Der lange Weg zum gedruckten Buch

Die Idee zu diesem Band von Igor Pomerantsev entstand 2011, doch es fand sich kein deutschsprachiger Verlag. Wer interessiert sich für einen Dichter aus Czernowitz, der seine Gedichte und Radio-Essays in russischer Sprache verfasst, für einen amerikanischen Radiosender arbeitet und seit 1995 in Prag lebt? Seit dem Krieg der Russischen Föderation, der 2014 in der Ostukraine begann, ist die Ukraine - beginnend mit dem 24.2.2022 - ins europäische Bewusstsein gerückt. Gefragt ist, was auf den aktuellen Krieg Bezug nimmt. Der deutschsprachige Literatur-Sprachraum ist ein kleiner Zirkel, die Tore und Zäune, mit denen er sich umgibt, ist so engmaschig, dass sie unsichtbar sind. Mir kommt die Wand von Marlen Haushofer in den Sinn. Hinzu kommt, dass literarische Übersetzerinnen mit Schwerpunkt Lyrik rar sind. 

Igor Pomerantsev, 2023
Der Dichter und sein Buch

Das Buch startet mit  Feldlinie als Einführung

Zu Anfang legt ein Autor ein Buch an und konstruiert es, das heißt, er gibt den Wörtern einen Sinn, indem er sie in einer bestimmten Weise aufreiht. Diese “bestimmte Weise” wird gemeinhin als Stil bezeichnet. Die Konstruktionen sind äußerst vielfältig: ob Palais, Baracke, Flechtzaun, Minarett oder Hundehütte. Manchmal verwendet ein Autor für seine Gebilde tatsächlich Begriffe aus der Architektur: Kathedrale Notre-Dame de Paris, Haus mit Zwischengeschoss, Schloss, Turmspitze. Aber das Interessanteste passiert danach. Die Bücher leben nämlich ihr eigenes Leben, sie “konstruieren” den Autor und gestalten seine Vergangenheit und Zukunft mit. Das ist so ähnlich wie in einem Experiment mit Magneten und Metallspänen. Man verteilt Metallspäne auf einem Blatt Papier und legt einen Magneten daneben. Unter seiner Wirkung nehmen die Metallspäne diese oder jene Form an, bilden Muster oder vollführen einen wirbelartigen Tanz. All das bewirken die beiden Pole, gewöhnlich als Plus- und Minuspol bezeichnet. Auch ein Autor hat sein Magnetfeld und seine Pole: Leben und Tod. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Am Anfang habe ich einfach nur Bücher geschrieben. Später jedoch … Tröpfchen um Tröpfchen, Glas um Glas, Flasche um Flasche lief das Buch Trockener Roter zusammen, später floss es in die Vinothek. Aus einer emotionalen Erklärung gegenüber Verwandten wurde ein ganzes Buch: Familienstand. Auch die jahrzehntelange Arbeit beim Radio blieb nicht fruchtlos, es entstanden Radio S., News, Dienstlyrik, und derzeit formt sich das Radiotagebuch eines Autors. Darüber hinaus hat mich das künstlerisch schlichte Drama der politischen Repressionen in den 1970er Jahren irgendwann doch “an der Gurgel gepackt”, und mit dreißigjähriger Verspätung habe ich mich in meinem Buch KGB und andere Gedichte fremden Schmerz, Grausamkeit, Mut, Niedertracht und Tugend verarbeitet. Das Buch Czernowitz, Tschernowzy, Tscherniwzi begleitet mich seit 40 Jahren. Erst habe ich in der Stadt gelebt, später haben wir die Plätze getauscht, und die Stadt lebt nun schon länger in mir, als ich je in ihr gelebt habe. Von Zeit zu Zeit springt sie mir an die Kehle, und um nicht zu ersticken, schreibe ich über sie. Der einzige Stoff, mit dem ich arbeiten kann, sind Wörter. Aber gibt es auf der Wort etwas Zuverlässigeres als Wörter?

Igor Pomerantsev 

Buchcover Czernowitz 2023
Umschlag gestaltetvon Oleg Liubkiwskij

Weiter geht es unter
Interieur mit
Czernowitz. Erinnerungen eines Ertrunkenen / übersetzt von Valerie Engler
Kindheit in Czernowitz / Petro Rychlo
Das Buch Czernowitz / Claudia Dathe
Zum Mythos Czernowitz / Claudia Dathe
Unterwasserfotografie / Christiane Körner
Der Puls der Uhren / Christiane KörnerDie besten Filme unseres Lebens / Claudia Dathe
Zur Musik von Chopin / Claudia Dathe
Jazzimprovisationen - P 16 / Claudia Dathe
Gesellschaft zum Schutz der Kindheit / Claudia Dathe
Pawel Lwowitsch / Petro Rychlo

Exterieur mit
Sommererinnerung / Claudia Dathe
Fürsprache für die Nicht-Muttersprache / Claudia Dathe
Mit den Augen der nationalen Minderheit / Claudia Dathe
Der Duft gebratenen Fisches / Christiane Körner
Zur Weinveredelung in der Ukraine / Christiane Körner
Familienalbum / Claudia Dathe
Wie Tag und Nacht / Christiane Körner
Mykola der Fantast - Reisen und Abenteuer mit Nikolai Gogol / Christiane Körner
Das Recht zu lesen / anonym
Mein Element der Freiheit: Radio / Erich Klein
Andere Stimmen, andere Studios / Christiane Körner
Der Jardin du Luxembourg: Schatten und Lichtflecke / Claudia Dathe
Prager Ansichten eines russischen Dichters aus Czernowitz / Christiane Körner

Lyrik mit
KGB und andere Gedichte / Erich Klein
Radio Lyrik / Claudia Dathe
Unbeholfene Entgegnung / Beatrix Kersten
Liebe und Tod / Chrystyna Nazarkewytsh

Im September verwandelt sich mein Herz in eine Kastanie / Claudia Dathe

Verlag Meridian Czernowitz 2023

Gedruckt in der Ukraine
ISBN 978-617-8024-42-0



Was verbindet mich mit dem Autor, Dichter Igor, dem wie mir - auch nach 30 Jahren - Prag zum Aufenthaltsort in der selbst gewählten Fremde wurde? Die Muttersprache ist es nicht, seine ist Russisch, untermalt vom Rumänischen, Ukrainischen aus Czernowitz, wo er den Großteil seiner Kindheit und Jugend verbrachte und englische Philologie studierte. Meine ist das Deutsche, mit steirischem Akzent - nahe dem Windischen. Seine Eltern waren, obwohl es verboten gewesen ist, an zeitgenössischer Literatur, dem Weltgeschehen interessiert. Dafür reichte der Wortschatz meiner Eltern nicht: deren Herkunft, arbeitsam, bildungsfern, arm.
Er übernachtete in seiner Jugend heimlich in Bibliotheken, um Bücher zu lesen. Ich arbeitete,  neben dem Besuch der Handelsschule, auf einer Rennstrecke in Zeltweg, um meine Familie finanziell zu unterstützen. Mit 18 zog ich in die erste eigene Wohnung, er unterrichtete in der Bukowina, zog weiter nach Kyiv. Er betätigte sich literarisch im Verborgenen, ich nahm durch den Formel-1-Zirkus Kontakt zur internationalen Motorsportwelt auf. Ein gemeinsamer Nenner: die englische Sprache. Während meiner Jugend war ich an der politischen Szene nicht interessiert, er veröffentlichte im Samisdat. Als er vom KGB in Odessa verhaftet wurde, fand er sein erstes Exil, mit Frau und Sohn, in Deutschland. Ich zog weiter nach Zell am See, dort fand ich nebst Ski-Weltcuprennen und Tennis-ATP-Turnieren - dank meines Bruders Tscho - Zugang zur Literatur durch Peter Handkes Das Gewicht der Welt. Igor war nach London weitergezogen, um für die russische BBC-Redaktion zu arbeiten. Er traf Literaten, Philosophen aus aller Welt, führte Gespräche über zeitgenössische Literatur, schrieb Hörspiele, Gedichte und Essays. Während meiner Frankfurter Jahre lernte ich Hans F. Krebs, Rupert Riedl und Helmut A. Gansterer kennen. Sie weiteten mein Weltbild. Über mein Interesse an Franz Kafka las ich erstmals von Milena Jesenská, tauchte ein in die Gedichte von Reiner Kunze, seinen Übertragungen aus dem Tschechischen von Jan Skácel, den Schriften von Václav Havel und den Romanen Milan Kunderas. Das weckte meine Sehnsucht nach Prag. Igor wechselte von der BBC zu Radio Free Europe nach München, als der amerikanische Sender seinen Standort 1995 von München nach Prag verlegten, zog Igor nach Prag. Ich war schon 1991 in Prag gelandet.
Anlässlich des Prague Writers' Festivals kreuzten sich  unsere Wege erstmals im Jahre 2007. Für eine Veröffentlichung im Wespennest wurden Fotos von Igor benötigt, ich sprang als Amateurin ein. Dem folgten weitere Gespräche und eine intuitive Zusammenarbeit. Da Igors Bücher in russischer Sprache erschienen, nutzte ich den Zeitzug, um Übersetzungen ins Englische und Deutsche ins Netz zu stellen. An einem Prager Küchentisch, ermutigte ich Igor, nach dem Tod seines Bruders, eine Einladung nach Czernowitz anzunehmen. Sein Neffe, ein Unternehmer, der nach der Weltfinanzkrise 2007-2008, nach neuen Ufern Ausschau hielt, landete dank seiner an Literatur begeisterten Mutter und seinem Onkel Igor bei Paul Celan. Daraus entstand 2010 das erste Literaturfestival Meridian Czernowitz, das auch als eigenständiger ukrainischer Buchverlag tätig ist. Die Gestalterin der ersten beiden Festivals, Iryna Vikyrchak, zog nach Polen weiter. 2012 moderierte ich eine Veranstaltung über den “Mythos Czernowitz” in Leipzig. Im Herbst 2022 fuhr ich gemeinsam mit Claus Löser nach Tscherniwzi, um zu sehen, was sich vor Ort -  in den letzten zehn Jahren verändert hat. Gefreut hat mich das Wiedersehen mit Petro Rychlo, der u.a. das Gesamtwerk von Paul Celan ins Ukrainische übersetzt hat.

Im Jahr 2023 schaffte ich es nicht, die Leipziger Buchmesse zu besuchen, wo Igors Buch Exterieur Czernowitz Interieur vorgestellt wurde. Bei einem Treffen im Juni 2022 diskutierte ich mit Igor über das jetzt vorliegende Buch, der von mir vorgeschlagene Titel und dessen Struktur wurde vom Verlag Meridian Czernowitz übernommen. Stimmig ist die Gestaltung des Umschlags durch den aus Czernowitz stammenden Künstler Oleg Liubkiskij.

Tauchen Sie ein in die Wörter des Dichters, seitenweise - im gedruckten Buch blätternd, das gut in der Hand liegt, papieren mit seidigem Glanz. Das eine oder andere finden Sie auf dem Zeitzug, die Suchfunktion hilft!

Prag, 25. Mai 2023
Milena Findeis

 

 

 

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