Prag, am Morgen des 15. März 1939


©Milena Jesenská, aus dem Tschechischen übersetzt
von Lisette Buchholz, Přítomnost, 22. März 1939



alles-ist-lebenDie großen Ereignisse, wie gehen sie vor sich? Unerwartet und schlagartig. Sind sie aber eingetreten, stellen wir jedesmal fest, daß wir nicht überrascht sind. In uns schlummert ein ahnendes Wissen kommender Dinge, das nur übertönt wird durch Verstand, Willen, Wunschdenken, Angst, tägliches Getriebe und Arbeit. Sobald wird uns all dessen bis auf unser innerstes Gefühl entledigt haben, wird uns schlagartig klar: Ich hab's ja gewußt. Nicht umsonst laufen heute so viele von uns herum mit einem "Ich hab's ja geahnt, ich hab's ja gesagt". Ich glaube ihnen. Alle haben wir es geahnt. Und hätten wir auf unsere Stimme gehört, wenn wir allein zu Hause saßen oder matt in der Dämmerung erwachten, und hätten wir unsere Gefühle in Worte zu kleiden vermocht - Gefühle sind echter als die oft verzerrten bewußten Überlegungen -, dann hätten wir sagen können: wir sehen es kommen. Doch in der Logik der Dinge liegt gleichzeitig ihre Unlogik. Auf irgendein einschneidendes Ereignis wartet jeder im Leben: Glück, Not, Krankheit, Hunger, Tod. Wenn es aber eintritt, erkennt er es nicht. Das einzige, was er weiß, ist, daß es sich seiner ganz bemächtigt, ohne ihm Zeit oder sonst eine Möglichkeit zum Handeln zu lassen.

Als am Dienstagmorgen um vier Uhr das Telefon läutete, Freunde und Bekannte anriefen und der tschechische Rundfunk anfing zu senden, sah die  Stadt unter unseren Fenstern so aus wie in jeder anderen Nacht. Die Lichter zeigten dasselbe Muster, die Kreuzungen bildeten dasselbe Kreuz. Nur, daß schon ab drei Uhr nach und nach die Lichter angingen: bei den Nachbarn, gegenüber, unten, oben, schließlich die ganze Straße entlang. Wir standen am Fenster und sagten uns: auch sie wissen es schon. Wir weckten andere durchs Telefon: wißt ihr schon? Ja, sie wußten. Fahle Dämmerung über den Dächern, hinter den Wolken ein blasser Mond, unausgeschlafene Gesichter, eine Tasse heißen Kaffees und regelmäßige Meldungen übers Radio. So kommen die großen Ereignisse zu uns: sacht und unerwartet.

Die deutschen Zeitungen brachten eine Reportage über die Soldaten auf dem Weg nach Prag: Still liegt die Stadt in der vorfrühlingshaften Dämmerung, den Männern in der Wagenkolonne klopft das Herz: wie wird es drinnen sein? Wie werden sich die Menschen in diesen fremden Straßen verhalten? In der Vorstadt halten sie den erstbesten Fußgänger an. Es ist ein Arbeiter, der zur Arbeit geht. Sie erkennen auf den ersten Blick, daß er alles weiß. Er bleibt ganz ruhig und zeigt ihnen still und gelassen den Weg.

Wie immer, wenn sich Großes begibt, verhalten sich die Tschechen beispielhaft. Dem tschechischen Rundfunk sei Dank für die knappe Sachlichkeit, mit der ausdauernd und geduldig alle fünf Minuten gemeldet wurde: Das deutsche Heer rückt von der Grenze nach Prag vor. Verhaltet euch ruhig. Geht zur Arbeit. Schickt eure Kinder zur Schule.

Ganz wie sonst, traten Schwärme von Kindern um halb acht den Schulweg an. Wie sonst fuhren Arbeiter und Angestellte zur Arbeit, und wie sonst waren die Straßenbahnen überfüllt. Nur die Menschen waren anders. Sie standen da und schwiegen. Noch nie habe ich so viele Menschen schweigen gehört. Auf den Straßen gab es keine Ansammlungen. Es wurde nicht diskutiert. In den Büros hob keiner auch nur den Kopf vom Schreibtisch. Ich weiß nicht, worin dieses einheitliche Verhalten von Tausenden wurzelt und woher mit einem Mal der übereinstimmende Rhythmus so vieler Menschen entspringt, die sich nicht kennen: am 15. März 1939, um fünf nach halb neun, rückte das Heer des Deutschen Reiches auf der Narodní ein. Auf dem Bürgersteigen strömten die Menschen wie gewohnt. Niemand sah hin, niemand drehte sich um. Die deutsche Bevölkerung aber hieß das deutsche Heer willkommen.

Auch die deutschen Soldaten verhielten sich uns gegenüber anständig. Überhaupt ist es sonderbar, wie anders die Sache gleich aussieht, wenn sich eine Formation in Einzelpersonen auflöst: dann steht ein Mensch dem anderen gegenüber. Auf dem Wenzelsplatz traf ein tschechisches Mädchen eine Gruppe deutscher Soldaten. Es war bereits der zweite Tag des Einmarsches, unser aller Nerven waren angegriffen. Und weil der Mensch erst am zweiten Tag das Geschehene so richtig ermessen und begreifen kann, schossen ihm die Tränen in die Augen. Da geschah etwas Merkwürdiges: einer der Soldaten - ein ganz einfacher, gewöhnlicher - trat auf es zu und sagte: "Aber Fräulein, wir können doch nichts dafür ...!" Es klang, als wolle er ein kleines Kind beschwichtigen. Er hatte ein deutsches Gesicht mit ein paar Sommersprossen, leicht rötliche Haare und steckte in der deutschen Uniform. Ansonsten unterschied er sich durch nichts von unseren Soldaten - auch er ein einfacher Mann, seiner Heimat ergeben. Und so standen sich die beiden gegenüber "und konnten nichts dafür ...". In diesem einfachen, schrecklich banalen Satz liegt der Schlüssel zu allem.

In einem Wagen der Straßenbahn spielte sich folgendes ab: Ein junger Tscheche mit einem Streifen am Ärmel führte das große Wort: was wir jetzt unternehmen und wem wir's jetzt zeigen würden, daß jetzt endlich aufgeräumt und kurzer Prozeß gemacht würde. Außer dem Streifen trug er ein Hakenkreuz am Revers seines Mantels. Durch seine Sprüche verstummen schließlich die anderen Gespräche, bis im ganzen Wagen tiefes Schweigen herrschte. Da erhob sich mit einem Mal ein deutscher Offizier in der Ecke, trat auf den Grünschnabel zu und fragte auf tschechisch: "Sind Sie Tscheche?" Aufbrausend und ungeheuer selbstbewußt kam die Antwort: "Ja, ich bin Tscheche." Darauf nahm ihm der Offizier das Abzeichen mit dem Hakenkreuz ab und sagte ganz ruhig und bestimmt: "Dann haben Sie kein Recht, so etwas zu tragen."

Sehen Sie, es gibt Augenblick, da möchte man zu einem deutschen Offizier hingehen und sagen: Ich danke Ihnen.

Vor ein paar Tagen hatte ich ein Gespräch mit einem Deutschen, einem Nationalsozialisten, versteht sich. Er verbreitete sich ausführlich und mit Bedacht über die Situation der Tschechen sowie über die Vor- und Nachteile, die uns seiner Ansicht nach daraus entspringen. Da heute noch alles im Fluß ist, und selbst gut informierte Leute nicht mehr als bloße Meinungen zu diesem Thema äußern können, sind diese Ausführungen hier nicht von Interesse. Interessant ist aber, was er über die Tschechen dachte. Geradezu verlegen fragte er mich: Wie erklären Sie mir, daß eine derart große Zahl Tschechen zu uns kommt und mit Heil Hitler grüßt?

Tschechen? Das muß ein Irrtum sein.

Es ist keiner. Sie kommen zu uns auf die Ämter, heben den rechten Arm und sagen Heil Hitler. Warum? Ich könnte Ihnen von einem Schriftsteller erzählen, der sich eifrig darum bemüht - schon jetzt zwar sehr pressiert - daß seine Dramen in Berlin aufgeführt werden. Ich könnte Ihnen von vielen erzählen, die uns im Übereifer mehr entgegenkommen, als sie müssen, ja sich geradezu abstrampeln. Wissen Sie, jeder Deutsche hat Verständnis für Nationalstolz und nationales Rückgrat. Unterwürfiges Verhalten ruft bei einem Deutschen von heute nur ein mitleidiges Lächeln hervor, glauben Sie mir.

In nur zwei Tagen hat sich das Stadtbild bis zur Unkenntlichkeit verändert. In den Kneipen sitzen Männer in Uniformen, die wir nicht einmal von Bildern her kennen. Durch die Straßen fahren Wagen, die wir nie zuvor gesehen haben. Sie fahren hierhin und dorthin, wissen immer, was sie zu tun haben - kurz - sie verhalten sich entschieden und zielbewußt. In den Buchhandlungen gehen vor allem Prager Stadtpläne und französische und englische Bücher. Soldaten sind in Gruppen unterwegs, bleiben vor den Schaufenstern stehen, betrachten sie und unterhalten sich. Bei alledem ist nicht ein Rädchen, eine Feder oder eine Maschine stehengeblieben.

Am Altstädter Ring liegt das Grab des Unbekannten Soldaten. Heute ist nichts von ihm zu sehen, nur ein riesiger Berg Schneeglöckchen. Eine seltsame Kraft, der insgeheim die Schritte der Menschen lenkt, führt Scharen von Pragern hierher; jeder legt einen Strauß Schneeglöckchen an diesem kleinen Grab großer Erinnerungen nieder. Den Umstehenden rinnen die Tränen über die Wangen. Nicht nur Frauen und Kindern: auch Männern, die Tränen nicht gewohnt sind. Auch das ist wieder ausgesprochen tschechisch: man hört kein Wehklagen, spürt weder Furcht noch Verzweiflung oder sonst einen Ausbruch heftiger Gefühle. Da ist nur Trauer. Irgendwie muß sie sich äußern, ein paar hundert Augen gehen von ihr über. So entstehen wohl nationale Gebräuche, so mögen die Grundsteine zu langjährigen Traditionen gelegt werden. Jeden 15. März werden tschechische Mütter mit ihren Kindern hingehen und am Grab des Unbekannten Soldaten einen Strauß Schneeglöckchen niederlegen. Das gräbt sich ins Bewußtsein der Menschen ein als großer Opfergang.

Im Rücken der trauernden Menge sah ich einen deutschen Soldaten vorbeigehen, der stehenblieb und salutierte. Er blickte in die vom Weinen geröteten Augen, auf die Tränen und auf den zugeschneiten Berg Schneeglöckchen. Er sah: das Volk weinte, weil er da war. Und salutierte. Er verstand offenbar, warum wir trauerten. Ich blickte ihm nach und dachte an die "Große Illusion": werden wir wirklich nebeneinander leben - Deutsche, Tschechen, Franzosen, Russen, Engländer - ohne uns gegenseitig Leid anzutun, eines Tages die Staaten so zu verstehen, wie wir als einzelne uns verstehen können? Werden je die Grenzen zwischen den Ländern fallen, so wie zwischen uns, wenn wir uns näherkommen? Wie schön wäre es, das zu erleben!

Milena Jesenská (* 10. August 1896 in Prag; † 17. Mai 1944 im KZ Ravensbrück) war eine Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin. 

 

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