"Bitte verzeih die Schreibfehler, ich werde halt schon alt", PS von einem Brief geschrieben am Dienstag 14. Oktober 1986

 

 

Sie wurde 94 Jahre. An ihrem 114. Geburtstag öffne ich den Karton mit Briefen, der alle Umzüge mitmachte. Ordne die Briefe der Großmutter, Jahr für Jahr. Das Foto von ihr wurde 1936 von Photo u. Verlag F. Wurm, Feldbach - Gleichenberg angefertigt. Sie schenkte es ihrem Ehemann, der am 2.9.1939 einrückte. Er trug das Foto während seines Einsatz im Zweiten Weltkrieg immer in seiner Brusttasche. So weit mir bekannt, ging es für ihn von Graz aus über Prag Richtung Russland. Am 18.6.1939 wurde die Tochter (meine Mutter), am 16.8.1940 der Sohn geboren. Nach den ersten Luftangriffen auf Graz fand Großmutter Unterschlupf bei der Schwester ihres Ehemanns in Fehring, Johnsdorf.

Als Kind (das Kind auf dem Foto zeigt mich, 1959 in der Küche meiner Oma), Jugendlichen erzählte sie mir von jener Zeit, der Arbeit auf den Feldern, der Bedrohung durch die russischen Besatzungssoldaten, der Angst um die Angehörigen im Krieg. Der 1908 Geborenen blieben die Erinnerungen an den Hunger, den sie als Kind am eigenen Leib während des Ersten Weltkriegs spürte, ein Leben lang gegenwärtig. So, dass es mir bis heute nicht möglich ist, Essen wegzuwerfen. Ihre Mutter, eine Geschäftsfrau, nicht verheiratet hat sie unmittelbar nach der Geburt einer Pflegefamilie übergeben. Zeit ihres Lebens hatte Großmutter ein distanziertes "Sie" Verhältnis zur Mutter, den wechselnden Pflegefamilien. Über den Vater bewahrte ihre Mutter Stillschweigen, "unbekannt" stand im Taufschein. "Daheim fühlte ich mich erstmals als ich meinen Mann im Alter von 30 Jahren kennenlernte," davon erzählte sie, es ist in ihren Briefen zu lesen. Vier Jahre Grundschule und danach Dienstmädchen, Aushilfskraft in Geschäften. Sie hat bis zu ihrem 70. Lebensjahr bei den Bauern zur Erntezeit ausgeholfen, sich damit ein Körberlgeld verdient, das sie sofort an ihre Enkelkinder weitergab..

Es gibt wenige Schwarz-weiß-Fotos von ihr, den beiden Kindern, dem Ehemann. Was mir Freundinnen, Freunde, Bekannte aus der Ukraine berichten - holt ihre Erzählungen wieder aus der Erinnerung.

In meinem Gedächtnis verankert: Als der Prager Frühling im August 1968 von Panzern  aus der Sowjetunion niedergerollt wurde, sah ich als Elfjährige den Vater zum Abschied in voller Montur, Tarnanzug, Tornister, Gewehr. Er wurde - als Berufssoldat des österreichischen Bundesheeres - zur Verteidigung an die Grenze gesandt. Wir wohnten in einer Siedlung, verwaltet vom Heer, die unmittelbar an die Kaserne anschloß. Von meinem Fenster sah ich, wie die auf Waggons verladenen Panzer die Kaserne verließen. 1982  als der Fallklandkrieg ausbrach, wanderte ich vom Retzer Soldatenfriedhof zum Grenzverlauf Richtung Tschechoslowakei. Die Wachtürme mit  schwer, bewaffneten Soldaten sicherten die Grenze ab. 1990 begann am Balkan, im ehemaligen Jugoslawien, ein blutiger Krieg. Der Erste und Zweite Golfkrieg. Afghanistan, Syrien. Der verschwiegene Krieg gegen die Kurden. Das von China beherrschte Tibet. Die Übersicht der Berghof Foundation zeigt weltweit Kriegsgebiete an. 

 

Der  intensive Schriftverkehr mit meiner Großmutter begann 1977. Ich verbrachte als Kind, nachdem ich 1964 mit Eltern und Geschwister nach Zeltweg umgezogen war, die meiste Zeit der Ferien bei den Großeltern. Sie wohnten zur Miete beim ortsansässigen Kaufmann. Es war als Zwischenlösung nach Ende des Krieges gedacht: Eine Küche, ein Zimmer unter dem Dach, ohne Wasseranschluß. Dort wohnten meine Großeltern, Eltern, mein Bruder und ich.  Im Jahre 1977 erhielten sie eine Gemeindwohnung.1980 starb der Großvater. Das Kaufhaus, das Lagerhaus (Foto) mit der einstigen Unterkunft der Großeltern wurde Anfang der 90er Jahre abgerissen.

 


1995, Milena mit Grete Klinger, fotografiert von Tscho

Ab 1992 dünnt sich der Schriftwechsel zwischen meiner Großmutter und mir aus, da hatte sie erstmals in ihrem Leben einen Telefonanschluss. Ich hatte als Alleinerziehende und Vollberufstätige oft einen 18 Stunden Tag. Die Telefonate lösten die Briefe ab. Zeit meines Lebens habe ich meinen "Urlaub" dafür verwendet, sie in Graz-Pirka und meine Eltern in Zeltweg zu besuchen. So lernte mein Kind sein Mutterland kennen und neben seiner Vatersprache "Steirisch". Wenn ich jetzt nach Graz fahre führt mich der erste Weg zum Steinfeldfriedhof, zehn Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt, wo sie und ihr Ehemann, ihre Ruhestätte gefunden haben. Mein Vater wurde 1995, mein Stiefvater 2022 in Zeltweg beigesetzt. Die innere Zwiesprache mit den Verstorbenen wird weiter geführt.

Die Briefe von Großmutter
Mehr als 200 Briefe geordnet, wieder gelesen

Der heutige Tag, das Lesen und Ordnen der Briefe war eine Zeitreise mit ihr, der ganzen Familie. Nach dem Tod ihres Ehemanns im Jahre 1980 ist sie für sich, eigenständig, geblieben. Erst in ihrem letzen Lebensjahr lebte sie bei ihrem Sohn, betreut von ihrer Schwiegertochter. Sie starb so, wie sie es sich gewünscht hatte: im eigenen Bett, mitten im Schlaf. Weder die Großeltern, noch die Eltern hatten ein eigenes Haus. Sie wohnten zeitlebens zur Miete, darin bin ich ihnen gefolgt. Besitz, hat mich nicht interessiert. Als "arm" habe ich mich nie empfunden, wir hatten uns und standen einander bei, das war und ist unser "Reichtum".

Nächste Woche setze ich mich wieder in den Zug Richtung Zeltweg um meine 84 jährige Mutter in Zeltweg zu besuchen. Ende August ist wieder eine Fahrt nach Czernowitz geplant, jener Stadt die bei der ersten Begegnung Erinnerungen an Kindheitstage in Graz-Pirka weckte: dort saßen Menschen abends auf einer Holzbank draußen um miteinander zu reden. 

 

Greiser Blick
schwerer Gang
enges Herz
vom Eifer der Suchtliebe
   einverleibt
   abgegrenzt

Das Wi(e)der
nicht holbar
von gestern ins heute

Gegenwärtig
ein Atem erlischt
   verschattetes LIcht

Sterben
    ein Wort
laut gebrüllt?
verschwiegen?

Am endenden Rand
                Verzeihen

 

 

Prag, 9.7.2022 Milena Findeis

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