ukraine’s capital.
Kyiv Independent correspondents in the capital heard at least four loud explosions just seconds after air raid sirens sounded at around 10: 30 a.m. local time and saw smoke rising from the left bank of the city.'
In a post on Telegram, Kyiv’s military administration urged residents to take shelter “urgently.”
Serhii Popko, head of the Kyiv City Military Administration, said in a post on Telegram that debris from an intercepted missile had fallen in the city’s Pechersk district, damaging a non-residential building.
The building hit was the Kyiv State Academy of Decorative and Applied Arts, and the academy's gym and concert hall were destroyed, according to a Kyiv Independent reporter on the ground, citing the institution's employees. The Culture Ministry confirmed the academy was struck, adding that an employee was wounded.
by Chris York, The Kyiv Independent
22.3.2024 In the latest mass strike against Ukraine, Russia launched 31 missiles, two ballistic and 29 cruise ones, in the early morning of March 21, according to the Air Force. The attack mainly targeted Kyiv and the surrounding region. All the missiles were reportedly shot down. Four people suffered injuries due to falling missile remains in Kyiv Oblast, where over 60 houses, five apartment buildings, and two educational institutions were damaged, according to the regional administration.
Debris from the missiles also fell in several locations across Kyiv, wounding 13 people, including a child, as well as damaging homes, enterprises, and other infrastructure, the city authorities said.
by Dinara Khalilova, The Kyiv Independent
15.3.2024 Russian missile strike kills 20, injures 73 in Odesa: A Russian missile strike on Odesa killed 20 people on March 15, the State Emergency Service reported.
The victims include a paramedic and a first responder who arrived at the scene following the first explosion, according to Odesa Oblast Governor Oleh Kiper.
At least 73 people were injured to various degrees of severity as a result of the attack, the Interior Ministry said. The number of wounded reportedly included at least seven first responders, as well as an unspecified number of police officers.
Killed victims included Odesa's former deputy mayor, Serhii Tetiukhin, and Oleksandr Hostishchev, the commander of the police special forces battalion Tsunami, according to local council member Andrii Vagapov.
Rescuers immediately arrived at the scene of the impact and began extinguishing the fire, sorting out the debris, and searching for the injured, according to the State Emergency Service. During the operation, Russian forces struck the site again.
Several explosions were reported in the southern Ukrainian port city of Odesa between 11 and 11:20 a.m. local time, almost immediately after an air raid alert went off in the region.
by Kateryna Denisova and The Kyiv Independent news desk
6.3.2024 Russia launched a missile at Odesa during a visit of Greek Prime Minister Kyriakos Mitsotakis, President Volodymyr Zelensky told reporters on March 6.
The air raid alert sounded at around 10:40 a.m. local time."We saw this strike today. You see who we are dealing with, they don't care where they hit," Zelensky said, as cited by Suspilne, adding that there were dead and wounded following the strike. Kyiv Independent
24.2.2024
"Die Realität des Krieges
verschlingt die Satzzeichen
die fortlaufende Geschichte
die Zusammenhänge
verschlingt sie
als hätte ein Geschoss
die Sprache getroffen",
schrieb Viktoria Amelina in einem ihrer Gedichte
Der mörderische Krieg hat ihr Sprache und Leben genommen, und auch wir haben keine Worte mehr.
Gedenken wir ihrer!
Claudia Dathe
7.2.2024 Russia launched another large-scale attack against Ukrainian cities early in the morning on Feb. 7. Kyiv, Lviv, Mykolaiv, and Kharkiv oblasts were among those targeted, according to the latest information.Kyiv Independent
1.2.2024 The majority of Ukrainians have been personally affected by Russia’s all-out war. A survey released by the Kyiv International Institute of Sociology (KIIS) in June revealed that 78% of all Ukrainians have close friends or relatives who were wounded or killed since Feb. 24, 2022. Kate Tsurkan, Kyiv Independent
23.1.2024 Message from Max in Odesa: "5:46 am 12 strategic long range bombers Tupolev are up in the air. They are lined up by 6 planes in each group. Massive danger for each Ukrainian city and town."
Russia launched a series of missile strikes on Kyiv, Kharkiv, and Pavlohrad in the early morning of Jan. 23, causing damage to residential buildings, killing at least five people and injuring over 40, officials said. Kyiv Independent
17.1.2024 Message from Max in Odesa: "01:40 am-02:00 am. Kremlin drones are coming and coming. They are buzzing so close. 6:40 am. Explosion. They were launching missiles at Odesa. Friends are calling. They are shocked. Their windows and doors were shaking. Now their hands are shaking. They were crying, praying and screaming. People in Odesa in the area the whole block in the downtown near the university campus, university dorms. Residential buildings have only several black balconies after fire. There are no walls, no windows, no gas supply, no heating. There are four or more cars burnt down completely."
Russian attacks against Ukraine injured 23 people over the past 24 hours, regional authorities reported early on Jan.17th. Civilian casualties were reported in the cities of Odesa and Kharkiv, as well as in Kherson Oblast. In Odesa, a drone attack at around 2:15 a.m. local time injured three people and damaged residential buildings, Odesa Oblast Governor Oleh Kiper reported. Kyiv Independent
8.1.2024 Ukrainian poet and soldier Maksym Kryvtsov, 33, has been killed on the front line, the writers' association PEN Ukraine said in a statement on Jan. 7.
Kryvtsov was among the participants of the EuroMaidan Revolution — one of the most crucial events in modern Ukraine’s history that ended the ruling of pro-Kremlin President Viktor Yanukovych — in 2013-2014, PEN Ukraine reported.
He then joined Ukraine’s Armed Forces as a volunteer after Russia started the war in Ukraine’s Donbas.
In 2022, when Russia launched its full-scale invasion of Ukraine, Kryvtsov "returned to the front line, where he published his book 'Poems from the Loophole,'" PEN Ukraine wrote.
In late December, PEN Ukraine included the publication in its list of best Ukrainian books of 2023.
Kyiv Independent
21.11.2023 10 years later: EuroMaidan activists who went on to fight Russian invasion
The EuroMaidan Revolution united millions of Ukrainians in protest against a corrupt, authoritarian, pro-Russian regime.
Few could have guessed that this was just the beginning of Ukraine’s decade of struggle against mounting Russian subjugation attempts.
This Revolution of Dignity began after then-President Viktor Yanukovych abruptly refused to sign the long-awaited Association Agreement with the European Union in November 2013. People who had been expecting that signature came out to protest at Independence Square, or Maidan Nezalezhnosti, at the heart of Kyiv.
Many protesters were violently beaten by the Ukrainian riot police, Berkut. About 100 were gunned down, ever since eulogized as the Heavenly Hundred. The killings only fanned the flames of revolution until February 2014, when Yanukovych abandoned office and fled to Russia.
For the survivors, it would become the first battle out of many for the freedom of Ukraine, from the earliest Russian incursions in 2014 to the full-scale invasion of 2022.
Daria Shulzhenko, Kyiv Independent
7.11.23 Life on the frontline in Kherson: dodging shells, facing death and refusing to leave
Amid ceaseless bombardment, Kherson residents shop at the market, clean their homes, and document the horrors of war
by Tom Burgis in Kherson,The Guardian
On the Saturday, the Russians hit a school and a grain store.
On the Sunday, the ceaseless bombardment of Kherson from across the river struck a medical facility. An artillery round landed near a middle-aged man. The doctors did their best but the shrapnel had pierced his brain.
On the Monday, a bus, a library and a graveyard. On the Tuesday, a warehouse and two cars. The occupants of the car hit by a kamikaze drone were concussed. The other car caught fire when a shell smashed into it. After firefighters put out the flames, they found what remained of the owner inside.
On the Wednesday, a round landed just after breakfast in the middle of town, between a block of flats and a florist. Three council employees were walking along, the working day ahead of them. Shards from the blast wounded two. The third died on the kerbside. A blue plastic sheet was laid over her body. All around, glass from blown-out windows crunched underfoot.
6.11.2023 Bratislava announced the end of military aid to Ukraine on Oct. 26 following the election of the new Slovakian prime minister, Robert Fico. Fico based his campaign on strong anti-U.S. sentiments, promises to halt weapons shipments to Ukraine, and a commitment to block Kyiv’s NATO aspirations.
While Slovakia was not among the biggest donors of military aid to Ukraine, it did donate 13 MiG-29 warplanes and an S-300 air defense system, long before the U.S. opted to allow Ukraine to receive F-16s. After giving the warplanes to Ukraine, then-Slovakian Prime Minister Eduard Heger affirmed that the country was “on the right side of history.”
Now, Slovakia has chosen to align itself with the other side of history, which represents a breakthrough in Russia’s disinformation strategy and the placement of Russia’s second Trojan horse in Europe, alongside Hungary.
Leading up to the parliamentary election, Slovak President Zuzana Caputova warned in June that the country was likely to follow in Hungary’s footsteps in becoming an “EU problem child,” citing Russian disinformation as a leading factor in bringing a “Viktor Orban-type of foreign policy” to Slovakia.
Caputova’s predictions came true, highlighting a big win for Russia’s disinformation efforts and providing validation to Russian President Vladimir Putin’s war strategy.
David Kirichenko
17.10.2023 Meduzua: ‘I’ve lost everything’ Hroza residents mourn the 59 civilians killed in Russia’s missile strike on a soldier’s wake, in photos Emiliano Urbano.
11.10.2023 This year’s BookForum included 150 events across five locations in central Lviv from Oct. 4-8, and the festival organizers informed Suspilne Kultura that more than 20,000 people are estimated to have attended despite the ongoing threat of Russian missile and drone strikes. Kate Tsukan, The Kyiv Independent
5.10.2023 by Dinara Khalilova and The Kyiv Independent news desk "
The aftermath of Russia's attack against the village of Hroza, Kharkiv Oblast, on Oct. 5, 2023. (Oleh Syniehubov)
Russian troops struck a cafe in Kharkiv Oblast’s village of Hroza, killing at least 51 people, Governor Oleh Syniehubov reported on Oct. 5. The victims included a six-year-old boy.
Six people have been injured, including another child, Syniehubov said on Telegram, adding that all the victims were local civilians.
The attack occurred at around 1 p.m. local time, and the rescue operation lasted seven hours.
The oblast governor called the attack "the bloodiest crime committed by the Russians in Kharkiv Oblast since the start of the full-scale invasion." Syniehubov announced a three-day mourning period in the region on Oct. 6-8.
At the time of the attack, at least 60 people gathered in the local cafe for a memorial service for a deceased resident, Interior Minister Ihor Klymenko reported on national television, cited by Suspilne. The attack was likely carried out with an Iskander missile, Klymenko added.
Hroza is a small village in northeastern Ukraine that lies around 30 kilometers west of Kupiansk. The interior minister said that the population of Hroza was about 330 people, but a spokesman of the Kharkiv Oblast Prosecutor's Office later clarified that the real number of people living in the village just before the attack didn't exceed 100."The Russian army killed most residents of this village with one rocket," Dmytro Chubenko said on national TV, as cited by Hromadske Radio.Russia has been concentrating its forces around Kupiansk in Kharkiv Oblast since mid-July, trying to regain the positions lost during the Ukrainian surprise counteroffensive last autumn. The city was occupied by Russian forces from Feb. 27 to Sept. 10, 2022.
4.10.2023 Kate Tsurkan, Svitlana Oslavska and Anna Ilchenko embarked on a mission in 2020 to document Ukraine’s villages before they were lost to time and war.
Traversing across Ukraine’s vast landscape, the sisters started speaking to people from villages about topics as diverse as the best construction method of a house to their contemplations on life and death.
They select brief yet emotionally charged excerpts from their recorded conversations with locals to share on Facebook and Instagram under the title Old khata project. The word “khata” roughly means “cottage” in English, an apt description of the unique old architectural style of homes found in Ukrainian villages.
Ukraine’s rural population is shrinking yearly, with many people moving to larger cities or abroad for better prospects. Documenting these villages and the people who still call them home has been a way of preserving an important – yet slowly vanishing – part of Ukraine’s cultural legacy.
With Russia’s all-out war against Ukraine impacting many villages, the Old khata project also became a testimony to the Ukrainian people’s resilience.
The journalist-photographer duo has visited nearly 100 villages across Ukraine over the past three years, including villages in Luhansk Oblast that have since fallen under Russian occupation and now-destroyed villages in Kherson Oblast.
Kyiv Independent
Der russische Angriffskrieg auf die ganze Ukraine hat Europa in die schwerste Krise seit 1945 gestürzt. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Warum hat – insbesondere Deutschland – sich fast nur für Moskau interessiert und Vilnius, Tallinn, Riga, Warschau oder natürlich Kiew entweder kaum beachtet oder bewusst ignoriert. Gegen den Rat fast aller osteuropäischen Staaten haben wir eine verheerende Politik betrieben, die diesen Krieg begünstigte und die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten verursachte.
Der russische Angriffskrieg auf die ganze Ukraine hat Europa in die schwerste Krise seit 1945 gestürzt. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Warum hat – insbesondere Deutschland – sich fast nur für Moskau interessiert und Vilnius, Tallinn, Riga, Warschau oder natürlich Kiew entweder kaum beachtet oder bewusst ignoriert. Gegen den Rat fast aller osteuropäischen Staaten haben wir eine verheerende Politik betrieben, die diesen Krieg begünstigte und die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten verursachte.
Über Ursachen, die Vergangenheit, die Gegenwart und was dringend besser gemacht werden muss, sprechen alle 14 Tage:
Dr. Gustav Gressel war Soldat, jetzt ist er Experte für Osteuropa, Militärstrategien und Sicherheitspolitik beim European Council on Foreign Relations. Er hat sich sich beim Österreichischen Bundesheer mit Russland beschäftigt, kennt sich besonders gut mit dem russischen Militär aus. Seit 2009 bearbeitet Gressel auch die Ukraine.
Gabriele Woidelko ist Osteuropa-Historikerin und Slawistin und leitet bei der Körber-Stiftung in Hamburg den Bereich „Geschichte und Politik“, dessen Projekte sich mit Geschichtsvermittlung, Erinnerungskultur und den historischen Wurzeln aktueller Konflikte beschäftigen.
Prof. Jan Claas Behrends ist ebenfalls Osteuropa-Historiker, arbeitet an der Viadrina in Frankfurt an der Oder. Behrends ist Sozialdemokrat und eine von drei dissidenten Stimmen im Geschichtsforum seiner Partei, die eine Erklärung des Gremiums nach Ausbruch des Krieges kritisierten. Das Trio schrieb, dass manche Parteifreunde „die Trümmer ihrer Ostpolitik“ mehr bekümmerten als die „Bomben in der Ukraine“.
Dr. Franziska Davies. Auch sie ist Osteuropa-Historikerin, forscht an der LMU in München, beschäftigt sich insbesondere mit der Geschichte Russlands, der Ukraine und Polens im 19. und 20. Jahrhundert. Dieses Jahr ist das Buch „Offene Wunden Osteuropas – Reise zu den Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs“ erscheinen, das sie gemeinsam mit Katja Makhotina geschrieben hat.
10.9.2023 Andriy Lyubka and Oleksandr Mykhed speaking during the Meridian Czernowitz Literary Festival to a packed audience—during war, celebrating Ukrainian culture takes on even greater importance. Kate Tsurkan
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7.9.2023 ... Victory will be difficult, but it is the relevant concept. I don’t know any Ukrainians at this point who have not lost a friend or a family member in this war. My friends now tend to have a certain dark circle around the eyes and a tendency to look into the middle distance. And yet the level of determination is very, very high. In the few days I have been here there have been missile attacks in or near both cities where I spent the night, a murderous Russian strike on a market, and a Russian attempt to cut off Ukrainian grain exports with missiles and drones. This is daily life — but it is Ukrainian daily life, not ours. The Ukrainians are doing all of the fighting; we are doing part of the funding. What Ukrainian resistance protects, though, extends far beyond Ukraine.
The Ukrainians are defending the legal order established after the Second World War. They have performed the entire NATO mission of absorbing and reversing an attack by Russia with a tiny percentage of NATO military budgets and zero losses from NATO members. Ukrainians are making a war in the Pacific much less likely by demonstrating to China that offensive operations are harder than they seem. They have made nuclear war less likely by demonstrating that nuclear blackmail need not work. Ukraine is also fighting to restore its grain exports to Africa and Asia, where millions of people have been put at risk by Russia’s attack on the Ukrainian economy. Last but not least, Ukrainians are demonstrating that a democracy can defend itself.
Ukrainians are delivering to us kinds of security that we could not attain on our own. I fear that we are taking these security gains for granted. (In my more cynical moments, I fear that some of us, perhaps even some presidential candidates, resent the Ukrainians precisely for helping us so much.)
This war will not end because of one sudden event, but nor will it go on indefinitely. When and how it ends depends largely on us, on what we do, on how much we help. Even if we did not care at all about Ukrainians (and we should), getting this war to end with a Ukrainian victory would be by far the best thing Americans could do for themselves. Indeed, I do not think that, in the history of US foreign relations, there has ever been a chance to secure so much for Americans with so little effort by Americans. I do hope we take that chance.
4.9.2023 ... But life endures.
Bohdan, along with his comrades, artists, filmmakers, playwrights, and ordinary people—someone's children, parents, grandparents—are fighting against this regime, giving their bodies (in the most literal sense) to the cause. From head to toe. Who remembers their names or even their call signs?
I constantly think about what political art is today. And to me, it seems toothless. Because no artwork, even the most visceral, can compare to what these people are experiencing and what they are sacrificing so that others can create art.
Without exaggeration, these pillars support not only my life but the lives of millions—mine and yours.
We ask Bohdan if his leg hurts and if he can feel it. They give him painkillers, and he can move his legs–he feels everything. After the second week, he can’t resist and starts trying to walk—he wants to smoke on the balcony more than anything so as not to feel chained to his bed. His library is expanding, and he carries books to neighboring rooms.
I walk through the city as if all my strength has left my body as if my body has already died after returning, and I’ve come back to life to finish my tasks.
Nine years feel like nine lifetimes.
But how many more of those lifetimes do I have left? Every day is a deduction. When you return to Kyiv, you come to terms with the fact that you might not make it tomorrow.
I order chicken soup as if I have a cold.
What ails me? It's the country that aches, its territory. It has been aching for nine years now.
***
Kateryna Iakovlenko is the editor-in-chief of Suspilne Kultura.
Translated from the Ukrainian by Kate Tsurkan, Apofenie
Russia-Ukraine war at a glance: what we know on day 541 of the invasion
18.8.2023 Nato chief says only Ukraine can decide conditions for peace; US approves sending F-16 fighter jets to Kyiv
Guardian staff and agencies
- The head of Nato has said only Kyiv can decide conditions for peace talks with Russia following a territory row. Jens Stoltenberg’s comments came after his chief of staff suggested Ukraine could give up land as a condition of Nato membership. Stoltenberg said: “It is the Ukrainians, and only the Ukrainians, who can decide when there are conditions in place for negotiations, and who can decide at the negotiating table what is an acceptable solution.”
Prigozhin Is Dead. The Culture He Represented Lives On
29.8. TIMES Peter Pomerantsev For a moment it seemed that an actual gangster could take on a gangster state. Yevgeny Prigozhin, a Russian criminal who had served time and spoke in prison slang, thought he could compete with the suit and tie lawyers of Russia’s criminal regime. Just two months ago he was leading his army of mercenaries in a march on Moscow, challenging the authority of the army leadership, claiming he could wage Russia’s imperial, genocidal war against Ukraine better than they could, implicitly questioning Putin’s power. Now, Prigozhin and his lieutenants have been assassinated, their plane crashed outside of Moscow. The assumption is this is Putin’s revenge. But Prigozhin, or rather what he represents, have a larger victory that will outlive the man.
Prigozhin had been such a role model for your average Russian crim: he’d started in a Soviet prison cell for robbery and risen to a lifestyle of gold-plated riches and Kremlin access. Though he has been killed, the prison and gangster culture that Prigozhin is an expression of has consumed the state. A Soviet joke used to describe the gulag system of labour camps as the ‘little prison’ (Malaya Zona) and the Soviet Union as the ‘big prison’ (Bolshaya Zona)—now the small prison has swallowed the larger one.
Being a poet and a woman on the frontline - with Yaryna Chornohuz
4.8.2023 Yaryna Chornohuz is a Ukrainian poet who became a soldier to defend her homeland. She is a paramedic and a reconnaissance scout who went to the frontline before Russia’s full-scale invasion. Before her military experience, she was an activist organizing protests in support of the Ukrainian language and culture, and against capitulation to Russia. While on the frontline, she wrote two books of poetry, which had substantial resonance in Ukraine. Her profound poetry touches upon the topics of life and death, connection with those who are no longer alive, connection to the land, and Ukraine’s war experience today.
Host: Volodymyr Yermolenko, a Ukrainian philosopher and journalist, and chief editor of UkraineWorld.org.
Thinking in Dark Times is a podcast series by UkraineWorld. This series seeks to make Ukraine and the current Russian war against Ukraine a focal point of our joint reflection on the world’s present, past, and future. We try to see the light through and despite the current darkness.
UkraineWorld (ukraineworld.org) is brought to you by Internews Ukraine, one of the largest Ukrainian media NGOs.
27.7.2023
Hi Milena, terrorists attacked port again. Employees were killed by moscow monsters. They keep destroying harvest storage, cargo facilities and killing people. There were 3 attacks during the day on Wednesday. 3 hours of terror in the evening of yesterday they launched at Ukraine 40 missiles.
— The Kyiv Independent (@KyivIndependent) July 23, 2023⚡️Russian missile attack destroys Odesa's Transfiguration Cathedral.
Russian missile attacks on the night of July 23 caused significant damage to Odesa's historic Transfiguration Cathedral, the city administration reported via Telegram.
22.7.2023
A murdered writer, his secret diary of the invasion of Ukraine – and the war crimes investigator determined to find it
©Charlotte Higgins, The Guardian
Vakulenko’s friend Yulia Kalulia-Danyliuk with his portrait in the local children’s library. Photograph: Ed Ram/The Guardian
It was only in December that Kalulia-Danyliuk was able to return to this, her workplace, after the area had been cleared of mines. She shows me a video she took on her phone of what greeted her when she stepped inside. Library books had been used to block up the windows – thankfully, she says, as that saved them from destruction. Soldiers had lit campfires inside the building. Vodka bottles and empty ration packs were strewn across the floor. The TV had gone. Pages of books on Ukrainian culture had been used as toilet paper and the lavatory itself was blocked up with socks and other clothing. Children’s dressing-up costumes had been defecated on. A mirror had been scrawled with the letter Z. “I didn’t want to clean it,” she says of the looking glass, “in case I lost the hatred.” She was heartbroken by the chaos, the filth and the destruction: “I had invested my soul, my time, my own money in this place,” she says. “You know, when I left work for the last time before the invasion, I lined a bin with a fresh rubbish bag. When I came back after the liberation, it was still there, unused.”
Things are different now. The main room of the library smells of fresh paint, in pistachio green, the shelves are stocked with new children’s books and there’s a portrait of Vakulenko above them. There are bright blue beanbags on the floor and light floods in through brand new windows. The date Vakulenko is thought to have bured his diary, 23 March, has been named his memory-day in the village. This year it was marked by an event here in the library, with drawings and stories and games for the village children. “I wanted it like this,” Amelina, who co-organised the day, tells me this spring. “I wanted to commemorate him not by some pathetic speeches and crying, but by making sure the children in his village have some connections to books and writers again.”
As I leave Kapytolivka, past the budding apricot trees that line the lanes, I look up and see a sedge of cranes flying overhead. I want to believe they are the same birds that Vakulenko saw a year ago: the birds that brought him hope.
Durch den Raketenangriff in Odessa wurden Museen beschädigt (Foto: @Олександра Ковалчук) Quelle: NV
In der Nacht zum Donnerstag, 20. Juli, führten die russischen Besatzer einen weiteren massiven Raketenangriff auf den Süden der Ukraine durch, Odessa und Mykolajiw standen erneut unter Beschuss. Das Zentrum von Odessa ist ein gefährdetes UNESCO-Weltkulturerbe.
Durch einen Raketenangriff am 20. Juli wurden zwei Museen in Odessa beschädigt: das Literaturmuseum Odessa, das Archäologische Museum Odessa und das Museum für westliche und östliche Kunst. Im ersten Fall wurde das Gebäude beschädigt, im zweiten Fenster und Türen.
Max Odessa: The museum of Literature in Odesa is less than one block away from UNESCO sign was attacked by kremlin army. Beautiful architecture in the downtown of Odesa and human lives under mortal danger. It is near Odesa Town hall and archeology museum.
Far From the Front, They Stand in Honor of Ukraine
17.7.2023 , New York Times The city of Chernivtsi in western Ukraine has been spared the mayhem of the Russian invasion. But like other towns in the region, it is doing its part, and has become, in effect, a back office of the war effort.
Every morning at the stroke of nine, in the western Ukrainian city of Chernivtsi, the entire town square comes to a standstill for a moment of silence to mourn the war dead.
DER PREIS, DEN SIE ZAHLEN
Von Moritz Gathmann; STERN, 10.7.2023
Sie sind erschöpft und geschunden, und täglich müssen sie Kameraden begraben: unterwegs mit ukrainischen Soldaten, die für die Freiheit ihres Landes kämpfen
Gesichter voller Trauer, Wut und Schmerz. Angehörige und Kameraden bei der Beisetzung zweier Soldaten in der Nähe von Saporischschja / Fotos: Jędrzej Nowicki
6.7.2023
Sirens
Air-raid sirens across the country
It feels like everyone is brought out
For execution
But only one person gets targeted
Usually the one at the edge
This time not you; all clear
By Victoria Amelina (1.1.1986 - 1.7.2023)
Translated from the Ukrainian by Anatoly Kudryavitsky
The award-winning Ukrainian writer Victoria Amelina has died from her injuries after a Russian missile hit a pizza restaurant in the eastern city of Kramatorsk on Tuesday.
Tanja Maljartschuk, "Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf", Klagenfurter Rede zur Literatur 2023, 28. Juni 2023
Seit über einem Jahr, das sich wie drei Ewigkeiten anfühlt, führt Russland einen brutalen Angriffskrieg gegen mein Land. In dieser Welt wüten auch andere Kriege, die genauso schmerzen und stumm machen, so wie jeder Krieg aus der Vergangenheit dies getan hat. Wie mir scheint, ist es ein ewiger Krieg, der schmerzt und stumm macht und nicht aufhört, egal wie sehr wir es uns wünschen. Und das Hauptinstrument aller Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Sprache, die schönste Gedichte hervorbringt, kann auch dazu dienen, Befehle kundzutun, zum Abschuss von Raketen, die Zivilisten töten, oder zum Vorrücken von Panzern. Die Sprache ist daher nie unschuldig, man muss, wie es ein mir bekannter Schriftstellerkollege aus dem Kongo neulich formulierte, selbst sauber sein, wenn man mit einer schmutzigen Sprache arbeiten möchte. Das bin ich nicht, meine Damen und Herren, ich bin nicht sauber, denn ich habe Angst bekommen vor der Sprache, die Millionen von mehrheitlich friedlichen Bürgern überzeugen kann, im Recht zu sein, andere zu ermorden."
The Nova Kakhovka Dam in Ukraine
Ten guidelines for writing about catastrophe
The Nova Kakhovka Dam in Ukraine, controlled by Russia, has been destroyed. One consequence is a humanitarian disaster that, had it not taken place within a war zone, would already have drawn enormous international assistance. Thousands of houses are flooded and tens of thousands of people are in flight or waiting for rescue. Another consequence is ecological mayhem, among other things the loss of wetland and other habitats. A third is the destruction of Ukrainian farmland and other elements of the Ukrainian economy. So much is happening at once that the story is hard to follow. Here are a few thoughts about writing responsibly about the event.
1. Avoid the temptation to begin the story of this manmade humanitarian and ecological catastrophe by bothsidesing it. That's not journalism.
2. Russian spokespersons claiming that Ukraine did something (in this case, blow a dam) is not part of a story of an actual event in the real world. It is part of different story: one about all the outrageous claims Russia has made about Ukraine since the first invasion, in 2014. If Russian claims about Ukrainian actions are to be mentioned, it has to be in that context.
3. Citing Russian claims next to Ukrainian claims is unfair to the Ukrainians. In this war, what Russian spokespersons have said has almost always been untrue, whereas what Ukrainian spokespersons have said has largely been reliable. The juxtaposition suggests an equality that makes it impossible for the reader to understand that important difference.
4. If a Russian spokesman (e.g. Dmitri Peskov) must be cited, it must be mentioned that this specific figure has lied about every aspect of this war since it began. This is context. Readers picking up the story in the middle need to know such background.
5. If Russian propaganda for external consumption is cited, it can help to also cite Russian propaganda for internal consumption. It is interesting that Russian propagandists have been long arguing that Ukrainian dams should be blown, and that a Russian parliamentarian takes for granted that Russia blew the dam and rejoices in the death and destruction that followed.
6. When a story begins with bothsidesing, readers are being implicitly instructed that an object in the physical world (like a dam) is really just an element of narrative. They are being guided into the wrong genre (literature) right at the moment when analysis is needed. This does their minds a disservice.
Part of the city of Kherson is now under water
7. Dams are physical objects. Whether or how they can be destroyed is a subject for people who know what they are talking about. Although this valuable NYT story exhibits the above flaws, it has the great merit of treating dams as physical rather than narrative objects. When this exercise is performed, it seems clear that the dam could only have been destroyed by an explosion from the inside.
8. Russia was in control of the relevant part of the dam when it exploded. This is an elemental part of the context. It comes before what anyone says. When a murder is investigated, detectives think about means. Russia had the means. Ukraine did not.
9. The story doesn't start at the moment the dam explodes. Readers need to know that for the last fifteen months Russia has been killing Ukrainian civilians and destroying Ukrainian civilian infrastructure, whereas Ukraine has been trying to protect its people and the structures that keep them alive.
10. The setting also includes history. Military history offers an elemental point. Armies that are attacking do not blow dams to block their own path of advance. Armies that are retreating do blow dams to slow the advance of the other side. At the relevant moment, Ukraine was advancing, and Russia was retreating.
The pursuit of objectivity does not mean treating every event as a coin flip, a fifty-fifty chance between two different public statements. Objectivity demands thinking about all the objects -- physical objects, physical placement of people -- that must be in the story, as well as all of the settings -- contemporary and historical -- that a reader would need in order to come away from the story with greater understanding.
9.3.2023 Der neu angelobte tschechische Präsident Petr Pavel wies in seiner Antrittsrede darauf hin, wie wichtig die Unterstützung der von Russland angegriffenen Ukraine für das Fortbestehen der Demokratie - in Tschechien und Europa - ist. Russlands Armee hat in der Nacht auf Donnerstag die Ukraine erneut großflächig mit Raketen angegriffen. Dabei kamen mehrere Menschen ums Leben. Das Atomkraftwerk Saporischschja musste infolge des Beschusses vorübergehend von der regulären Stromversorgung genommen und mit Dieselgeneratoren notversorgt werden. Die Lemberger Stadtverwaltung meldete mehrere Raketeneinschläge. Dabei wurden Menschen getötet und verletzt. Es waren die ersten Todesopfer in der 720.000-Einwohner-Stadt in der Westukraine, die 70 Kilometer entfernt von der Grenze nach Polen liegt .
5.3.2023 A year after the full-scale Russian invasion of Ukraine, the Debating Europe series brought together five leading experts to examine to what degree the Russo-Ukrainian War is shifting the geo-political landscape. Although Eastern Ukraine amounts to a small patch of the world’s landmass, the war on this territory has had consequences reaching into every corner of the world. Most commentators agree that this conflict will last many more months if not years.
In this debate, our eminent guests discussed whether there is a military or political end in sight to the conflict; whether it is yet possible to define the contours of an end to the war; whether an escalation remains a possibility; and in what respect this war is reordering geo-politics now and in the future. Michael Clarke, Fellow at King’s College London. Mischa Gabowitsch, historian and sociologist, Visiting Fellow at the IWM (Institute for Human Sciences), and Researcher at RECET, University of Vienna.
Ursula Plassnik, former Austrian Foreign Minister. Nathalie Tocci, Director of the Institute of International Affairs - Istituto Affari Internazionali (IAI) in Rome and Europe's Futures Fellow at the IWM.
Olga Tokariuk, Fellow at the Centre for European Policy Analysis.
Moderated by Misha Glenny, IWM Rector.
This long-standing event is a collaborative production of the Institute for Human Sciences (IWM), Burgtheater, ERSTE Foundation, and Austrian daily Der Standard.
6.2.2023 Even by the standards of eastern Ukraine, Bakhmut is a hellscape of destruction. Electricity has been out since August and water since October. Rows of uniform Soviet-style buildings now resemble a series of ragged molars, mottledby shells and blackened with soot. David Patrikarakos
20.1.2023 "Ich glaube, es ist keine Zeit zu verhandeln. Es ist Zeit zu überleben", Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, im Interview mit Vassili Golod, ARD
14.1.2023 Die Jahreszahl hat gewechselt. In Tschechien wird ein neuer Präsident gewählt. "Oral History", eine Methode der Geschichtswissenschaft, die auf Gespräche, Niederschriften von Zeitzeugen basiert, beschäftigt mich. Erinnerungen von Zeitzeugen aus dem Wirren des Zweiten Weltkriegs, die zurückblicken begegnen mir in den Niederschriften von Valentin Hauser, "Vergessene Wahrheiten", die NS- und Kriegszeit in Kärnten, die Vertreibung der Kärntner Slowenen, die Saualm-Partisanen. Eine von Alena Wagnerová herausgegebene Sammlung von Berichten, erschienen unter dem Titel "Helden der Hoffnung", die anderen Deutschen aus den Sudeten, 1935 - 1989. Der Fotoband von Marc Schroeder ORDER 7161 erzählt von Rumäniendeutschen, die auf Stalins Befehl vom 16. Dezember 1944 als Reparationsleistung für den Zweiten Weltkrieg zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden. Aus der mittelbaren Gegenwart die Erzählungen, Berichte aus der Ukraine. „Tagebuch einer Invasion“ Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow beschreibt im "Tagebuch einer Invasion" die sich seit 2014 aufbauende Aggression, die mit der Besetzung der Ostukraine und der Annexion der Krim begann. Er schreibt über historische Kontinuitäten, die den Weg zur Eskalation begreifbarer machen. Kurkow schreibt über die individuelle Erfahrung mit dem Überfall, der Angst vor dem scheinbar übermächtigen Nachbarn und dem Widerstandswillen eines ganzen Volkes.
Ukraine chronicles winter, 2022 Greek Church, Video produced by Max
29.12.2022 Morning message from Max Odessa:Russians bombers up in at the air with super sonic missiles for 4 hours. No power. Air alert sound is off because of no power.13 bombers, 2 ships missile carriers and atomic submarine are on. They could carry up to 124 missiles. We just heard three explosions and two more.
26.12.2022 What Is the Secret of Chernivtsi? A Conversation with Ihor Pomerantsev LARB By Kate Tsurka: At first, the idea of having a literary festival during wartime certainly does sound a bit odd. That’s why we renamed it this year to “Meridian Czernowitz Poetry Readings.” The context of war casts a shadow over everything we do now — let me give you an example. I attended one of the events where the Austrian poet Milena Findeis was accompanied in Ukrainian translation by our famous local German scholar Petro Rykhlo. In the middle of the event, Milena broke down and started crying. Rykhlo is usually quite the stoic, but I noticed that his lips were trembling, and soon the entire audience was in tears. Then everyone overcame their emotions, and the event continued. Afterward, a Ukrainian woman came up to her and said, “Thank you for your tears.” I have contradictory feelings about this statement! Findeis read some really great poems. But in the context of war, tears mean more than poems; human touch is more necessary than brilliant metaphors. This is difficult for me to admit because it almost feels like the defeat of poetry, in a sense. I suppose it was the emblem of this year’s Meridian Czernowitz. Emotions overwhelmed all of us, and literature took a step back. It was three days of collective catharsis. Igor Pomerantsev
24.12.2022 Erhalte von Petro Rychlo aus Czernowitz diese Zeilen:
Gestern war die längste Nacht des Jahres.
Morgen nimmt schon wieder zu das Licht.
Noch ist es ein winziges, ein schmales,
Doch erhellt es menschliches Gesicht
Mit der Hoffnung, dass ersehnter Frieden
Wieder kommt in unser liebes Haus
Wo wir alle, ähnlich und verschieden
Froh und traurig gehen ein und aus.
16.12.2022 Діана Клочко · ...над Києвом канонада, ППО відбиває масову атаку, і от думаю, як завтра розповідати про отвори в скульптурах Генрі Мура. Хоча у назві лекції про Архипенка і Мура є словосполучення "лінія краси"...
11.12.2022 „Every photo has it’s value, because it holds the time“ Maxym Kozmenko, photographer Ukraine 11.12.2022,"„The biggest lost is the lost of time“, said Ukrainian philosopher Hryhoriy Skoworoda. And he was right. Blog
3.12.2022 Message from Max: Without power no sound signal in the street about coming russian rockets and iranian drones to go to the basement. We have electricity for 2-3 hours per day. Problem is cell phone towers are off too without power. You can not call family, doctor or friend. No internet. No way to learn about air alert. No news. Nothing.
Odesa without electricity.
Eine umfassende Retrospektive des ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov ist noch bis 15. Januar im Pariser Maison Européenne de la Photographie (MEP) zu sehen: Journal ukrainien – Ukrainian Diary umfasst 800 Fotografien. Mikhailov, der aus dem ostukrainischen Charkiw stammt, widmet diese Ausstellung der Ukraine und allen, „die unter dem heimtückischen und unerklärlichen Angriff auf unser Land leiden“. BORIS MIKHAILOV – FOTO-CHRONIST DER UKRAINE, Dekoder
26.11.2022 Von Maxym Kozmenko aus Tscherniwzi erreichen mich Fotos von einem Soldatenbegräbnis. Der Leichnam wurde im Beisein der Bevölkerung beigesetzt. Der Strom fällt immer wieder aus, wie in der gesamten Ukraine. Ein Freund aus Königstein, Deutschland, schreibt mir, dass sich die beiden ukrainischen Frauen mit ihren vier Kindern sich zwischenzeitlich gut eingelebt haben. Als ich so voll beschäftigt mit der Organisation des Umzugs für meine 84jährige Mutter in Zeltweg gewesen war, hatte ich kaum Zeit etwas niederzuschreiben. Doch meine Gedanken waren immer wieder in der Ukraine: wenn Menschen dort ihre Wohnung verlassen müssen, können sie kaum etwas mitnehmen und meist wissen sie nicht einmal, wo sie unterkommen können.
24.11.2022 Mychailo Wynnyckyj:Today, Ukrainians lived through their third mass rocket attack this month. According to official data 51 of the 70 missiles fired at us today were destroyed by air defenses. Sadly, 19 got through.The lights went out in Kyiv at around 2:20pm today. With the power off and with internet access sporadic at best, I was forced to reschedule my 3pm class - serious disappointment! This year, the students in my MA research seminar on Social Transformations are truly a wonderful group. I always look forward to Wednesdays at National University of "Kyiv-Mohyla Academy" (NaUKMA).When the sirens sounded I happened to be in the room next to the office of Serhiy Kvit. He invited us in for tea. The walls in Building 1 of Kyiv-Mohyla Academy are particularly thick, but we felt several explosions nevertheless. Yesterday, I took part in an online meeting of a special task force set up by the European University Association to explore how EU universities can assist Ukraine's higher education sector. We listened gratefully as our EU colleagues reported on the numbers of displaced Ukrainian students their institutions are hosting. Thank you!
But in Ukraine, life goes on! Generators power campuses. Starlinks provide internet... And so we postpone classes rather than cancelling them. Yesterday, our political science, sociology and international relations research group ran a wonderful online "work-in-progress" seminar with colleagues from the University of Toronto. The next one is scheduled for early December. My wife Marta Wynnycka and I have theater tickets next week! Life goes on!The thick walls of the ancient buildings of Kyiv protect us during rocket attacks, and the subway serves as an excellent shelter. And as several of my business school students have attested, even Tesla's can be charged with generators.Russian terrorism can't go on forever. When the missiles pause, and we've had our tea, we teach and learn, and work and live. We go on with life. Defiant. We joked today that less than a year ago, the prospect of living through a month with over 200 deadly missiles launched at us would probably have seemed quite scary. Now we have tea. We chat. We let each other know we're fine... Tomorrow I'll teach another class. Meanwhile, tonight we'll spend the evening by candlelight. Maybe I'll finally finish that damned chapter! Inconvenient? Yes. Frightening? Not particularly. Overwhelming? Nope! This nation is invincible!
Putins Philosophie. Kurze Einführung in einen nicht ungefährlichen Gedankencocktail
4.11.2022 Igor Pomernantsev:My First Bomb Shelter,Kyiv
“Aha”, said the Ukrainian border guard as she checked my British passport. “Born in Saratov. Do you have dual nationality?” “Ni, no”, I replied. I checked into the hotel in Lviv around midnight. In the morning I was woken by the Chopin march, from a soldier’s funeral In the garrison cathedral of Peter and Paul next door. “ Well, that’s it. I’m home”, I thought. I asked the girl at reception whether there were often funerals. She said yes, one every day, sometimes several.
The train from Lviv to Kyiv arrived at six in the morning. The Kyiv Waltz was playing. Soldiers on crutches were waiting on the platform. Half an hour later I reached my hotel in Podil. At seven the air raid siren sounded. I went down into the bomb shelter. Some American colleagues were there before me. I tried an off-the-cuff translation of the Kyiv poet Semyon Gudzenko:
I think I am a magnet,
That I attract mines.
A shell bursts, the lieutenant wheezes.
And death once more passes us by.
(1942)
My effort was pretty lame, especially “wheezes”. The Americans were politely appreciative. Up above there was blood everywhere. I sat and wrote. I thought up two opening sentences: “Curfew. Night in Podil”.
23.10.2022 Serhij Zhadan in seiner Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: „Warum werden wir Ukrainer hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären? Nicht etwa, weilSerhij Zhadan in seiner Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels: „Warum werden wir Ukrainer hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären? Nicht etwa, weilsie die Notwendigkeit des Friedens verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt. (…) Wir unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir unbedingt Frieden wollen.“
22.10.2022 Petro Rychlo, der Anfang Oktober in Wien, Klagenfurt und Innsbruck das Projekt Bukowinisch-Galizische-Kulturstraße vorstellte, schreibt aus Czernowitz "Heute wurden ukrainische Kraftwerke wieder massiv beschossen. Russland ist der schlimmste Terrorstaat. Auch in Czernowitz gab es heute schon zwei Luftalarme."
22.10.2022 Frankfurter Buchmesse: Schon seit vielen Jahren unternimmt Karl Schlögel Reisen in die Ukraine, auch in jüngster Zeit war er dort unterwegs. Dabei besuchte er die verschiedensten Städte des Landes, von Odessa bis Kiew über Donezk, und zeichnet Städtebilder, die zeigen was nicht fern von uns auf dem Spiel steht. Darüber spricht er im taz Talk mit Klaus Hillenbrand, dem Leiter von taz eins.
23.10.2022 Serhij Zhadan in seiner Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels: „Warum werden wir Ukrainer hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären? Nicht etwa, weil sie die Notwendigkeit des Friedens verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt. (…) Wir unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir unbedingt Frieden wollen.“
10.10.2022 Morgens beim Hören der Nachrichten "Raketenangriffe auf Städte in der Ukraine". Ich schreibe Igor, der in Kyiv ist, eine Nachricht. Er antwortet umgehend: "well, I am in a bombshell in Kyiv".
Abends berichtet der ORF "Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums feuerte Russland insgesamt 83 Raketen ab. 52 dieser Raketen seien von der ukrainischen Luftabwehr abgefangen worden. Selenskyj sagte, Russland habe bei den Angriffen auch vom Iran hergestellte Drohnen eingesetzt. Nach Angaben der ukrainischen Armee wurden einige dieser Drohnen im Nachbarland Belarus und auf der Krim gestartet. Moldawien warf Russland die Verletzung seines Luftraums vor."
Petro Rychlo ist von Tscherniwzi nach Wien gereist. Am 10.10. 19 Uhr präsentiert er in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ›Die Bukowinisch-Galizische Literaturstraße‹.Deutschsprachige Autor*innen wie Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Soma Morgenstern, Hermann Kesten, Manès Sperber, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori, Paul Celan, Salcia Landmann u. a. stammen aus den einstigen östlichsten Kronländern der k. u. k. Monarchie Galizien und der Bukowina und avancierten zu Klassikern der deutschsprachigen Literatur. In ihren Geburtsorten waren sie noch vor kurzem kaum bekannt. Das 2016 gestartete deutsch-ukrainische Kulturprojekt ›Bukowinisch-Galizische Literaturstraße‹ sieht seine Aufgabe darin, die Namen dieser Dichter*innen in der Ukraine zu entdecken.
5.10.2022 Der Keller ist für Peter Pomerantsev zum Sinnbild des Kriegs gegen die Ukraine geworden: der Keller als Schutz- und Fluchtraum, aber auch der Folterkeller. Und der Keller als Metapher, den er in Time beschreibt: "Russland ist ein Land, das keine Anstrengungen unternimmt, um sein Erbe an Massenmord und institutionalisiertem Sadismus aufzuarbeiten, die Verantwortlichen zu benennen, um Vergebung zu bitten und sich von diesem Erbe zu lösen. Es gibt nicht einmal mehr ein Museum für die zig Millionen Toten in Stalins Gulags, geschweige denn für Russlands Kolonialverbrechen. Kurz vor der jetzigen Invasion wurde die NGO Memorial, die die sowjetischen Verbrechen zu dokumentieren versuchte, als 'ausländischer Agent' verboten. All dies Grauen bleibt im Keller des russischen Geistes eingeschlossen, eine Geschichte der Erniedrigung, die in einem sadomasochistischen Folterkeller ausgespielt wird. Und genau in diesen Keller wollen die Russen die Ukrainer sperren... Wenn wir es schon nicht geschafft haben, der Vergangenheit zu entkommen, so ist die Botschaft, dann müsst ihr sie mit uns erleiden." Perlentaucher
Gemeinsam mit Jakobine Motz und Claus Löser geht es mit dem PKW am 30. August 2022 ab Prag, drei Tage lang durch Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, an LKW-Warteschlangen vorbei zum ukrainischen-rumänischen Grenzort Siret; von der Stadt Tscherniwzi 35 Kilometer entfernt. Überrascht hat mich, dass einer der Grenzübergänge in Ungarn geschlossen war, am nächsten gab es genaue Kontrollen, um nach Rumänien einreisen zu können. Entlang der Theiß, sie bildet zum Teil den Grenzverlauf zwischen Rumänien und der Ukraine, fuhren wir in Serpentinen die Waldkarpaten rauf und runter. Auf der rumänischen Seite von Siret gab es bei der Einreise in die Ukraine eine Wartezeit von zwei Stunden, auf der ukrainischen Seite eine Stunde. Es gab eigene Grenzübergänge für FußgängerINNEN, PKWs und LKWs. Ich hörte, dass LKW-Fahrer sich daran gewöhnt haben bis zu vierzehn Tage an der Grenze zu warten, um abgefertigt zu werden. Dieses so andere Zeitgefühl, sorgt für Achterbahngefühle im eigenen Blutkreislauf. Hunde und Krähen sind nicht ausweispflichtig und wechseln die Grenze ohne Wartezeiten.
Die Bukowina (Buchenland) eine geschichtsträchtige Landschaft nordöstlich der Karpaten im Grenzraum zwischen Mittel-, Südost- und Osteuropa zeichnet sich u.a. durch ihre schwarze Erde aus. Die nördliche Hälfte gehört zur Ukraine und ist Teil des Vetwaltungsgebiets Tscherniwzi. Die südliche Hälfte gehört zu Rumänien und ist Teil des Kreises Suceava. Die Bukowina war, wie das östlich davon liegende Bessarabien, jahrhundertelang ein Teil des historischen Fürstentums Moldau, von 1775 bis 1918 gehörte das Gebiet mit seiner multiethnischen Bevölkerung zur Habsburgermonarchie.
Tschwerniwizi ist bis September 2022 von direkten Raketenangriffen verschont geblieben, es haben hier seit März 2022 mehr als 100.000 Flüchtende aus der gesamten Ukraine, Unterschlupf gefunden.
Während den dreitägigen Lesungen, Gespräche im Rahmen von Meridian Czernowitz XIII, Menschen und Orten wieder begegnet. Den aus Tscherniwizi stammenden Journalisten, Fotografen Maxym Kozmenko kennengelernt. Er ist in der Ukraine für die ACC Medien Agentur unterwegs, dokumentiert das Kriegsgeschehen, berichtet von Einzelschicksalen.
In dem im Rahmen von Meridian Czernowitz XIII geführten Gespräch zwischen dem deutschen Autoren, Kritiker Helmut Böttiger und dem ukrainischen Schriftsteller, Übersetzer und Psychoanalytiker Jurko Prochasko tritt mit gegenseitiger Wertschätzung das Problem der Kommunikation in Kriegszeiten in den Vordergrund: wie miteinander reden, wenn der eine, ein vom Krieg direkt Betroffener und der andere Beobachter aus der Ferne ist. Das Zerbrechliche als Gegensatz zum Kriegsgeschehen, für Prochasko ist das Lied "Fragile" von Sting ein Bindefaden.
Die aus der Schweiz stammende Ukraine-Kennerin Judith Schifferle, ihr begegnete ich 2011 das erste Mal beim zweiten Meridian Czernowitz arbeitet an einem neuen Gedichtband, der 2023 unter dem Titel "«Kurze Geschichte der Unabhängigkeit 2003–2023» erscheinen soll: "Ich habe gelernt,/ meine Stimme über die Gräber zu tragen./ Ich habe gelernt,/ ohne Schatten unter der Sonne zu stehen./ Ich habe gelernt, wie Sprache sich im Angesicht des Kriegs in Reime zwingt./"
Es gab ein Wiedersehen mit dem Celan-Übersetzer und -Kenner Petro Rychlo, der u.a. das Paul Celan Zentrum in Tscherniwzi leitet und dem geistigen Vater von Meridian Czernowitz Igor Pomerantsev, der die Antwort einer Zuhörerin zu einem Essay verarbeitete: "Thank you for your tears".
Das Hineinfühlen in die Gegensätze, das Annehmen, dass nicht alles zu verstehen ist und dass es wärmende Nähe in kälter werdenden Zeiten gibt, nehme ich mit nach Prag.
10.9.2022, Milena Findeis
12.8.2022 John Sweeney: Der Killer im Kreml / Catherine Belton: Putins Netz / Katja Gloger: Putins Welt / Manfred Quiring: Putins russische Welt / Oliver Stone: Die Putin-Interviews / Heinemann-Grüder/Crawford/Peters: Lehren aus dem Ukrainekonflikt. Das Regime Putin, Bemerkungen zu sechs Büchern von Gregor Keuschnig nachzulesen im Begleitschreiben.
13.7. Aus Ralf Fücks Gastbeitrag im Spiegel
Appeasement wird Putin nicht stoppen
Die Forderung, die Ukraine möge einem Ende des Krieges nicht länger im Wege stehen und Putin geben, was er fordert, gewinnt an Boden. Clausewitz hat diese Verkehrung von Täter und Opfer auf die ironische Formulierung gebracht, dass letztlich der Verteidiger schuld am Kriege sei, weil er sich dem Angreifer in den Weg stellt: Der Aggressor würde gern ganz friedlich einmarschieren. Unsere Unterwerfungspazifisten meinen das im vollen Ernst. Sie sind sich mit Lawrow einig, dass der Westen mit seinen Waffenlieferungen den Krieg unnötig verlängert. Die Ukraine habe eh keine Chance, den russischen Vormarsch aufzuhalten. Das spricht nicht nur der Entschlossenheit der Ukrainer – Männer wie Frauen – Hohn, um ihre Unabhängigkeit und Freiheit zu kämpfen. Der Ruf nach einem Kompromiss mit Putin verkennt auch den Charakter des russischen Feldzugs.
Am 6.7. antwortet Serhij Zhadan auf einen offenen Brief, der von deutschen Intellektuellen verfasst wurde "Wenn die Ukraine verliert, gehen die Opfer nicht in die Tausende, sondern in die Hunderttausende. Und das Blut dieser Toten haben jene auf dem Gewissen, die immer noch unbeirrt mit dem Bösen spielen und dabei allen Wohlergehen und Frieden wünschen."
Maryna Viazovska, 1984 geboren in Kyiv, ist seit 2018 ist Professorin an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) erhält im Juli die Fields-Medaille 2022 für den Beweis, dass das E8-Gitter die dichteste Packung identischer Kugeln in 8 Dimensionen darstellt, sowie für weitere Beiträge zu verwandten Extremproblemen und Interpolationsproblemen in der Fourier-Analyse. Das Video zeigt, wie verbunden sie sich mit der Ukraine fühlt und welche Verluste der Krieg birgt.
Am 23.6.2022 lenkt Діана Клочко meine Aufmerksamkeit auf die mit Ton Dokumentation WAR von Anton Baibakov, Fotos Olexandr Glyadyelov., Direktor Oleg Sosnov. Das Hinschauen fällt schwer. Es handelt von der Allgegenwärtigkeit des Krieges in der Ukraine, diesen auszublenden erlaube ich mir nicht - speziell an einem schönen Sommertag.
Der kleine Stand der Ukraine auf der Prager Buchmesse (Svět knihy, Praha '22, 9.-12.6.), verglichen mit jenem der Frankfurter Buchmesse, die nach 14 Jahren wieder in Prag mit einem Stand vertreten ist, immer gut besucht. Anschließend an den Stand der Ukraine, ein Podium für Lesungen, Diskussionen "Literatur, die Stimme der Freiheit" (Literatur jako hlas svobody) immer gut besucht. Vor allem von jungen ukrainischen Frauen mit Kindern. Manche der zweisprachigen Bücher werden kostenlos an Kinder verteilt. Ich schaue den Kindern zu, wie sie malen, in etwas vertieft sind. Sie alle mussten fliehen. In einem Gespräch mit Radka Denemarková "Jetzt müssen wir der Ukraine helfen, dort entstehen Tag für Tag neue Massengräber und es ist die Aufgabe der zeitgenössischen Literatur, hin- und nicht wegzuschauen."
13.6.2022 "Das Dunkel des gelebten Augenblicks" Bloch zitierend blickt Karl Schlögel auf das zerstörte Mariupol, damit wurde etwas ausgelöscht, was so schwer zu fassen ist. "Ich habe keine Sprache hierfür".
Mit 29.4.hat sich die Spezialvisia für Flüchtende aus der Ukraine auf 310.00 erhöht. Ende April wieder in Österreich, bekomme von einer Freundin ein Armband geschenkt, dass in und für die Ukraine produziert wurde. Die Innenstadt von Wien ist voll von Touristen, ähnlich wie in Prag. In der Luft Sprachfetzen in Ukrainisch, die Züge voll besetzt.
Anfang Juni in einem Park in Prag Smíchov: Gespräch von der Nachbarbank, die Zeitung lesende Frau flüchtete aus einem Dorf im Osten der Ukraine nach Prag. Gedankenflug: wenn ich alles zurücklassen müsste, hätte ich diese Gelassenheit?
Die Produzentin von Radio Liberty, Vera Girich, wurde getötet, als eine russische Rakete das Haus traf, in dem sie in Kyiv lebte. Der Beschuss fand am 28. April 2022 statt. Die Leiche der Verstorbenen wurde am Morgen des 29. April unter den Trümmern gefunden.
21.4.2022 Erhalte in der Nacht auf den 21.4. ein Mail von Anna Schor-Tschudnowskaja, Assistenzprofessorin der Fakultät für Psychologie, Sigmund Freud Privat Universität Wien und Autorin: sie sendet mir einen Essay, der sich auf die Science-Fiction-Klassiker von Stanisław Lem und Ray Bradbury - im Hinblick auf die Gegenwart, Zukunft? bezieht. Beim recherchierenden Lesen finde ich einen Briefwechsel zwischen Anna Schor-Tschudnowskaja und Irena Brežná aus dem Jahre 2016, FRAGILE EUROPÄISCHE KORRESPONDENZEN, der für mich widerspiegelt, wie der Hintergrund - jenseits des deutschen Sprachraums in dem frau lebt - die Wahrnehmung prägt.
10.4.2022: Tschechien hat seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine 276.657 Spezialvisa für ukrainische Flüchtende ausgestellt.
Nach dem Begräbnis eines Angehörigen am 31.3.2022 in der Steiermark, das bei strömenden Regen in Würde stattfand, die Nachrichten von immer weiteren Gräueltaten in der Ukraine begangen von den Angehörigen der Russischen Föderation und alles läuft weiter. Ich bekomme die Nachrichten von den Kriegsverbrechen nicht aus meinem Kopf.
Am 24.3. ein Aufruf aus der Ukraine für den Frieden auf die Straße zu gehen, seit einem Monat dauert der Krieg. Jeden Tag einen Sinn, einen Zweck finden. Am Nachmittag eine Nachricht von einem Todesfall in meiner Familie in Österreich.
Am 18.3. feiert Moskau ein großes Event "8 Jahre Einverleibung der Krim", Putin redet, alle klatschen, während die Ukraine weiter bombardiert wird. In Lviv werden leere Kinderwagen aufgestellt, für die getöteten Kinder. Höre und lese Karl Schlögel, die Nachrichten meiner FreundInnen in der Ukraine, tschechischen Radio Stationen, Radio Free Europe - Radio Liberty, folge dem Liveticker von BBC und arbeite weiter an einem "put out".
Der tschechische Premier Petr Fiala ist am Dienstag, 15.3.2022 gemeinsam mit den Premierministern Polens und Sloweniens, Mateusz Morawiecki und Janez Janša, nach Kiew per Bahn gereist. Dies teilte Fiala auf Twitter mit. Mitgereist ist auch der polnische Vizepremier Jarosław Kaczyński. Die Reise finde nach Absprache mit dem Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel, und der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, statt, so Fiala. Der tschechische Premier kehrt am 16.3. mittags wieder nach Prag zurück, laut einer Erhebung befinden sich zu diesem Zeitpunkt 270.000 Flüchtende in Tschechien. Das was der Migrationsforscher Gerald Knaus im österreichischen und deutschen TV fordert: Koordination, das geschieht in Tschechien durch den angerufenen Notstand. Menschen werden mit Zügen, teilweise an den Grenzen, teils direkt aus der Ukraine abgeholt und im ganzen Land gibt es Integrationszentren.
Am 11.3. haben die tschechischen Abgeordneten die sogenannte „Lex Ukrajina“ gebilligt. Mit den drei Gesetzesvorlagen sollen die Flüchtlinge aus der Ukraine problemlos einen Duldungsstatus erhalten. Dieser stellt sie gleich mit EU-Ausländern, die hierzulande eine Daueraufenthaltsgenehmigung haben. Innenminister Vít Rakušan (Stan) erläuterte am Mittwoch:
„Wer diesen vorübergehenden Schutz erhält, der zunächst für ein Jahr gilt, hat in allen Ländern der EU die gleichen Rechte beim Zugang zum Arbeitsmarkt oder zum Gesundheitssystem.“ Radio Prag, Tschechischer Rundfunk
In Tschechien lebten vor dem Beginn des Krieges offiziell rund 120.000 Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft, sie stellen damit die größte Anzahl von Ausländern dar. Die tschechische Regierung unter Premierminister Petr Fiala koordiniert die Aufnahme von Menschen auf nasiukrajinci.cz (viersprachrig, tschechisch, ukrainisch, englisch, russisch). На dnasiukrajinci.cz довідка, прийом людей в Чехії публікуються та координуються чеською та українською мовами. In Tschechien werden unter https://www.mujrozhlas.cz/ukrajina ganztägig Informationen in ukrainischer Sprache ausgestrahlt. Ab 13.3. gibt es eine ukrainische Version der Nachrichten von CT24.
Milena Findeis, Zeitzug
HUMANINTÄRER KORRIDOR
Ein Podcast- und Radiosendung der russischen Redaktion von Radio Free Europe, Radio Liberty in Prag. Seit Kriegsbeginn sprechen Ivan Tolstoi und Igor Pomerantsev mit denen, die den Krieg mit eigenen Augen gesehen haben, geflüchtet sind. Ausstrahlung von "Freedom" montags und freitags um 18.32 Uhr mit Wiederholungen um 23.32 Uhr, 5.32 Uhr, 10.05 Uhr und 15.32 Uhr - als Podcast jederzeit nachzuhören:
"Spendenaufruf der Kurt Wolff Stiftung, der Zusammenschluss unabhängiger Verlage in Deutschland, holt in Kooperation mit ukrainischen Verlagen Bücher aus der Ukraine nach Deutschland. Wir kaufen die Bücher von den Verlagen und verteilen sie unentgeltlich – an Schulen, an Hilfseinrichtungen, an Büchereien, an Buchläden. Das hilft den ukrainischen Verlagen, und es hilft den Kindern hier."
«Wenn die Ukraine nicht existiert, kann man alles mit ihr machen»
Putin ist gleichzeitig Symptom und Ursache all dessen. Er steht im Einklang mit einem grossen Teil der russischen Kultur und Gesellschaft. Aber er ist damit nicht ganz allein: Auch die deutsche Populär- und Politkultur nimmt die Ukraine nicht wirklich wahr. Die angelsächsischen Länder hatten lange Zeit ebenfalls ein schwammiges Bild der Ukraine. Das hat sich jetzt geändert. Die Vorstellung, dass die Ukraine nicht wirklich existiert, war aber sehr verbreitet, vor allem natürlich in Russland, aber auch in Europa und den USA. Peter Pomerantsev, SRF 22.4.2022
Mychailo Wynnyckyj, 1.5.2022 Finding Meaning in War
Thoughts from Kyiv - 2 May
Today's thoughts are pretty heavy - thank you to the Kyiv Post for agreeing to publish this text and for editing.
Excerpt:
We dream of victory. We dream of peace. We dream of healing. We dream of making Kyiv the Capital of Freedom and of Ukraine gaining membership in the EU (and NATO). But can we really plan anything?
As humans we are free to dream (always). Agency means being free to act on those dreams: to plan, to deliberate on the pros and cons of variants, to weigh choices against values, and then to adopt a course of action, and then to act without constraint.
Watching the daily press briefings about lost or liberated territory, about weapons shipments, and about the destruction caused by the Russians in Ukraine, it is easy to lose sight of what this war is really about. We are fighting for our freedom: for the ability to make deliberate choices and act upon them.
Amid the destruction, horror, death and constant bombardments we must not lose sight of our purpose. It is what makes us human. If we lose this purpose, the war will cease to be about us; we will lose our agency, our chance to gain real freedom. We may preserve our territory, but we will lose both our individual and collective “subyektnist.”
Link to full article Kyiv Post
Ukraine Is Our Past and Our Future
As she lay dying in a North London hospital, my grandmother started to hallucinate scenes from her Ukrainian childhood. All around the ward she saw starving children, skeletal, collapsing in the long, white, strip-light corridors—lying, leaning, barely breathing by the hospital beds. At first my mother and I couldn’t understand what she was referring to. What children?
Then we realised Galina Ivanovna was surrounded by suppressed memories from her childhood. She was back on Sumska, the elegant high street of her hometown of Kharkiv. She was back in 1932, the height of Stalin’s man-made famine meant to break the resistance of the Ukrainian peasantry to his rule. His victims were staggering from the countryside into the city in search of food, their dead bodies scattered across the dusty road.
Peter Pomerantsev, Time, 6.4.2022
Ukraine: Krieg auf der Schiene
ARTE Reportage 1. 4.2022
Volunteers Rally to Archive Ukrainian Web Sites
Posted on March 22, 2022 by Caralee Adams
As the war intensifies in Ukraine, volunteers from around the world are working to archive digital content at risk of destruction or manipulation. The Internet Archive is supporting several preservation efforts including the Saving Ukrainian Cultural Heritage Online (SUCHO) initiative launched in early March.
Learn, Understand, Act ...
22.3.2022, Ukrainian and foreign intellectuals talk about the experience of the war and share their own observations.
Speakers of the 9th episode:
– Oleksiy Panych, philosopher
– Martin Pollack, author
Oleksiy Panych How serious and durable is the current radical change of Western additude to Russia? What was mistaken in Western understanding of Russia until now? Is Russia a European country, and, if not, just what it is? Why Western liberalism is itself a deadly poison for Russian empire? In what sense and how deeply Ukrainians are not Russians? How a philosopher could help with understanding war in general and this Russian-Ukrainian war in particular?
Things Worth Fighting For
16.3.2022 What we can learn from President Zelensky, Bari Weiss, Common Sense
Zelensky knows what he is fighting for. “We are all at war,” he said in an address to Ukraine. “Everywhere people defend themselves, although they do not have weapons. But these are our people. They have courage. Dignity. And hence the ability to go out and say: I'm here, it's mine, and I won't give it away. My city. My community. My Ukraine.”
The Earth is Blue as an Orange"
When poet/filmmaker Iryna Tsilyk first visits the Trofymchuk-Gladky family home in the war-zone town of Krasnohorivka, Ukraine, she is surprised by what she finds: while the outside world is made up of bombings and chaos, single mother Anna and her four children are managing to keep their home as a safe haven, full of life and full of light.
Every member of the family has a passion for cinema, so it feels natural to shoot a film inspired by their own life during a time of war. The creative process raises the question of what kind of power the magical world of cinema might have during times of disaster, and how to picture war through the camera’s lens. For Anna and the children, transforming trauma into a work of art is the ultimate way to stay human.
Director and cast: Iryna Tsilyk
Overcome fear!
An appeal by the Ukrainian journal ‘Prostory’
9 March 2022 ‘We would prefer to talk about art and literature, but right now we are asking for solidarity. Overcome fear, close the skies above Ukraine, save those who may tomorrow join the ranks of the killed and wounded.’
Whole appeal published by Eurozine
>With regard to Tolstoy, Pushkin and Dostoyevsky — nobody burns their books in Ukraine. In Ukraine books are not burnt at all. Instead, the Russian army burns and bombards Ukrainian museums, churches, memorial sites, including Babyn Yar, and the Kharkiv Slovo House, a house-monument to Ukrainian writers of 1920-1930s who were practically all executed by NKVD. This generation of Ukrainian writers is known as “Executed Renaissance”.<
White or Black – President of PEN Ukraine in reply to PEN Germany’s letter, Published: 08.03.2022
Serhii Plokhii and Timothy Snyder: The War in Ukraine and Universal Values
11.3.2022 Vienna: On 24 February, Russia invaded Ukraine, turning an eight-year conflict that started with the annexation of crimea in 2014, into a full-scale war. This public conversation with Serhii Plokhii and Timothy Snyder moderated by Philip Blom discussed where things stand and what’s at stake. An event hosted by Institute for Human Sciences (IWM).
Redefining normality in Ukraine
Authors: Katherine Younger, Timothy Snyder, Masha Gessen, Nataliya Gumenyuk, Mykola Balaban, Angelina Kariakina, Serhii Plokhii, Marci Shore, Serhiy Zhadan
In his recent lecture for the Harvard Ukrainian Research Institute, co-sponsored by the IWM, Timothy Snyder argued that we should think of Ukraine as a normal country – a place that might be exceptional only for the intensity with which it has experienced major historical trends. Recasting Ukraine’s past in this light helps to cut through the historical myths propagated by the Kremlin and to understand present-day Ukraine in its own right.
Continue reading: Demythologizing Ukraine’s Past
Yes, we are strong and grateful for your support and your admiration. The problem is that Putin’s bombs will not be stopped by the strength of our spirit. And babies born in bomb shelters die of sepsis caused by the dust raining down on them during attacks, Mary’s stable was much more hygienic. Oksana Zabuzhko, 8.3.2022, European Parliament
"We often talked about Russia. And we didn’t accept the ideology of Igor Ogurtsov, who was serving his sentence with us, blinded by the hope of the revival of Great Russia. And here he is, a strange dreamer who has long gone to another world, embodied in Putin, your president. An amazing embodiment of the victim of the KGB, an honest, impractical and very lonely dreamer in a cynical, deceitful, poorly educated man who believes in the thoroughness of the logic of the bad philosopher Ilyin. In the worst of the KGB officers, the destroyer of Russia, Vladimir Putin." Semyon Gluzman, Ukrainian psychiatrist and human rights activist
6.3.2022 My friend Semyon Gluzman is in his apartment in Kyiv, waiting for the Russians to come. He is not leaving, because ten years of camp and exile in the Soviet Union was enough – he is free at his home and no Russian invaders can change that.
Yet he faces the terrible feeling of having been pulled into a war imposed by a madman, in which there are only losers. Even when Ukraine has won, it will have paid a huge price and have faced unimaginable human suffering.
The following he wrote several days ago, when the first Russian armor had entered his city and the sirens were calling citizens several times a day to hide in bomb shelters from attacks by the “brother nation”, Russia. Robert van Voren
Mychailo Wynnyckyj on the values that Ukraine can bring to the European Union
3.3.2022 Mychailo Wynnyckyj is Associate Professor of the Department of Sociology and Kyiv-Mohyla Business School, Director of the Doctoral School, National University of “Kyiv-Mohyla Academy”. He spoke to the Balie (De Balie is The Netherlands’ foremost venue for contemporary arts, politics and culture) on the occasion of the Russian invasion in February 2022. "Thoughts from Kyiv", FB
Andrij Lubka (Uzhorod), Dichter, Schriftsteller
"All diese wunderbaren Menschen verbergen ihre Tränen, wenn sie humanitäre Hilfe bringen, und laufen schnell zurück in ihre Autos, wo sie endlich ihre Emotionen frei austoben lassen. Wir erlauben uns keine Tränen, weil wir standhaft sein müssen und einander ermuntern. Aber weinen, vor Rührung oder vor Wut, wollen alle. Weinen nach dem vergangenen Leben, das noch vor sechs Tagen normal war, aber nie mehr so wird, wie es früher war." Wir sind mitten im Film Alien, Auf dem Grabe des Achilles
Peter Pomerantsev, British author, journalist
"Language defines reality. Language defines who is a “real” person, and who isn’t. He who controls language controls life and death.
That was the conclusion of the literature professor Viktor Klemperer, as he tried to make sense of Nazi propaganda in the 1930s and 40s. As a German Jew in Dresden, Klemperer lost his home, his academic position, his health. But he kept his life, thanks to being married to a non-Jew. He spent the war doing odd jobs in factories, being interrogated and beaten by the Gestapo, and keeping a diary where he tried to figure out how ordinary, pleasant Germans became spellbound by Nazi propaganda.
Putin, meanwhile, is attacking Ukrainian media infrastructure. Among his latest missiles attacks on densely populated urban areas was an attempt to bomb the Kyiv public broadcaster. His weapons hit next door Babyn Yar, the site of the Nazi genocide of Kyiv Jews, where 33, 771 were executed in two days in 1941. To that horrific figure we can now add, according to Ukrainian authorities, at least five more innocent civilians. Putin’s metaphorical “denazification” literally, lethally continues in the traditions of the Nazis." 4.3.2022
Gasan Gusejnov, Die Faschisierung des Antifaschismus
"Die Faschisierung der politischen Sprache geht in Russland mit erstaunlicher Geschwindigkeit vonstatten und ist das größte Hindernis auf dem Weg zu einer kritische Analyse der Lage in Russland. Trotz der offensichtlichen Verantwortung des herrschenden russischen Regimes für die militärische Katastrophe in der Ostukraine und trotz des unvermeidlichen wirtschaftlichen Niedergangs im eigenen Land produziert die Propagandamaschine der Russischen Förderation ein virtuelles Sozialprodukt: die Bereitschaft, für vorgeblich von Nachbarländern, Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika ausgegangenen Kränkungen zu töten und zu sterben. Mit diesem Krieg um den "Lebensraum" und die sakrale "Einheit" der "russischen Welt" zwingen Wladimir Putin und sein Machtzirkel dem russischen Volk die Verachtung des Völkerrechts auf, und den Komplex, die russischen Bürger seien die benachteiligten Träger der höchsten Werte: ihn sei ihr politisches Eigentum, die Sowjetunion, weggenommen worden. Um diese Komplexe zu befriedigen, bieten sie Waffengewalt an. Und offenbar ist der bewaffnete Überfall auf die Ukraine der einzige Ausweg, den das heutige Regime sieht"
Gasan Gusejnov, Aus dem Russischen von Felix Eick, veröffentlicht in Beton International, Zeitung für Literatur und Gesellschaft, 2015
Ins Deutsche übersetzten Beiträge von Gasan Gusejnov auf Dekoder
Timothy Snyder, American author and historian
How to read perversion
Kremlin nuclear propaganda and Russian war aims
"...
We are being invited to participate in the generation of nonsense. When we repeat contradictory and perverse arguments, we commit part of our minds to them, and start to become less reasonable ourselves.
Nothing that the Kremlin has said about Russian war aims actually makes any sense. But it does make nonsense. The war on the ground in Ukraine is all too real. But the Russian war is also fought in and for unreality, to extend its hold on our minds as far as possible. When unreality spreads, reality becomes more murderous.
The senseless talk about nuclear weapons is an example of this. But, as I will hope to keep showing, the creation of of nonsense is an essential element of Russian warfighting. As such, it calls for analysis, and resistance."
4.3.2022
ALHIERD BACHAREVIČ, Schriftsteller aus Belarus
Der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič wendet sich in einem offenen Brief, der auf der Webseite der ukrainischen Zeitschrift Ukrajinsky Tyshden (dt. Die Ukrainische Woche) veröffentlicht wurde, an die Ukrainer. Darin erklärt er nicht nur seinen persönlichen Schmerz über den und seine persönliche Schuld an dem Krieg, sondern auch die seiner Landsleute, dazu die zahlreichen Beziehungen, die sich zwischen Ukrainern und Belarussen entwickelt haben und die Bedeutung der Proteste in Belarus. Er wendet sich gegen den Vorwurf, dass seine Heimat nun grundsätzlich als
„Fleck der Schande“ angesehen werden soll.
"...
Ihr, die Ukrainer, verteidigt Euer Land. Eure Armee, eure Territorialverteidigung, jeder Ukrainer und jede Ukrainerin widersetzen sich dem Aggressor. Euer Krieg ist ein Verteidigungskrieg, ein Krieg für die Freiheit. Ihr seid schon einen so langen Weg zur Freiheit gegangen, dass Putins Imperium Euch nie wieder in sein Gefängnis zurückholen kann. Die Ukraine hat sich für immer verändert.
2020 haben wir, die Belarussen, uns davon überzeugt, dass wir keine belarussische Armee haben. Die Einheiten, die uns verteidigen sollten, führten Krieg gegen unbewaffnete Menschen. Die Belarussen haben gesehen, wie die, die dem Volk ihre Treue geschworen hatten, dieses Volk ohne mit der Wimper zu zucken verrieten, wie sie aktiv an Massenrepressionen gegen die eigenen Mitbürger teilnahmen. Seitdem hält niemand im Land die belarussische Armee mehr für wirklich belarussisch. Belarus hat keine Armee. Es hat nur Lukaschenkas Generäle, die von Putins Medaillen träumen. Es hat diejenigen, die deren verbrecherische Befehle ausführen. Und es hat Menschen – die jetzt als Kanonenfutter in einem verbrecherischen Krieg benutzt werden.
..."
Der ganze Brief von Alhierd Bacharevič, lektoriert von Tina Wünschmann ist im dekoder nachzulesen, English version translated by Translated by Jim Dingley, Dear Ukrainians, we have a common enemy – dictatorship. Let’s not be divided, Voxeurop
Die Nobelpreisträgerin und Schriftstellerin Swetlana Aleksjewitsch bezeichnete in der Sendung Freedom Premium den Krieg Russlands gegen die Ukraine als ein schlimmeres Übel als den Zweiten Weltkrieg.
Діана Клочко, Kyjiw, Kunstkritikerin, Mitglied des ukrainischen PEN
Diana traf ich das erste Mal persönlich 2010 in Tscherniwzi. Sie arbeite damals für einen großen ukrainischen Verlag und wenn sie Fotos brauchte, stelle ich ihr diese gerne zur Verfügung. Im Sommer 2015 folgte ein weiteres persönliches Treffen in Kyjiw anläßlich einer Veranstaltung der Böll Stiftung, zu der sie mich eingeladen hatte.
Als der Krieg begann, schaute ich täglich ich auf ihr FB Konto, sah, dass sie für 3.3.2021 eine Online-Veranstaltung über Bruno Schulz plant. Gespannt drückte ich abends auf den Link und tatsächlich über Zoom hielt sie auf Ukrainisch einen Vortrag über Bruno Schulz. Weitere Teilnehmerinnen meldeten sich um über Celan, Kafka zu sprechen. Der Krieg wurde mit keinem Wort erwähnt.
Diese unbeirrbare Motivation, das zu tun, was einem wichtig ist hat mich - die in Prag sitzt - aufgebaut. Danke Diana! Sie leben das, wofür ich die Ukraine liebe. Ich hoffe wir sehen uns wieder von Angesicht zu Angesicht.
Milena Findeis
Die Stellungnahme der Kunstkritikerin Diana Klochko (Діана Клочко) Thema Kunst und Propaganda in Zeiten des Kriegs
An online conversation with Yuval Noah Harari and Timothy Snyder, moderated by Anne Applebaum
Victor Pinchuk Foundation, 2.3.2022
JURKO PROCHASKO, ukrainischer Essayist, Germanist, Schriftsteller und Übersetzer, Lemberg
Der ukrainische Essayist, Germanist, Schriftsteller und Übersetzer, JURKO PROCHASKO, hat, vermittelt über seinen Verlag Edition Fototapeta, einen eindringlichen Brief und Lagebericht aus Lwiw geschrieben EIN BRIEF AUS LEMBERG: "...wir müssen stehen, es ausstehen, überstehen..."
"Ihr fragt natürlich vor allem, wie Ihr uns helfen könnt. Ihr könnt so viel für uns tun, weil Ihr grundsätzlich so viel und so gut könnt, jede(r) in ihrem, seinem Bereich, sei es mit Wort oder Tat. Derzeit möchte ich Euch alle darum ersuchen, eh das zu tun, was Ihr am besten könnt: erklären, aufklären, schreiben, publizieren, produzieren, nachdenken, zuhören, hinhören, zuschauen, wegschauen tut Ihr sowieso nie. (...) Liebe Freunde, es kann nun sehr unterschiedlich weitergehen und kommen. Und wir müssen stehen, es ausstehen, überstehen, um dann wieder aufzuerstehen. Uns bleibt nichts mehr übrig."
Jurko Prochasko über LEMBERG in: METROPOLEN DES OSTENS, Zehn Essays Herausgegeben von Angela Huber und Erik Martin, 2021, 1.3.2022
Steve Gutterman Radio Free Europe, Radio Libert
Days after Russian President Vladimir Putin unleashed an unprovoked invasion of Ukraine, casualties are mounting and the prospects for productive negotiations are uncertain. Where might the war be headed, and what are the potential consequences for Russia? Kadri Liik, a senior policy fellow at the European Council on Foreign Relations, joins host Steve Gutterman to discuss in a special edition on Twitter Spaces. February 28, 2022
CLAUDIA DATHE: Große kleine Sprache Ukrainisch
Momentan in aller Munde und doch eine weitgehend unbekannte Größe: die Ukraine mit ihrer höchst lebendigen und eigenwilligen Kultur- und Literaturszene.
Von 2000 bis 2005 habe ich in Kyjiw gelebt und an der dortigen Technischen Universität Übersetzen gelehrt. Zunächst arbeitete ich in meinen Lehrveranstaltungen ausschließlich mit dem Sprachenpaar Russisch-Deutsch. Im zweiten Jahr meines Aufenthalts begann ich – angeregt durch einen vom Goethe-Institut organisierten Workshop zur Dramen-Übersetzung – mit einer Privatlehrerin Ukrainisch zu lernen. Zu dieser Zeit wurde in Kyjiw noch überwiegend Russisch gesprochen, sodass ich, obwohl ich in der ukrainischen Hauptstadt lebte, paradoxerweise wenig Sprachpraxis hatte. In der Dissidenten- und Literaturszene, in die mich der Celan- und Herta-Müller-Übersetzer Mark Belorusez einführte, wurde eine unideologische Zweisprachigkeit gepflegt, die in angenehmer Weise an die Mehrsprachigkeit der Region im frühen 20. Jahrhundert erinnerte.
Der ganze lesenswerte Essay über die literarische Szene in der Urkaine von Claudia Dathe 2 auf TraLaLit, 28.2.2022
Ivan Shvedoff was born in 1969 in St. Petersburg, he lives in Prague and works as an actor often in Germany.
Tote Soldaten
Sie fanden sie fern und doch nahe beim ort.
Erinnerung ruhte neben der beklommenheit dort,
o erde, sie waren dein.
Und düfte lagen in den blumen dort
wie frauen in kleidern.
Wie frauen in verrosteten kleidern.
Und wieder ging ein regen nieder hinterm ort
und reichte den toten wasser durch die blumen
Jan Skácel, Deutsch von Reiner Kunze
Gedichtband "Fährgold für Charon"
Am Morgen des 24.2.2022 greift Putin die Ukraine an. Ich erhalte vom Verleger, Autor, Dichter Lojze Wieser aus Klagenfurt ein Mail mit der Bitte diese Zeilen ins Tschechische zu übersetzen. Alle Übersetzung sind auf dem Blog von Lojze Wieser nachzulesen.
Hier und Dort
Hier Sonne / Dort Bomben
Hier Frieden / Dort Tränen
Hier Zukunft? / Dort Graus!
Wohin gehen wir?
Tu in tam
Tu sonce / Tam bombe
Tu mir / Tam jok
Tu bodočnost? / Tam groza!
Kam gremo?
(c) Lojze Wieser, Slowenisch/Deutsch, 24.2.2022, um 7 Uhr)
Qui e là
Qui il sole / Là bombe
Qui pace / Là pianto
Qui il futuro? / Là orrore!
Dove stiamo andando?
(Italienisch Martina Kafol, Trieste)
Tu a tam
Tu Słónco / Tam bomby
Tu Měr / Tam Sylzy
Tu Přichod? / Tam Hrózba!
Dokal dźemy?
(Übersetzt in die obersorbische Sprache durch Milenka Rječcyna)
Hic et illic.
Hic sol / illic tela,
Hic pax / illic lacrimae,
Hic futurum? / illic miseria!
Quo eamus?
(Latein: Dr. Leo Tepper)
Hierzo en Daarzo
Zonlicht versus Bomzicht
Vreugd versus Verdriet
Morgen versus Eergisteren
Overzicht? - Overleven!
Welke weg waarheen?
(Vertaling in Algemeen Aanvaard Nederlands von Jos Rietveld ao)
Tady a tam
Tady slunce / Tam bomby
Zde mír / Tam slzy
Tady budoucnost? / Tam hrůza!
Kam jdeme?
(Tschechisch: Milena Findeis, Prag)
Here and There
Here sun / There bombs
Here peace / There tears
Here future? / There horror!
Where are we going?
(Englisch: Renate Milena Findeus)
აქ და იქ.
აქ მზე/იქ ბომბები
აქ მშვიდობა/ იქ ცრემლი,
აქ მომავალი? იქ ძრწოლა,
საით მივდივართ?
(Georgisch Diana Anthimiadou, Tbilissi, Tiflis)
Ovdje i tamo
Ovdje sunce / Tamo bombe
Ovdje mir / Tamo plač
Ovdje budućnost? / Tamo strava!
Kamo idemo?
(Kroatisch, Branko Čegec, Zagreb)
Tu i Tamo
Tu sunce, Tamo bombe
Tu mir, Tamo jad
Tu će biti sutra, tamo samo strah
Kamo ćemo mi?
(Bosnisch: Milenko Horanović. Sarajevo, Berlin)
Там і сям
Тут сонце / Там бомби
Мир тут / Сльози там
Тут майбутнє? / Жах там!
Куди ми йдемо?
(Ukrainisch: Alois Woldan, Wien)
Igor Pomerantsev, Station In Kyiv, 22.2.2022
Translated by Frank Williams Recited by John E. WordSlinger, Poetry Train
The station was, I think,
Kiev (Passenger).
We were sitting on suitcases, bags,
with a whole lot of others: families or singles.
Children were playing games on their mobiles,
the adults played grandmother’s footsteps, hide and seek, tag.
The ticket booths were open,
the clerks ready and waiting,
their lipstick fresh.
I knew their names already:
Katerina, Hanna, Oksana Mikolaivna.
But nobody was buying,
They were waiting for news.
That would decide where they would book to:
if Kharkov was the target, then the Carpathians,
if Kherson, then Chernigov,
and if Kiev was bombed, well,
then it would be down into the caves and the catacombs,
the mole tunnels, the underground city of termites.
Wohin, gehst du - Ukraine?
Kyjiw, "Die Sprache des Krieges" Anmerkungen zu einem Symposium der Heinrich Böll Stiftung,
Juni 2015
Krieg
sich ausbreitetend wie ein Lauffeuer
in Worten
in Bildern
in Taten
weckt verborgene Empfindungen
Verbote gelten nicht mehr
zerstören, vernichten, töten
ist jetzt erwünscht,
erlaubt
an der Zielscheibe Feind
mit welcher Triebfeder
durch Projektion
auf Äußeres?
Symbole?
windet, schraubt sich
digital weiter
in- und auswendig
der versteckt und verdeckt
bei einem äußeren Impuls öffentlich wird
Aggression die durchbricht
gewalttätig, grausam
Respekt und Würde ausradierend
einander die Ängste der Täter
und Opfer?
Wo bin ich Opfer?
Wo bin ich Täter?
meinem Gewissen
hinterfragend wird
das Raunen zum Sturm
In Erinnerung an die Veranstaltung niedergeschrieben im April 2018, Prag
© Milena Findeis
FRONTverlauf entlang der Ukraine
Luftfülle
ausgeleert
donnerstags
gewendet
vom Sommer in
den Herbst
Klar gefiltertes Licht
von Kinderaugen
reflektiert
Greise Hände
sammeln
Äpfeln und Pflaumen
zwischen gefallenen
Blättern
nah der
Angriffszone
Schüsse rattern
Panzer rollen
Mit dem Abendrot
verwachsen
Spuren
eingetrockneten Bluts
In manchen Teilen
des Kontinents
Dokumentationen
vom Ersten und Zweiten
Weltkrieg
In anderen Teilen
tote Soldaten
Zivilisten
eingesargt
mit Fahnen bedeckt
liegen im
Frachtraum
von Zügen und Fliegern
Die Gebete
gesprochen in
unterschiedlichen Sprachen
MIR* світ Мир
geht unter
im Parteiapparat
der einander
bekämpfenden
Schwestern und Brüder
Jedem Angriff
und Gegenangriff
folgen Stellungnahmen
nichtig
im Angesicht
der Gefallen, Vertriebenen, Verwundeten
Nächtens
spürbar
das Nahen
des Winters
Grimmig
Eisig
Kalt
Eingefrorene
Herzen
vodkagetränkt
verlangsamen
den Pulsschlag
Wie lange
zucken sie
weiter
---------
kämpfend
grübelnd
zerbrochen?
*Frieden
4.9.2014 - Prag - Czernowitz - Luhansk
Milena Findeis
26.4.2014 In einer Baulücke, auf einer Wiese, in der Nähe der Tramstation "Ruska", Prag, wird von der Galerie Proluka - unter freiem Himmel - ein Friedhof "nachgestellt." Die Darsteller: aus dem Leben "gerissene" Menschen (erschossen gefoltert). Sie haben in Kiew am Maidan , einem Protest gegen die Unterdrückung, der im November 2013 friedlich begonnen hat, 2014 ihr Leben (Stand: 24.4.2014) verloren. 108 Kreuze. 108 Todesanzeigen in ukrainischer und tschechischer Sprache an eine Hausmauer geheftet. Lesend, bevor Regen und Wind, das Papier verwehen wird, stehe ich vor der Mauer um sie im Gedächtnis zu behalten. In menschlichen Kategorien denkend, ist Gewalt keine Lösung. Aber hat das jene, die ihre Macht ausweiten wollen, je interessiert? Milena Findeis
Claudia Dathe, sammelt, Gedichte von Dichtern aus der Ukraine, als Zeichen für eine gemeinsame Ukraine, im Widerstand gegen Putins Kremlin-Regime
"Ein Gedicht für die Ukraine"
vom aus Czernowitz stammenden russischspachigen Dichter und Dissidenten Igor Pomeranzew:
Wieder wühlte ich auf dem Radiofriedhof.
Hörte Gasdanows Husten,
Adamowitschs Schniefen.
Ihre Aufnahmen wurden im Pariser Studio gemacht.
Die dortige Isolierung war miserabel.
Und wen kümmerte schon die Reinheit des Tons
im Zeitalter der Abschaltung?
Mir schien es, als
hörte ich durch das akustische Periskop
in das jenseitige Leben
hinein.
Die Stimme der Kollegen holte ich
aus dem Jenseits ins Diesseits.
Führte sie fünfzehneinhalb Minuten aus
und brachte sie an ihren Platz zurück.
Das Radio versöhnt mit dem Tod.
Ich kann ihn einschalten oder ausschalten.
Er ist greifbar nah -
und überhaupt nicht schrecklich.
Aus dem Russischen von Claudia Dathe
In Erinnerung gerufen die "Gratwanderung" von Jewgenia Ginsburg mit einem Vorwort von Heinrich Böll, 1980 erschienen im Piper Verlag
Goldstaub bedeckt meine Trauer
Seele sinniert über Ukraina
Zuversicht trifft Annektion
Wunschlose Apathie
Zersetzt Hoffnung
Mit Gefühl
4.3.2014 Claudia Dathe: Von Mykola Kuschnir, dem Leiter des Jüdischen Museums in Czernowitz, erreichte das Slavische Seminar der Universität Tübingen heute folgender Brief:
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde und Kollegen,
Die Ukraine steht heutzutage vor der Gefahr eines Krieges. Unser engster Freund Russland entpuppte sich plötzlich als der Feind, dessen Truppen kürzlich die Krim eroberten. Die offizielle Begründung? Es bestehe angeblich die Gefahr für die Russen in der Ukraine seitens der neuen Regierung in Kiev, welche, nach Putins Meinung, ausschließlich von den Nazis, Bandera-Leuten und anderer Nationalisten eingesetzt wurde. Welch ein Blödsinn!
Der Maidan in Kiev kämpfte gegen das korrupte und kriminelle Regime und für die bessere Zukunft des Landes, aber nicht gegen Russland oder irgendein anderes Land. Moskau raubt jetzt den Ukrainern ihr Recht auf Selbstbestimmung und will die neue prowestliche Regierung in Kiev nicht anerkennen. Der Grund liegt auf der Hand. Die erfolgreiche, stabile und demokratische Ukraine gefährdet Putins Regime viel mehr als alle NATO-Raketen.
Der ukrainische Staat erlebt derzeit grundsätzliche Umwandlungen und ist daher schwach wie nie zuvor. Moskau weißt dies gut für sich zu nützen und versucht, Bürgerkrieg in der Ukraine zu provozieren.
Nur der Westen kann in dieser Situation Putins Kriegspläne stoppen, die Ukraine und sich selbst retten. Falls die westlichen Demokratien auch weiterhin nur reden und nichts unternehmen werden, hat die EU keine Zukunft. Das zweite Münchner Abkommen kann nur zur allgemeinen Katastrophe führen!
Vor dem Hintergrund dieser schwierigen Situation in Osteuropa bitte ich Sie/Euch, ihre Mitbürger über die tatsächliche Lage in der Ukraine zu informieren sowie Ihre/Eure Politiker dazu zu bewegen, Druck auf Moskau zu machen, damit es wieder zur Vernunft kommt.
Ich bitte Sie/Euch nicht nur im Namen vieler Milionen Ukrainer, sondern auch im Namen meiner Kinder!
Ich wünsche Ihnen/Euch Frieden und verbleibe mit freundlichen Grüssen
Mykola Kuschnir
Direktor des Jüdischen Museums Czernowitz
Als der Majdan zum ersten Mal geräumt wurde, waren die Menschen fassungslos. Als der Majdan zum zweiten Mal geräumt wurde, haben die Intellektuellen offene Briefe nach Europa geschrieben. Jetzt versucht das Regime die Räumung ein drittes Mal. Das politische Europa sieht weiter tatenlos zu.
"Zutiefst beunruhigt"
von Halyna Kruk
Wir sind alle ZUTIEFST beunruhigt, liebes Europa,
einige wurden sogar ermordet.
Lösch ruhig weiter die brutalen Youtube-Filme,
deine Bürger verkraften die Bilder nicht.
Einige von uns werden dich nicht mehr mit eigenen Augen sehen.
Aber dein Sehvermögen, Europa, hat auch nachgelassen,
denn die blutenden Augen und Schusswunden entgehen dir.
Manche können dir, Europa, nicht mehr die Hand geben,
nimm’s ihnen nicht übel,
sie haben nur noch Prothesen,
und auch zu deiner altehrwürdigen Kultur dringen sie nicht mehr vor.
SCHÜTZ deine Grenzen, Europa,
vor jähen Eindringlingen,
hör sicherheitshalber hin, ob wir noch schreien
unter den Fußtritten, Gewehrhieben und Stockschlägen.
Blindwütig wachsen unsere Kinder heran, Europa,
deine hysterischen und tränenreichen Nachrichten
über herrenlose Hunde
nehmen sie dir nicht ab.
Verzeih ihnen, Europa, sei nicht erstaunt,
wir sind wohl Tiere,
man knallt uns mit Wolfspatronen ab wie Besessene.
Und wie hast du, Europa, derweil deine Zeit verbracht?
Vermisste und Tote registriert?
dir die Hände gewaschen? Auf verlässliche Zahlen gewartet? Dich als Ding an sich versteckt?
Für Frieden und Freiheit!, Es lebe die Mauer!, nur Geld stinkt natürlich nicht
und die Opfer
gibt man preis, es sind ja keine Tauben.
Es gab einige Kommentare zu Halyna Kruks Gedicht "Zutiefst beunruhigt". Deswegen hier ein kurzes Statement von Halyna dazu: Ich möchte von den Europäern nicht falsch verstanden werden, denn wir werden vom zivilgesellschaftlichen Europa ganz stark unterstützt und sind dafür unheimlich dankbar, aber das politische Europa zeigt nichts als tiefe Beunruhigung und erteilt Mahnrufe zur Versöhnung. Das ist genau der differenzierte Umgang mit Handelnden und Situationen, den wir brauchen. Und jetzt endlich ist ja auch das politische Europa in Kiew angekommen. Claudia Dathe
Ich bin direkt jetzt am 18. Februar 17.30 Uhr auf dem Majdan, der Majdan ist von allen Seiten mit Berkut-Leuten umstellt. Die U-Bahn fährt nicht, es gibt viele Verletzte. Ich bin von der Instytutska-Straße aus zum Majdan gekommen. Dort haben Berkut-Leute seit 12 Uhr mittags auf die Versammelten geschossen. Dann begann die Räumung, die Leute sind weggelaufen, es waren viele Frauen darunter, die Menschen wurden von Dächern mit Steinen beworfen. Alle sind zur U-Bahn-Station Arsenalna gerannt. Die Berkutler kamen, haben auf die Leute geschossen. Hinterher kamen die Tituschkis, sie haben alte Frauen mit Steinen beworfen, die Berkut-Leute standen dabei und haben Fotos gemacht. Der Notarzt rauschte vorbei, mit durchstochenen Reifen, aber in vollem Karacho. Leute von der Presse wurden vor unseren Augen und vor den Augen der Polizisten von Tituschkis verprügelt: alle in Helmen und mit rot-weißen Armbinden. Kommt, wer kann!!! gepostet auf Facebook, von Paul Bekezins, ins Deutsche übersetzt von Claudia Dathe.
13.20.2012 Erhalte ein Mail von Igor Pomerantsev, der für eine Lesung nach Kiew, angereist ist: "Die Luft vibriert, explosiv".
9.2.2012 Claudia Dathe bereitet zur Buchmesse in Leipzig 2014 einen Band, Verlag Translit, mit dem Titel "Majdan! Ukraine, Europa" vor, der Texte ukrainischer und westeuropäischer Intellektueller zur aktuellen politischen Situation in der Ukraine zusammenfasst. Vertreten sind unter anderem Martin Pollack, Jurij Andruchowytsch, Halyna Kruk, Serhij Zhadan, Andrij Portnov,Natalka Sniadanko und Andrzej Stasiuk. Unter anderem der Beitrang von Halyna Kruks, der klar und deutlich erklärt, wie die Korruption in der Ukraine funktioniert: eine Muss, um zu verstehen, warum der Wandel so schwierig ist.
Serhij Zhadan
Die ukrainische Revolution im Stellungskrieg
Die Lage in der Ukraine steckt in einer Sackgasse. Dem Präsidenten und seinen Anhängern ist es nicht gelungen, ihren größten Problemfall, den protestierenden Majdan, loszuwerden, aber auch der Majdan ist bislang mit allen seinen Forderungen gescheitert. Zu Beginn der Weihnachtsferien stand es 0:0, während die Demonstranten in Kiew feierten, flogen viele Regierungsanhänger auf Urlaub nach Europa. Offenbar wollten sie sich ein Bild von den potentiellen Gefahren der Europäischen Union machen, die der Präsident und der Premierminister ihren Wählerinnen und Wählern gegenüber immer wieder mit Vorliebe beschwören. Nach der Euphorie der ersten Revolutionswochen haben sich die Demonstranten auf einen langen Winter und auf Dauerprotest eingestellt. Allen Befürchtungen der Opposition und aller Selbstsicherheit der Regierung zum Trotz gehen die Demonstrationen weiter, wenn auch mit weniger Biss als noch Anfang Dezember. Wohl weiß keiner so genau, was weiter zu tun ist, also machen alle das, wozu sie imstande sind: die Demonstranten belagern die Behörden und die Wohnsitze der Beamten, die Sicherheitskräfte und die dazu gehörigen illegalen bewaffneten Trupps provozieren und erzeugen Druck. Janukowytsch hat sich hier, so scheint es jedenfalls, in den letzten anderthalb Monaten ein Problem geschaffen, dessen er nicht mehr Herr wird. Er hat offensichtlich über viele Prozesse im Land, die er eigentlich steuern müsste, die Kontrolle verloren , obwohl er nach außen versucht, das Gegenteil zu beweisen. Die Kavallerieattacke der Opposition hat bislang noch keinen Sieg davon getragen. Die Ukraine befindet sich im Stellungskrieg.
Freitag, 10. Januar. In Charkiw bereiten Aktivisten das Gesamtukrainische Forum der Euromajdan-Bewegungen vor. Am darauffolgenden Tag wollen Vertreter der Protestbewegungen aus dem ganzen Land zusammenkommen. Die Vorbereitung gleicht einem Versteckspiel: Keine einzige öffentliche Einrichtung der Stadt will den Euromajdan-Vertretern Räumlichkeiten zur Verfügung stellen, der endgültige Veranstaltungsort wird geheim gehalten, ich spare mir die Frage an meine Freunde im Organisationsteam, wo wir uns am nächsten Tag versammeln. Morgen werde ich es schon erfahren, denke ich mir. Die prorussischen und prosowjetischen Verbände in Charkiw wollen den ungebetenen Gästen in offener Aggression gegenübertreten. Befreundete Lehrer rufen mich an und erzählen mir flüsternd, dass die Stadtverwaltung für die Staatsbediensteten – Mitarbeiter aus Schulen, Bibliotheken und Staatsunternehmen – am kommenden Tag eine Zwangsdemo angeordnet hat. Die Rechnung ist einfach: Die Majdan-Vertreter bekommen höchstwahrscheinlich keinen Raum für ihre Veranstaltung und werden versuchen, ihr Treffen einfach auf der Straße abzuhalten, und zwar am Schewtschenko-Denkmal, genau dort, wo seit anderthalb Monaten Abend für Abend die Regierungsgegner stehen. Deswegen sollte der Platz – und am besten ein paar Nebenplätze gleich noch dazu – von Staatsbediensteten als Kanonenfutter besetzt sein. Dass diese hier so ziemlich jeden Platz, egal welcher Größe, zu füllen imstande sind, steht außer Frage. Die Charkiwer Stadtverwaltung hat das System der Zwangsrekrutierung von Untergebenen für Demonstrationen perfektioniert wie nirgends sonst: man droht mit Entlassung, setzt finanzielle Stimuli ein und übt ideologischen Druck aus; der Fairness halber muss man allerdings sagen, dass ein Teil der Charkiwer Einwohner den von Präsident Janukowytsch verkündeten Stabilitätskurs tatsächlich unterstützt, wobei Stabilität für sie in erster Linie heißt, dass das Gehalt regelmäßig gezahlt wird. Besser 200 Euro monatlich vom Staat als 300 Euro, um die man kämpfen muss. Von dem bevorstehenden Wochenende konnte man also einiges erwarten.
Wieso sollte das Forum überhaupt in Charkiw tagen? Die Stadt ist eine Hochburg der Partei der Regionen, sie gilt nach wie vor als eines der wichtigsten intellektuellen Zentren des Landes. Das ist ein Stereotyp, das noch aus Sowjetzeiten stammt, als Charkiw ein bedeutender Wissenschafts- und Hochschulstandort war. Obwohl die Stadt auch heute an die 300.000 Studenten hat, wirkt sich das auf die Widerstandsbereitschaft und den Wunsch nach freiem Denken kaum aus. In den letzten 20 Jahren hat sich das Image der Stadt stark verändert, Kommerz und mehr oder weniger legales Wirtschaftstreiben haben Wissenschaft und Bildung nach und nach verdrängt. Die Studenten haben wenig übrig für den Kampf um gesellschaftliche Veränderungen oder den Bau von Barrikaden, sie kümmern sich lieber um ihre persönliche Zukunft und mischen sich nicht ins „Leben der Erwachsenen“ ein. Charkiw hat keine freien Medien, der gesamte Nachrichtenbereich wird von den Machthabern dominiert, typisch sind aggressive Propaganda und das Verschweigen abweichender Meinungen. Laufend finden Proregierungsdemonstrationen statt, zu denen die Studenten von den Dekanen und Rektoren der Hochschulen zwangsverpflichtet werden. Zugleich ist spürbar, dass die öffentliche Empörung derer wächst, die Veränderungen wollen; Unzufriedenheit der Mittelschicht und der Studenten, die sich nicht von der Partei der Regionen instrumentalisieren lassen wollen, wächst von Tat zu Tag. Die Stadtverwaltung tut so, als gäbe es keinerlei lokale Opposition. Selbst als im letzten Monat Tausende Charkiwer auf die Straße gingen, hat sie sich hartnäckig geweigert, das zur Kenntnis zu nehmen. Auf das Euromajdan-Forum, eine Aktion, die eher symbolisch ist, aber doch weite Kreise ziehen kann, mussten die Verantwortlichen indessen reagieren, sei es auf Anweisung von oben, sei es aus eigener Initiative, und sie beschlossen, ihre Muskeln spielen zu lassen. Dass das mitunter gar nicht so einfach ist, steht auf einem anderen Papier.
Samstag, 11. Januar. Am Morgen gehe ich mit einem Freund die Hauptstraße entlang. Zu beiden Seiten eine Menschenkette, alles ältere Leute. Das Wetter ist grauenvoll, es ist trübe und feucht, jeden Moment kann es anfangen zu regnen. Wir fragen einige Frauen nach ihren Berufen. Bibliothekarinnen, antworten sie. Sie halten ein Plakat mit der Aufschrift „Jugend für Janukowytsch“ hoch. Mit dem Plakat schützen sie sich vor dem Wind. Auf die Frage, warum sie hier stehen, antworten sie: „Charkiw ist sauber, nirgends liegt Müll herum, das finden wir gut.“ Die Staatsangestellten halten schon vom frühen Morgen an den potentiellen Versammlungsplatz der Euromajdan-Anhänger besetzt. Die Veranstalter haben noch in der Nacht eine Bühne aufgebaut, von der nun flotte Musik tönt. Wir gehen weiter zum benachbarten Platz der Verfassung. Dort stehen ebenfalls ein paar hundert Janukowytsch-Anhänger. Für alle Fälle. Damit sich die Oppositionellen nicht womöglich hier versammeln. Aus der U-Bahn kommen immer mehr Gruppen älterer Frauen. Wir fühlen uns wie auf einem Rentnerausflug.
Wir treffen uns mit den anderen Leuten vom Organisationsteam. Der geplante Versammlungsort bleibt weiter geheim, aber meine Bekannten versichern, dass alles bestens sei und es klare Absprachen gebe. Was das betrifft, bin ich skeptisch: Am Abend zuvor hatte es der wichtigste lokale Gegenspieler von Janukowytsch, der Oligarch Olexandr Jaroslawskyj, abgelehnt, uns das Pressezentrum in seinem Hotel zur Verfügung zu stellen. Worauf zählten da Absprachen? Wir gehen raus und wollen zur Stelle, an der die Delegierten registriert werden. Auf der anderen Straßenseite stehen zwei Männer. Als sie uns gesehen haben, greifen sie zum Telefon, setzen sich ins Auto und fahren davon. Diese Beobachter begleiten die Teilnehmer auf Schritt und Tritt, die ganzen zwei Tage lang. Langsam wird es spannend.
An der Registrierstelle werden Euromajdan-Anhänger von jungen Leuten mit sportlicher Figur, angeheuerten Sportlern, die hier die Kämpfer mimen, mit rohen Eiern beworfen. Einige Oppositionelle werden getroffen. An einem anderen Ort werden Euromajdan-Anhänger von Leuten aus einem lokalen Kampfklub bedrängt. Die benehmen sich ziemlich aggressiv, aber es kommt vorerst nicht zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung. Die Delegierten bekommen von den Organisatoren die Adresse des Veranstaltungsorts und machen sich auf den Weg. Getagt werden soll in einer Charkiwer Berufsschule. Angeblich ist alles abgesprochen. Kaum sind allerdings die Delegierten dort versammelt, als die Leitung der Schule auftaucht und die Anwesenden auffordert, den Raum zu verlassen. Nach längerem Umherirren versammeln sich die Teilnehmer in einer Kirche, die den Oppositionellen einen Raum überlässt. Endlich kann es losgehen. Sofort hat sich draußen eine Gruppe Teenager im Alter zwischen 16 und 18 zusammengefunden, die den Raum stürmen will. Die Wachmannschaft des Euromajdan wehrt den Überfall ab. Die Szene erinnert an das späte Mittelalter: die Belagerung von Festungen und die Zuflucht hinter Kirchenmauern. Zeit der Religionskriege. Dann trifft die Polizei ein und nimmt die Angreifer fest, mit wenig Enthusiasmus allerdings, viele Beteiligte bleiben in den Straßen rings um die Kirche zurück. Aber vorerst behindern sie das Forum nicht. Von der Kirche gehe ich mit ein paar Freunden zu einer Buchhandlung, in der eine Arbeitsgruppe zur zivilgesellschaftlichen Bildung tagen soll. Es sind so um die 50 Leute, vor der Tür wird eine Wachmannschaft installiert. Die Buchhandlung befindet sich im Untergeschoss, auf der Hauptstraße von Charkiw. Ich weise die Wachleute darauf hin, dass es keinen Notausgang gibt; wenn jemand zum Beispiel einen Molotowcocktail wirft, kommt man nur über den Eingang, von dem aus das Geschoss geworfen wurde, raus. In der Diskussion geht es um die Zivilgesellschaft. Ungefähr eine Stunde später hört man am Eingang Schreie und eine zerspringende Scheibe. Jemand versucht durch den Flur in den Raum vorzudringen. Es formiert sich eine Abwehr. Von oben strömt Tränengas herein. Nach kurzen Handgreiflichkeiten ziehen die Angreifer ab. Auf dem Fußboden klebt Blut, einige Schaufenster sind kaputt. Oleh, unser Wachmann, der den Angriff abgewehrt hat, ist verletzt: seine Nase ist gebrochen, ein Auge hat ein riesiges Veilchen. Ungefähr zwei Dutzend Angreifer seien es gewesen, erzählt er. Wegen des Tränengases müssen wir die Buchhandlung verlassen. Wir suchen uns einen anderen Raum, und die Diskussion über die Zivilgesellschaft wird fortgesetzt. Unsere traditionelle Euromajdan-Demo ist an diesem Abend von zwangsverpflichteten Staatsangestellten und Spezialkampfeinheiten umstellt. Man installiert Lautsprecher und Verstärker, um die Reden der Regierungsgegner zu stören. Zwischen den beiden Gruppen steht Miliz. Die Euromajdan-Demonstranten ziehen zur U-Bahn. Ihnen folgt die Miliz, nach der Miliz die Kampfeinheiten, jede Sekunde zum Angriff bereit. Entlang der Strecke, den diese merkwürdige Kolonne zurücklegt, gehen langsam die Straßenlaternen aus.
Was hat Stadtoberen an diesem Forum eigentlich so gestört? Es ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, um die Aktionen der Demonstranten in den verschiedenen Landesteilen zu koordinieren. Denn der Majdan ist ja nicht nur ein konkreter Platz in Kiew, auf dem Unzufriedene zusammenkommen. Der Majdan ist in diesen anderthalb Monaten zu einem eigenen Format geworden, so etwas wie seinerzeit die polnische Gewerkschaft Solodarnosz. Solidarnosz-Vertreter sind übrigens ebenfalls nach Charkiw gekommen und konnten sich mit eigenen Augen von den Vorteilen der Stabilität überzeugen. Das ist der entscheidende Unterschied zur Orangen Revolution 2004. In Dutzenden von Städten gehen die Leute tagtäglich auf die Straße und demonstrieren. Mancherorts sind das Tausende, anderswo Hunderte, manchmal Einzelne. Aber sie tun es. Tagtäglich. Und sie werden nicht nachlassen, so lange es nötig ist. Auf den ersten Blick sind sie völlig einflusslos. Was können schon vier oder fünf Außenseiter in einem Ort wie Kramatorsk im Donezkbecken ausrichten, die sich Abend für Abend am Schewtschenko-Denkmal treffen? Nichts. Und doch bringen sie die Präsidentenanhänger vor Ort aus dem Konzept. Sie lassen sich nicht entmutigen, obwohl sie Druck und Bedrohungen ausgesetzt sind, obwohl es scheinbar kein konkretes und realistisches Konzept für Veränderungen gibt. Im Zentrum dieser neuen Form von Protest steht keine bestimmte Führungsfigur der Opposition, es geht nicht um diese oder jene Vorlieben innerhalb einer Partei, die Demonstranten fordern den Rücktritt der gegenwärtigen Regierungsspitze als vordergründiges, längst aber nicht letztes Ziel. Es geht ihnen um grundlegende Veränderungen, um Systemveränderungen, um Änderungen im gesamten Land. Das ist eine ganz und gar neue Qualität in den Protesten, die in erster Linie von den zivilgesellschaftlichen Aktivisten ausgehen und die zivilgesellschaftlichen Bewegungen stärken wollen. Außerdem ist die Psychologie der Proteste eine andere. Die Leute, die heute in der Ukraine auf die Straße gehen, erwarten nicht, dass sich alles auf der Stelle ändert. Sie sehen die Situation nüchtern, sie sind auf einen langen Protest eingerichtet. Es geht ihnen nicht darum, dass zum Beispiel morgen der Innenminister oder der Premierminister zurücktritt, die Sache sich damit erledigt hat und sie nach Hause gehen können. Ohne Ergebnis gehen sie nicht nach Hause, und ein Anschieben des Personenkarussells kann nicht als Ergebnis gelten. Zweitens wissen sie ganz genau, dass sie Repressionen zu erwarten haben, wenn sie weggehen; die Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Aktivisten sind seit Beginn der Proteste an der Tagesordnung. Hier hilft nur zusammenbleiben. Das sind die Leute, die zu dem Charkiwer Forum gekommen sind. Wegen ihnen haben die Oberen die Nerven verloren. Ich weiß nicht, was der Grund war für diese zweitägige Hatz, eigentlich wäre es viel besser gewesen, die ganze Veranstaltung einfach zu ignorieren, einfach darüber hinwegzugehen. Durch die Gleichschaltung der lokalen Medien hätte ja kaum jemand von dem Treffen erfahren. Aber die Nerven liegen blank, und die Verantwortlichen in der Stadt haben sich für Einschüchterung und Druck. Aber Einschüchterung will auch gekonnt sein.
Sonntag, 12. Januar. Am nächsten Morgen wiederholt sich die ganze Geschichte. Wir gehen geschlossen zu unserem Treffen, zuerst zur Registrierung, dann zur Arbeitsgruppe Rechtssicherheit. Auf der anderen Straßenseite laufen an die zwei Dutzend Kämpfer der Spezialeinheiten. Einen Überfall wagen sie nicht, es sind zu viele Demonstranten, außerdem ist Miliz da. Lustige Schimpfiraden fliegen hin und her. Die Kampftrupps sind nicht so gut vorbereitet auf den Schlagabtausch, sie rufen meisten was mit Nazismus und Euro-Sodom. Das Gebäude, in dem die Sitzung stattfinden soll, wird von einer Euromajdan-Wachtruppe abgeschirmt. Dahinter steht in Reihen die Miliz. Hinter der Miliz die Kampfeinheiten. Langsam trudeln auf dem Hof Gruppen von Staatsangestellten einen und schwenken Fahnen der Partei der Regionen. Kaum hat die Sitzung begonnen, als im ganzen Gebäude der Strom abgeschaltet wird. Was die Delegierten nicht daran hindert, eine Resolution zu verabschieden. In der Resolution geht es um die „Notwendigkeit, die Ursupatoren aus den Machtpositionen zu entfernen“, um die Koordination und Durchführung weiterer gemeinsamer Aktionen, in der Hauptsache aber darum, wie sich der Majdan auf andere Bereiche ausweiten lässt, um die Formierung einer breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung also, die auf die Lage im Land Einfluss nehmen kann. Danach wird eine Demonstration beschlossen. Der Ort der Demonstration bleibt bis zuletzt geheim. Dadurch lässt sich etwas Zeit gewinnen, und als die Demonstranten auf dem Platz vor der Juristischen Akademie ankommen, ist er noch leer. Es dauert jedoch keine 20 Minuten, da werden aus anderen Straßen die Staatsangestellten und Kämpfer der Spezialeinheiten herbeigetrieben. Immer mehr Miliz und Spezialeinheiten marschieren auf. Kurze Zeit später fahren zwei Autos mit Lautsprechern vor, und die Oppositionellen werden niedergebrüllt. Niedergebrüllt werden allerdings genauer gesagt die Präsidentenanhänger, denn sie stehen direkt vor den Lautsprechern. Die Situation spitzt sich zu. Junge Männer in Trainingsanzügen bewerfen die Demonstranten mit Molotowcocktails und Knallkörpern, sie versuchen zu verhindern, dass die Opposition Lautsprecher aufbaut. Die Miliz will jemanden festnehmen. Ich stehe mit Freunden am Jaroslaw-Mudryj-Denkmal, die Euromajdan-Demonstranten sprechen von hier aus. Von hier, von dieser erhöhten Stelle aus sieht alles aus wie Aufnahmen für einen Fantasy-Film, die Kampfeinheiten, die Spezialeinheiten, die Revolutionäre, die durch die Straßen ziehen, die einen fliehen, die anderen versuchen aufzuschließen, schwarzer Rauch steigt auf, die Propaganda-Apparate plärren laut und versuchen um jeden Preis alles zu übertönen, und in der Ferne laufen die regierungsloyalen Charkiwer, die vielleicht zum ersten Mal in ihren Leben sehen, wie die Machtinhaber mit Oppositionellen umgehen und vor allem wie sie ihre eigenen Anhänger behandeln. Zwei Tage lang im Regen stehen, zehn Stunden am Stück, am Wochenende, unter strengster Bewachung, mit lauter Musik und Knallkörperdetonationen, jeder versteht eben Stabilität auf seine Weise. Die beiden unversöhnlichen Seiten halten jeder die blaugelbe Fahne hoch und geben damit all den Ereignissen eine absurde und surrealistische Note.
Welches Resümee lässt sich ziehen? Eine attackierte Kirche, eine verwüstete Buchhandlung, ein Gebäude ohne Strom. Oleh, der Wachmann, im Krankenhaus, die Lehrer und Bibliothekare nach Hause zurückgekehrt. Keine Kommentare von Seiten der Charkiwer Stadtverwaltung. Keine Vorwürfe von Seiten der Euroaktivisten, die mit eigenen Augen gesehen haben, womit sie es zu tun haben und wogegen sie kämpfen. Man hat das Gefühl, dass schon lange keiner mehr Angst hat, weder vor der Macht, noch vor der Polizei noch vor den Kriminellen. Man ist konzentriert, man hält zusammen, man ist auf den Kampf eingestellt. Aber Angst gibt es nicht. Etwas passiert in diesem Land, etwas geht mit den Menschen vor sich. Nicht mit allen gleichzeitig, nicht so blitzartig, wie man sich das wünschen würde, aber unaufhaltsam und unumkehrbar. Eine Revolution ist nicht immer die triumphale Präsentation des Tyrannen zu Füßen der Masse. Manchmal beginnt eine Revolution mit unscheinbaren Dingen, die aber nicht weniger wichtig sind, mit Änderungen im Denken, Änderungen im Verhalten, mit einer veränderten Haltung gegenüber sich selbst und gegenüber dem eigenen Land.
Das Beste hat an diesem Abend womöglich Oleh, der Wachmann, gesagt. Gegen zehn Uhr abends sind wir zu ihm ins Krankenhaus gefahren, haben den Diensthabenden gefragt, wo er liegt und wie wir dorthin kommen. Den ganzen Tag lang hatten ihn bekannte und fremde Leute angerufen und ihre Hilfe angeboten. Oleh nahm die Sache ganz philosophisch. Als er all unsere Worte gehört hatte, sagte er: „Ich finde das alles nicht so schlimm. Es kam, wie es kommen musste. Alles ist genau richtig. Und alles wird gut.“ Und keiner von uns hat widersprochen.
Aus dem Ukrainischen vonClaudia Dathe ins Deutsche übersetzt (gepostet auf Facebook am 25.1.2014)
Serhij Zhadan wurde am 23. August 1974 in Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik in Charkiw und promovierte über den ukrainischen Futurismus . Seit 1991 prägende Figur der jungen Szene in der Ukraine.
Gedichte von Serhij Zhadan
Offener Brief von Juri Andruchowytsch an alle Europäer
Liebe Freunde,
und vor allem liebe Journalisten und Presseredakteure im Ausland!
In diesen Tagen erhalte ich von sehr viele Fragen und Bitten, die aktuelle Situation in Kiew und in der Ukraine im allgemeinen darzustellen und nach Möglichkeit eigene Zukunftsvision mindestens für die nächste Zeit zu formulieren. Da ich einfach nicht im Stande bin, für jede Publikation einen ausführlichen analytischen Beitrag zu verfassen, hier eine Zusammenfassung, damit jeder von euch die nachstehenden Informationen - je nach dem Bedarf - verwenden kann.
Die wichtigsten Informationen, die ich hier mitzuteilen habe, sind folgende.
Während der nicht einmal vierjährigen Amtszeit von Janukowytsch hat sich die Situation im Staat und in der ukrainischen Gesellschaft bis zum äußersten Spannungsgrad zugespitzt. Noch schlimmer – er hat sich selber in eine Sackgasse getrieben, da er in dieser Situation ewig an der Macht zu bleiben hat und daher seine Macht mit jeglichen Mitteln aufrechterhalten muß. Ansonsten wird er gewzungen die Verantwortung für seine kriminelle Taten zu übernehmen. Seine Ausmaße von Diebstahl und Unterdrückung übersteigen alle Vorstellungen von menschlicher Gier.
Die einzige seit über zwei Monaten von dem Regime angewendete Antwort auf die friedlichen Proteste ist die eskalierende Gewalt, die man als eine Art „kombinierte“ Gewalt bezeichnen kann: einerseits erfolgen Angriffe der Polizeieinheiten auf den Majdan, andererseits werden oppositionelle Aktivisten und die einfachen Teilnehmer der Protestaktionen einzeln verfolgt (Beschattung, Prügeln, Anzünden von Autos und Häusern, Einbrüche in Wohnungen, Verhaftungen, Rollbände der Gerichtsprozesse). Einschüchterung wird zum Schlüsselwort. Da die Einschüchterungen keine Wirkung zeigen und die Menschen immer zahlreicher protestieren, greift die Regierung zu immer brutaleren Repressalien. Eine gesetzliche Basis für die Repressalien wurde am 16. Januar geschaffen, als die vom Präsidenten voll und ganz abhängigen Abgeordneten mit allen erdenklichen Reglements-, Tagesordnungs- , Abstimmungsprozedur- und Grundgesetzverletzungen durch einfaches Händeheben eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet haben, die das Land mit Sicherheit in eine Diktatur und einen Ausnahmezustand führen, auch wenn der Ausnahmezustand gar nicht verhängt wird. Während ich, um nur ein Beispiel anzuführen, diese Zeilen schreibe und weiterleite, kann ich gleich nach mehreren Artikeln vor Gericht erscheinen: für „Verleumdung“, „Aufwiegeln“ u.ä.
Mit einem Wort: werden diese „Gesetze“ anerkannt, kann jeder behaupten, in der Ukraine sei alles verboten, was durch die Regierung nicht erlaubt ist. Und die Regierung gibt ihr Erlaubnis nur für das Eine: den unbedingten Gehorsam der Regierung gegenüber.
Die ukrainische Gesellschaft konnte sich mit solchen „Gesetzen“ nicht zufrieden geben, deshalb hat sie bereits am 19. Januar die Massenproteste fortgesetzt, in denen es um die Zukunft des Landes geht. Heute kann man in TV-Nachrichten aus Kiew Protestierende mit unterschiedlichsten Helmen und in Gesichtsschutzmasken sehen, manchmal halten sie Holzknüppel in den Händen. Sie dürfen nicht glauben, dass Sie „Extremisten“, „Provokateure“ oder „Rechtsradikale“ vor sich haben. Sowohl ich wie auch alle meine Freunde erscheinen nun zu den Kundgebungen in solch einer Ausrüstung. So schnell sind wir – ich, meine Frau, meine Tochter, meine Freunde – zu Extremisten geworden. Wir haben keinen anderen Ausweg, unser Leben und unsere Gesundheit zu verteidigen. Auf uns zielen die Kämpfer der Polizeieinheiten, unsere Freunde werden von ihren Scharfschützen getötet. Die Zahl der Protestierenden, die allein im Regierungsviertel in den letzten zwei Tagen getötet wurden, beträgt nach unterschiedlichen Angaben zwischen fünf und sieben Personen. Die Verschollenen in ganz Kiew zählt man bereits in Dutzenden.
Wir können mit den Protesten nicht aufhören, weil das bedeuten würde, wir nehmen unser Land als ein lebenslanges Gefängnis in Kauf. Die jungen Ukrainer, die postsowjetischen Generationen, ertragen keine Diktatur mehr. Wenn die Diktatur siegt, muss Europa mit der Perspektive rechnen, ein Land wie Nordkorea an der europäischen Ostgrenze zu bekommen. Außerdem wird das für Europa eine Flut von Flüchtlingen zwischen 5 und 10 Millionen bedeuten. Ich möchte niemanden erschrecken. Unsere Revolution ist die Revolution der Jugend. Und diesen nicht erklärten Krieg führt die Regierung vor allem gegen die Jugend. Mit der nächtlichen Dunkelheit erscheinen auf den Kiewer Straßen undefinierte Menschengruppen „in Zivil“. Sie machen hauptsächlich Jagd auf die jungen Menschen, die kleine Abzeichen oder Markierungen des Majdans oder der EU tragen. Die Jugendlichen werden gefasst, in Wälder gebracht, nackt ausgezogen und bei frostigen Temperaturen gefoltert. Ist es Zufall, dass junge Künstler– Theaterdarsteller, Maler, Dichter – auffallend oft Opfer dieser Überfälle werden? Man gewinnt den Eindruck, dass im Lande „Todesschwadrone“ walten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die Besten auszurotten.
Und noch ein bemerkenswertes Detail: in den Kiewer Krankenhäusern werden den protestierenden Verletzten Polizeifallen gestellt. Die Protestierenden (ich muss das noch einmal betonen: die verletzten Protestierenden!) werden in Krankenhäusern aufgegriffen und zu Verhören an unbekannte Orte gebracht. Sogar für die zufälligen Opfer einer Polizeigranate ist es gefährlich geworden, einen Arzt aufzusuchen. Die Ärzte zucken die Achseln und liefern ihre Patienten den sogenannten „Rechtsschützern“ aus.
Zusammenfassend möchte ich sagen: in der Ukraine geschehen massenhaft Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und die Verantwortung für die Verbrechen trägt die jetzige Staatsmacht. Wenn man hier von Extremisten spricht, kann das nur auf die Staatsmacht zutreffen.
Und nun zu den beiden traditionell kompliziertesten Fragen: ich weiß nicht, was weiter geschieht, so wie ich nicht weiß, was Sie heute für uns tun könne. Sie können immerhin diesen Artikel hier weiterleiten und publizieren. Was noch? – Seid in Gedanken bei uns. Denkt an uns. Wir werden auf jeden Fall siegen, wie grausam die da auch vorgehen mögen. Die Ukrainer verteidigen heute buchstäblich mit eigenem Blut die europäischen Werte einer freien und gerechten Gesellschaft. Und meine Hoffnung besteht darin, dass Sie das zu schätzen wissen.
Ukraine: Dieses Drehbuch schrieb ein Irrer
FAZ, 29.01.2014 In der Ukraine ahnt man heute, warum niemand Hitler oder Stalin stoppen konnte. Und es geschieht in der geographischen Mitte Europas.
Von OKSANA SABUSCHKO
"Während ich dies schreibe, erreichen mich immer mehr Berichte über „ukrainische Milizen“, die Russisch ohne ukrainischen Akzent sprechen und in Kiewer Banken Rubel eintauschen. Putin ist offenbar entschlossen, sich an den Ukrainern für seine Niederlage in der Orangenen Revolution vor zehn Jahren zu rächen. Seine Geheimarmee ist schon hier. Falls Kiew zu der Zeit, da Sie dies lesen, in Blut ertrinkt, so bedenken Sie bitte: Dies ist kein Albtraum. Es ist die Realität, aus der Europa nicht so bald wieder erwachen wird."
Julia Calfee "I would like to be remembered as someone who took risks, made decisions based on only her own love and passion, and who had a vision that is particularly personal."
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