Wien: Eine geordnete Stadt unterfordert

Milena Jesenská

Wien: Eine geordnete Stadt unterfordertSeltsam, dass jede Stadt ihr Gesicht hat, ihren Geist, ihren klaren, deutlichen Ausdruck. Man findet ihn jedoch nicht, wenn man mit einem Reiseführer von einer Sehenswürdigkeit zur anderen zieht, die Namen der der repräsentativen Gebäude erfährt und die Sammlungen und Denkmäler betrachtet. Schlendert man aber eine Weile durch die Straßen, beobachtet einen Schutzmann, spricht man einem Dienstmann, einer Krämerfrau, einem Milchmann, und am Ende gründlich und lange mit einem Droschkenkutscher, rundet sich das Bild von der Seele einer Stadt ab. In Berlin kann man zum Beispiel mit einem Kutscher gar nicht reden und ein bisschen philosophieren, weder über Politik noch über Liebe, ein Berliner Kutscher ist einsilbig, erpresserisch, unfreundlich. Dagegen ist ein Wiener Kutscher goldig, lieb, wie alle Wiener dieser Schichten. Es ist einfach unmöglich, dass jemand keine Zeit zum Plaudern hat. Ein Beamter auf dem Steueramt fragt nach der Gesundheit der Kinder, und eine alte Marktfrau erzählt, dass ihr Seliger an Gicht gelitten hat. Deshalb ist mir die Stadt sympathisch, manchmal erscheint sie mir freiwillig auch lächerlich. Vielleicht ist sie stumpf oder sogar in Zersetzung begriffen, nicht energisch; aber die Menschen sind lieb, gut und fröhlich. Sie wollen, ja, offenbar wollen sie anderen etwas Liebes antun. So kommt es vor, dass mich der Schaffner in der Elektrischen begrüßt und meinen Hut lobt, aber nicht aufdringlich, unangenehm, er will damit nichts bezwecken, er will nicht mehr und nicht weniger sagen, als dass ich einen hübschen Hut habe, der mir stehe, und darüber freut er sich. Ist das nicht reizend?


Niemals geschieht es, dass jemand, der um etwas bittet, auf der Straße grob abgefertigt wird. Fragt man nach einer Adresse, kommt jeder mit und plaudert, über das Wetter, über Valuten, über die neue Operette, er drückt einem zum Abschied die Hand, freut sich darüber, in dem hässlichen Leben eine Gelegenheit zu einem Schwatz gefunden zu haben, und geht froh gestimmt weiter. Alle, auch die "gut gekleideten Leute", beginnen leicht und ungezwungen ein Gespräch, freuenden sich mit jedem an, der zufälligerweise an der Trambahnstelle, am Postschalter, in einer Schlange nach Eintrittskarten wartet. Ich weiß nicht, was in Wien geschehen müsste, damit das Volk darüber keine Witze machte. Einen runden, allerliebsten Witz, den schon der Dialekt von selbst hervorbringt. Steht eine Elektrische eine halbe Stunde im Schnee, amüsiert man sich nirgendwo besser als in dieser Bahn. "A Kutscher kann a jeder wern, aber fahren kann man nur in Wean", stimmte unterfängt der ganze Wagen an, als die Elektrische wieder einmal "nicht weiter wollte". Anderswo, in jeder anderen Stadt, würde die Regierung mit Schimpfwörtern überschüttet werden; in Wien lachen die Leute. Ist es schlechter so, ist es besser so, wer weiß das? Aber lustiger ist es allemal. Und Lustigkeit ist der erste Grundsatz Wiens. Lustig um jeden Preis, lustig trotz alledem. Nie werde ich begreifen, woher die Menschen diesen Frohsinn nehmen. Die Preise für Teigwaren, Kohle, Verkehrsmittel steigen täglich. Wirksame Hilfe kommt von nirgendwo. Das Leben ist bitter, schwer, voller Sorgen, voller Fehlschläge, voller Hoffnungslosigkeit. Und doch sieht man nirgendwo Verzweiflung. "Noch a por Johr werden wir uns gfretten, es wir schon besser wern", sagte ein weißhaariger Greis zu mir, währen er einen Rucksack mit Kartoffeln schleppte, nach denen er zwei Stunden gefahren war. Und das mit solcher Vertrauensseligkeit und Fröhlichkeit und guter Laune, als wäre er zwanzig Jahre alt und hätte Zeit genug zum Leben.

Diese gute Laune findet man überall, in einem teuren Nachtlokal und in einer Schenke in Grinzing, wohin die Wiener zu ihrem berühmten Heurigen wandern. Zu der guten Laune gehört ein Klavier, gehören eine Gitarre und sentimentale Lieder. Wie sie gern lachen, weinen sie auch gern. Der Wiener hat Sinn für Vergnügen, da knausert er nicht. Er ist ein gutmütiger Materialist und ein leichtsinniger Optimist. Jeder Schuster trachtet danach, gut zu essen und gut zu trinken, wenn er seinen Laden schließt, und er will sich amüsieren, damit das Leben einen Sinn hat. Sonst freut ihn nichts. Er arbeitet weder mit Blick auf die Zukunft noch mit dem Willen, ein Ziel zu erreichen. Sondern damit es ihm gut geht. Seine Liebe zur Stadt, seine Liebe zum Volk ist oberflächlich, wie alles oberflächlich ist, auch die Tränen und die Witze und das Lächeln, sogar der kurze Kummer. Aber in seiner Oberflächlichkeit ist er gutmütig; er ist sehr aufrichtig, dumm offenherzig, und er schirmt sich mit seiner Dummheit auch dort ab, wo unsereinen die Wut packt. Deshalb wird man manchmal wütend. Man möchte jemanden schütteln, möchte schreien, auf diese Liedchen und die ewig gut Laune fluchen und etwas Tiefes, Schweres Ernstes zutagefördern, herausschütteln. Aber würde niemals etwas finden. Und niemand würde begreifen, was man möchte. Das ist es: Vielleicht geht in der Stadt alles bergab. Vielleicht gibt es nichts, was nicht verrückt, verkehrt, verfehlt wäre. Vielleicht steht Wien - wieviele Jahre schon? - dicht vor einem Abgrund. Die Zeitungen schreiben das, und die Welt spricht davon. Trotzdem hat man das Gefühl, dass dieser Stadt nichts geschieht. Sie ist zwar in Gefahr, aber besitzt keine Tragik. Es gibt auch solche Menschen. Die erleben schreckliche Schicksalsschläge und "überstehen" sie, ohne zu zerbrechen. Ein anderer wäre von einem halb so harten Schlag niedergeschmettert, erledigt, tot. Aber ihnen geschieht nichts. Nicht etwa, weil sie so viel Kraft besäßen, um Leid zu ertragen und zu überwinden, auch nicht, weil sie so zäh wären, um alles auszuhalten. Vielmehr haben sie keine Tiefe. Ein Schmerz weiß gar nicht, wo er sich eingraben sollte, er gleitet ab und verschwindet. So ist Wien. Stets geduldig, tanzend, nett, singend. Keineswegs aus Heroismus. Auch nicht aus Schwäche. Einfach "so".

wienWien ist eine angenehme Stadt, und wer sie durch und durch kennt, kehrt gern zurück, mit einem Lächeln; niemals mit Liebe, aber stets mit Sympathie, mit der Sympathie, die man beispielsweise einem närrischen, arglosen und etwas lächerlichen Menschen gegenüber verspürt, ohne ihn eigentlich gut zu verstehen. Etwas so, wie man jemanden lieb gewinnt, der eine gelbe Krawatte trägt und Kanarienvögel züchtet. Es gibt solche Menschen. Sie sind immer irgendwie lieb. Schon deshalb, weil man über sie lächeln kann. In Wien bleibt man kühl, fremd, nicht betroffen, und trotzdem fühlt man sich recht wohl, wer hier jedoch leben müsste, würde die Stadt auf einmal hassen. In Wien gibt es keine tiefen Gedanken. Es gibt keine Ideen. Sie verflüchtigen sich wie Schatten. Menschen, die keine Trostlosigkeit angesichts des Todes kennen, sind am unbegreiflichsten. Nichts verbindet uns mit ihnen. Städte - gibt es, noch irgendwo eine solche Stadt? - werden zu Feinden, wenn sie so sind. Man kann hier nicht arbeiten. Kann nicht denken und nicht leben.

Wien tötet Menschen, die etwas leisten wollen, auch diejenigen, die dazu die Fähigkeit haben. Weil sie nicht herausgefordert werden. Gerade weil die Stadt so nett und gutmütig ist, dass man auf ihrem Pflaster nicht verhungern kann. Weil sie die Menschen nicht geißelt, damit sie bluten, wie das fast jede andere Stadt tut. Solche Schläge schmerzen, aber glauben Sie mir, sie sind gesund. Wien ist jedoch ein Sumpf; es hat keine Kraft, um Lasten zu tragen. Es weicht ihnen aus. Und schiebt sie beiseite.

©Milena Jesenská, übersetzt aus dem Tschechischen von Reinhard Fischer, Tribuna, Prag, 4. April 1922

 

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