Peter Handke
Laudatio von Marianne Gruber
anlässlich der Verleihung des
Franz Kafka Preises
an Peter Handke
Prag, 26.10.2009
Mitte der 60ger Jahre betrat ein introvertierter, sehr nachdenklicher, zorniger junger Mann die literarische Bühne, auf der er bis heute präsent ist, selbst wenn er sich verweigert, was bedeutet: daß er etwas Neues geschaffen hat, das keiner Mode folgte und von keiner eingeholt wurde: Peter Handke. Ein Werk von Umfang und Tiefe wie das vorliegende zu würdigen ist grundsätzlich unmöglich. Die einzige adäquate Form wäre ein Text auf gleichem Niveau als Antwort auf die Frage, die jede geschriebene Zeile stellt: Wo der Andere, das mögliche Du sei.
Meine Damen und Herren, ich bin keine Literaturwissenschaftlerin, sondern einfach Leserin. So kann ich nur über eine Faszination, eine Aufregung, eine Leseerfahrung sprechen und – ich kann es nicht anders nennen – über eine literarische Zuneigung.
Als 1966 "Die Hornissen", bald danach "Publikumsbeschimpfung" und "Die Begrüßung des Aufsichtrats" erschienen, passierte etwas mit uns, die über Literatur diskutierten und über das, was wir gerade lasen: die Befreiung von unserem Schulaufsatzkorsett und einem seltsamen Gehorsam, der uns erst beim Lesen Handkescher Texte bewußt wurde. Charlotte Bühler hätte es ein Aha-Erlebnis genannt. Es war ein Staunen über das, was alles mit Sprache möglich ist, was sich eröffnet, wenn man das Wort beim Wort nimmt – in "Die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter" sind mitten im Text kleine Zeichnungen eingefügt. - Als hätten wir bis dahin keine eigene Sprache gehabt, als wären wir in der Rolle des Kaspar, in den die Worte eindringen, Körper werden und mühsam den Weg aus dem Körper zu finden suchen. Es war ein Staunen, darüber, was Sprache kann, später eine Ahnung, was sie abverlangt und was es sein könnte, das sprachfähiger macht. Eine Türe hatte sich geöffnet.
Was für ein Blick. Auch: Was für eine Revolte. Revolte lag ganz allgemein in der Luft. Der Prager Frühling auf der einen Seite, die 68ger Revolte auf der anderen, von der sich Peter Handke unter anderem in einem Fernsehinterview vehement distanzierte.
Wir diskutierten die Frage, was Schriftsteller tun, wenn sie nicht auf die Straße gehen und sich an ihren Schreibtisch zurückziehen, Fenster und Türen schließen und schreiben, voll von den Bildern, die man uns zeigte und den Sätzen, die in unseren Ohren dröhnten. Es war eine Frage nach der schriftstellerischen Verantwortung, jedoch in der falschen Form gestellt, basierend auf nicht einmal sekundären, sondern tertiären Erfahrungen und noch nicht so weit um zu sagen, daß es nicht die Aufgabe von Schreibenden, besser: Dichtenden ist, im Faktischen recht zu behalten. Verantwortung trägt ein Autor, wenn er sie tragen kann, in der Sprache.
Peter Handke ist gewandert auf der Suche nach seinen Bildern, die er in Literatur verwandelte. – „Mit radikaler Subjektivität“ war in den Rezensionen zu lesen. Subjektivität paßte uns. Haben wir - schreibend oder nicht schreibend - etwas anders als den eigenen Kopf, das eigene Sehen, das eigene Erleben, darin unsere eigene Wahl, um zu etwas wie Wahrhaftigkeit vordringen zu können? Radikale Subjektivität gewiß, als Grundlage für allgemeine Erfahrungen, als Möglichkeit, sich in Welt und Gesellschaft einordnen zu können, dem Vorgesagten, Vorgeschauten zu entgehen, gegen das sich Peter Handke dichtend und polemisierend immer wieder wandte, dagegen unter anderem mit einer Poetik der kleinen Dinge anschreibend, gegen diesen Verlust der Welt, das große Thema des Buches "Bildverlust". In der permanenten Ungewißheit unseres Lebens, von dem wir, während wir leben, nie wirklich wissen, was wir tun, wenn wir leben, - in dieser Ungewißheit ist das Schauen die einzige Selbstvergewisserung. Und die Sprache, in der beides mit uns geschieht: Sozialisierung und Befreiung. Sozialisierung wie im Z.b. Kaspar und Befreiung wie unter anderem in Das Spiel von Fragen oder die Reise ins sonore Land.
Schreiben ist ein Spiel, ein ernsthaftes Spiel wie fast nur Kinder zu spielen vermögen, mit aller Hingabe und unter genauer Beobachtung der aufgestellten Regeln, ist, voll Phantasie, ein Spiel ums eigene Leben.
Schauen, um zu sehen und schreiben, um zu überleben, scheint es, gilt für Franz Kafka wie für Peter Handke. Die Parallelen sind mannigfaltig und nicht allein aus dem Text "Der Prozeß" mit der Widmung: "Für Franz K." abzulesen. Sie lassen sich hier nur andeuten. Mag sein, daß die Beschäftigung mit dem Recht in Form eines Studiums den besonderen Blick beider mit befördert hat: die Dinge zu ihrem Recht kommen zu lassen, zu sehen, was sie sind oder sein könnten ohne sie durch interpretatorische Absichten zu verformen. Das ist die hohe Kunst beider Autoren.
Es verbindet sie die Auseinandersetzung mit dem Gesetz, – für Kafka Drohung, Unausweichlichkeit und letztlich doch nicht in Frage zu stellen. Handke greift auf Stifters sanftes Gesetz zurück, läßt Keuschnig in "Die Stunde der wahren Empfindung" gegen Ende des Textes überlegen: „Er wollte kein System für sein Leben, dachte nur, daß es in Zukunft, wenn es keine neuen Gegenstände und Menschen geben würde, so doch eine beständige Sehnsucht“. K.s trotzige Sehnsucht nach dem Schloß findet sich in gewisser Weise in "Die Stunde der wahren Empfindung" als Keuschnigs Sehnsucht wieder, ebenso Kafkas "Die Verwandlung" als Keuschnigs Verwandlung, der den gleichen Vornamen wie Samsa trägt: Gregor.
Beide verbindet die bei Handke zunehmende Vermeidung von Ort und Zeitzuordnung, ein utopisches Moment, das kein Ausweichen mehr in Dort und Damals erlaubt; das Unsagbare, das sich in die atmenden Zwischenräume der Wörter, der Sätze drängt, manchmal als Satz, um den utopischen Ort des Unsagbaren zu bezeichnen.
Das im Er versteckte Ich ist bei beiden zu finden; die Auseinandersetzung mit dem Körper, der Kafka und K. quält und der Körper Kaspars, der mit der Sprache beseelt werden soll; das Mißtrauen gegenüber Kausalitätsfolgen, bei Kafka da und dort in absurden Szenen entladen; nicht zuletzt in filmischen Elementen in den Texten beider.
K., der im Herrenhof frühmorgens die Aktenausgabe beobachtet und nicht begreift, daß er Ursache und Grund für das groteske Verhalten ist. Wir sehen ihn, als stünde er hinter einer Kamera, mit der er die Ereignisse auf den Gängen filmt, selbst gefilmt vom Autor, der gleichzeitig den Leser mit filmt. Handkes niedergeschriebene Bildwahrnehmung ist oft und oft eine gefilmte, nicht nur in "Falsche Bewegung" oder in "Die Linkshändige Frau", die tatsächlich auch ein Film wurde.
Die Schwelle ist gemeinsames Thema, die der Mann vom Land in der Türhüterparabel Kafkas nicht zu überschreiten wagt und die Handke erzähltechnisch unter anderem in" Der Chinese des Schmerzes" überschreitet, indem sich das Erzählen nach und nach von einem Handlungsgerüst trennt.
Beiden geht es um Grenzerfahrungen, physisch und metaphysisch, in K.s Erschöpfung und im geplanten Ende für den Schloßroman, von dem Max Brod berichtet, in dem sich Kafka dem Thema Gnade annähern wollte; bei Handke im geträumten Mord in "Die Stunde der wahren Empfindung" und dem begangenen Mord im "Der Chinesen des Schmerzes", der Tod der Mutter in "Wunschloses Unglück".
Beide verbindet das Absurde, das Groteske. Kafkas Personeninszenierungen werde bei Handke Theaterstücke, vereint im Schweigen. Kafkas Schweigen ist ein Kierkegaardsches, Kafkas Figuren verschweigen sich im Reden. Die meisten Menschen verschweigen sich im Reden, nicht im Schweigen, ist bei Kierkegaard zu lesen. Viele von Handkes Figuren sind entweder noch sprachlos, oder erst auf dem Weg zur Sprache oder eben ins Schweigen. Was sie zu sagen haben, geschieht bei beiden in Bewegung.
Noch einmal das Gehen. Es ist unsere ureigene Bewegung, vollzieht sich in dem unserem Leben angemessenen Tempo, beinhaltet Innehalten, Schauen und scheint wie eine Melodie den Rhythmus von Handkes Prosa zu bestimmen. So manchen von Handkes Texten sollte man sich gehend erlesen. Das Gehen hat seinen eigenen Rhythmus, die Zeit bricht in Dauer aus, befreit aus der „Zeitklemme“, in der sich Don Juan in "Don Juan" wähnt. Dieses Gehen hat etwas von Zärtlichkeit an sich, von Verwandlung. Es ist der Rhythmus des Gehens, dem die Hand, die schreibt, nicht anders folgen kann als mit einem Bleistift, scheint es, der die Zeit abschüttelt und Dauer verleiht. Man kann es sich vorstellen, wenn man die Augen schließt, wie die Hand über das Papier gleitet und dem Nachdenken folgt. Es sind langsame Texte, die sich konsequen-terweise allmählich von Handlung zu befreien suchen.
Ist Peter Handke ein Moralist? Diese Frage ist irgendwann, ich weiß nicht von wem, gestellt worden, es ist zu lang her. Die Diskussionsrunde von damals, ferne Erinnerung als gehörte zu einem anderen Leben, existiert nicht mehr. Damals hatte die Frage etwas Anstößiges an sich, als würde der Autor mit ihr denunziert werden. Und vielleicht war gar nicht nach Moral gefragt worden, sondern nach einer ethischen Grundhaltung. Gäbe es die Runde heute noch, würde einer mit Gewißheit fragen, woher sie heute noch kommen sollte. Wir lassen zu, daß uns die Welt entgleitet.
In "Die Lehre der Sainte-Victoire" wird die Ernsthaftigkeit der Arbeit eines Künstlers als ein Wert an sich erachtet. „An sich“ erinnert an Platon, aber ist die Gegenwart des Alten im Neuen nicht augenscheinlich? In "Die langsame Heimkehr" sagte Sorger: „Kurze Zeit herrschte Krieg. Nachher die Stille des Friedens; oder? Vor dem die Augen öffnenden Sorger streckte sich über dem Meer bis zum Horizont ein weiter antiker Säulenraum... Meerherbst und Säulenraum, die Welt wurde wieder alt“.
Die Ernsthaftigkeit der Arbeit eines Künstlers als Wert zu bezeichnen in einer Welt, die als Wert zunehmend nur mehr anerkennt, was sich über Nutzen und Zweck erfassen läßt, hat etwas Heroisches an sich, heroisch, da sich der so Sprechende dieser Welt aussetzt. Und doch – horchen sie dem Satz nach. Wenn alles Nutzen und Zweck unterworfen ist, muß die Frage erlaubt sein, wem wir nützen. Dieser Existenzberechtigungsnachweis wird sich nicht erbringen lassen. Es gibt uns – für nichts. Es gibt Kunst, deren Wirkung man alles mögliche nachsagt von Erbauung bis zur Therapie - für nichts. Das ist das Schwerste und darin verteidigt - die Kunst - unser Leben - im Für-nichts.
Schreiben ist ein einsames Geschäft, ein verzweifelt einsames, dessen Verzweiflung sich nicht mindern läßt durch das Geschriebene. Das verzehrende Gefühl entspringt der Unmöglichkeit, sich mit den Zu- und Umständen unsrer Existenz und der Welt einverstanden erklären zu können und zu wollen. Das ist das indirekt Politische an Literatur, das dann und wann direkt wird, sich bei Kafka unter anderem in den Berichten für die Sozialversicherung niederschlägt, bei Handke in dem einen oder anderen Reisebericht. Die Unmöglichkeit, sich einverstanden erklären zu können ist Kafkas Revolte und die Handkes. Sie vollzieht sich nicht auf der Straße, sondern im Wort, im Fragen, als Versuch der Selbstvergewisserung, um Welt zu erfahren und erfahren zu können. So-nicht - ihr Urwort - ist dabei nur der erste, nicht geschriebene Satz. Es geht um das erfahrbare So, aus dem das Andere in einem Dialog entstehen könnte. Er ist das Grundmuster der Verwandlung. Schreiben ist im ersten Akt ein Gespräch mit sich selbst als Suche, als Selbstbefragung, im zweiten Akt ist es ein Dialog mit weit Entfernten, von denen der Schreibende vielleicht nie etwas erfahren wird, dann und wann etwas erfährt. Peter Handke ist als großer Briefschreiber bekannt. Und darin mag sich die Einsamkeit wenn schon nicht aufzulösen so doch wenigstens zu mindern.
©Marianne Gruber
PS.: Marianne Gruber sandte mir unmittelbar nach der Preisverleihung in Prag ihre Laudation per Mail zu. Milena Findeis