„Wir leben heute 100-mal besser“

24.06.2011   Joana Radzyner im Gespräch mit Adam Michnik über Polens Vorsitz des EU-Rates mit 1. Juli 2011.

„Alle Staaten haben von diesem angeblich so furchtbaren Druck aus Brüssel profitiert.“ Adam Michnik, Chefredakteur der auflagenstärksten Tageszeitung Polens, über die Krise der EU, Revolutionen, Russland und die Kunst des Walzertanzens.


Adam Michnik, am 1. Juli übernimmt Polen erstmals den Vorsitz des EU-Rates. Die Union hat seit ihrer jüngsten Erweiterung, 2007, viel von ihrem Glanz verloren. Kann das neue EU-Mitgliedsland Polen dem krisengeschüttelten Europa Optimismus einhauchen?

Ist denn die Geschichte der Europäischen Union in Wahrheit nicht eine Geschichte von Krisen und der sukzessiven Bewältigung dieser Krisen? Von diesem Standpunkt aus bin ich auch jetzt optimistisch. Andererseits ist diese Krise tiefer und gefährlicher als frühere. Denn es kommen gleich mehrere Faktoren zusammen. Der Zusammenbruch der öffentlichen Finanzen in mehreren Mitgliedstaaten hat eine Krise des Euro ausgelöst, und das Solidaritätsprinzip wird immer offener hinterfragt. Dazu kommen die schwerwiegenden Folgen der Erweiterung der Union. Früher bedeutete das Vetorecht etwas ganz anderes als heute, wenn 27 Staaten mitentscheiden und auch kleine Länder wie die Slowakei oder Malta durch ihr Veto europäische Entscheidungen blockieren können.
Nehmen Sie nur das Beispiel der Griechenland-Hilfe, gegen die sich die slowakische Regierungschefin mit einer aus ihrer Sicht völlig gerechtfertigten Frage stellte: Warum, gab sie zu bedenken, sollte die arme Slowakei den Griechen zur Wahrung ihrer viel zu hohen Renten und Pensionen verhelfen? Vor diesem Hintergrund muss man also immer dringlicher fragen, welche Mehrheiten notwendig sind, um die EU handlungsfähig zu machen. Das alte Konzept eines Europa der zwei Geschwindigkeiten, das wieder an Attraktivität gewinnt, kann ja wohl nicht die richtige Antwort sein.

Zu einer weiteren Entsolidarisierung im EU-Raum trägt auch die wachsende Zahl von Flüchtlingen aus Nordafrika bei. Immer mehr EU-Mitgliedstaaten versuchen sich abzuschotten.

Bei diesem Problem bin ich ziemlich ratlos. Sicher ist nur, dass jeder weitere Monat ohne greifbare europäische Lösung nationalistische Stimmungen anheizt und rechtspopulistischen Parteien in die Hände spielt.

In Ungarn ist die nationalistische Rechte mit Zweidrittelmehrheit bereits an der Macht, wenngleich hier eher die Wirtschaftskrise als ungebetene Immigranten den Ausschlag für die politische Wende gegeben haben. Unter Viktor Orbán werden demokratische Kontrollinstanzen wie das Verfassungsgericht, die Nationalbank oder die freien Medien ausgeschaltet. Aber statt im Namen gemeinsamer Werte bestraft zu werden, durfte Ungarn am 1. Jänner den EU-Ratsvorsitz übernehmen. Droht damit nicht eine gefährliche Aushöhlung der demokratischen Grundwerte, denen sich die EU verschrieben hat?

Die Europäische Union hat nicht das Pouvoir, Sanktionen gegen souveräne Mitgliedstaaten anzuwenden. Man versucht allerdings, diskret Druck auszuüben, wenn demokratische Grundsätze in Gefahr sind. Das war bei Österreich der Fall, als die FPÖ unter Haider an der Regierung beteiligt wurde, und das ist jetzt so bei Ungarn. Der Erfolg dieser Praxis ist, zugegeben, nicht wirklich groß, aber ein bisschen Erfolg ist besser als kein Erfolg.
Was Ungarn betrifft, halte ich die Entwicklung allerdings für ganz besonders besorgniserregend, und dies nicht nur für Ungarn selbst, sondern für das gesamte, bis 1989 kommunistisch regiert gewesene Ostmitteleuropa. Das Beispiel Ungarn zeigt auf erschreckende Weise, wie in EU-Staaten auf ganz demokratischem Weg ein Staatsmodell verwirklicht werden kann, das ich als Quasi-Diktatur bezeichnen würde. Einen Vorgeschmack derartiger Entwicklungen hatten wir auch in Polen. In der Regierungszeit des Jaroslaw Kaczyński wurden die Weichen für eine „Vierte Republik“ gelegt, einen stark zentralisierten, autoritär regierten Staat, in dem alle demokratischen Institutionen unter der Kuratel einer einzigen Partei stehen sollten. Nach zwei Jahren haben die Polen Kaczyński abgewählt. In Ungarn hingegen steht eine Zweidrittelmehrheit hinter Viktor Orbán, und das ist erschütternd.

Aber Jaroslaw Kaczyński hat auch als Oppositionspolitiker noch immer ein gutes Drittel der Wähler hinter sich, meist Menschen, die sich als Verlierer der Transformation sehen und aus ihrer EU-Skepsis kein Hehl machen.

Es gibt überall die Tendenz, die Schuld für alles Negative im Land nach außen zu richten. Alles wird auf den übermäßigen Druck aus Brüssel geschoben. Das ist eine glatte Lüge, denn alle Staaten haben von diesem angeblich so furchtbaren Druck aus Brüssel profitiert. Was Polen betrifft, hatte die Aufnahme in die EU meiner Ansicht nach ausschließlich positive Auswirkungen. Die EU-Gelder für Infrastruktur und Modernisierung haben das Antlitz unserer Städte und Dörfer völlig verändert und dem ganzen Land neuen Auftrieb gegeben. Die Öffnung der Grenzen hatte gewaltige gesellschaftspolitische und kulturelle Implikationen. Man kann mit bloßem Auge sehen, wie schnell wir uns dem Standard des demokratischen Europa annähern. Es mag schon sein, dass dieses Europa nicht perfekt und nicht frei von Fehlern ist, aber wir leben heute doch hundertmal besser als früher.

In Polen ist die Zufriedenheit mit der EU-Mitgliedschaft laut „Eurobarometer“ ungebrochen hoch, die Warschauer Regierung will alle EU-Grundwerte verteidigen. Theoretisch könnte Warschau also zum Motor mutiger Entwicklungen werden. Aber der Widerstand gegen die Aufnahme weiterer Mitglieder ist stark. Das betrifft etwa Serbien, insbesondere aber die Türkei. Wie stehen Sie als engagierter Europäer dazu?

Die Aufnahme der exjugoslawischen Republiken, die untereinander noch zerstritten sind, birgt zweifelsohne gewisse Risken. Andererseits bin ich überzeugt, dass es zu den Balkankriegen Anfang der 1990er-Jahre erst gar nicht gekommen wäre, wenn Jugoslawien schon in der EU gewesen wäre. Denn der sicherste Weg zur Überwindung zwischenstaatlicher, nachbarschaftlicher Konflikte ist meiner Ansicht nach der europäische Weg. Ich spreche hier aus Erfahrung, denn die zivilisatorische Kraft der EU hat sich auch bereits auf das schwierige Verhältnis zwischen Polen und Litauen ausgewirkt. Seit wir beide EU-Mitglieder sind, haben sich die Beziehungen spürbar verbessert.

Und die Türkei?

Wir Polen werden uns sicher nicht gegen die EU-Beitrittsambitionen der Türkei stemmen. Das haben wir schon einmal gemacht, als unser König Jan Sobieski die Türken vor Wien vertrieb. Und das reicht wohl, meine ich. Aber Spaß beiseite: Auch in meinen Augen ist die Aufnahme der Türkei ein riskantes Unternehmen mit wesentlich schwerer wiegenden Implikationen als im Falle des kleinen, christlichen Kroatien.

Am Vorabend des polnischen EU-Ratsvorsitzes gibt es in mehreren EU-Staaten hinter vorgehaltener Hand auch Bedenken in Hinblick auf die schwierigen Beziehungen zwischen Warschau und Moskau.

Diese Sorgen sind übertrieben. Auf eine Kurzformel gebracht, ist das Verhältnis Russlands zu Polen eine Funktion des Verhältnisses Russlands zur Europäischen Union. Sollte Russland der EU den Rücken zukehren wollen, würden auch die größten Anstrengungen der EU nichts daran ändern können. Denn es gehören bekanntlich zwei zum Walzertanzen. Gegenwärtig stehen wir vor einer ganz neuen Lage, denn wir haben es im Unterschied zu früher nicht nur mit einem einzigen Russland zu tun. Es gibt inzwischen auch ein starkes nationalistisches Lager, dem der Nachbarstaat Polen zur Schürung nationalistischer Stimmungen bestens geeignet erscheint. Polen ist nahe, es ist unbestreitbar schwächer, und es grenzt an die russische Exklave Kaliningrad. Dabei sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, künstliche Ängste zu wecken. So soll Polen im Rahmen eines groß angelegten Expansionsplanes zur Wiederherstellung seiner alten Grenzen Weißrussland einnehmen wollen. Präsident Medwedew und Außenminister Lawrow wissen freilich, dass das alles Unsinn ist. In bestimmten Augenblicken könnten sich diese Hirngespinste politisch jedoch als nützlich erweisen. Zurzeit ist Russland an Streit mit Polen nicht interessiert. Aber wenn es wir sind, die den Streit anzetteln, werden sie mit Freude auf diesen Zug aufspringen.

Wie die Reaktionen Moskaus auf die Unterstützung Polens für die Revolution in der Ukraine gezeigt haben, kann es sehr schnell zu einer Eskalation der historisch belasteten Spannungen kommen.

In diesem konkreten Fall haben wir es meiner Ansicht nach aber mit einer politischen Fehleinschätzung Moskaus zu tun, mit einem unbedachten Reflex imperialistischen Denkens. Moskau hat nicht verstanden, dass hier eine authentische Revolution stattfand und die Rolle der Polen darauf beschränkt war, symbolische Unterstützung zu demonstrieren.

Auch in Polen wissen nationalistische Kreise antipolnische Ressentiments in Russland für sich zu nutzen – vor allem die größte Oppositionspartei, „Recht und Gerechtigkeit“, unter Führung Jaroslaw Kaczyński, die sich von den Neuwahlen zum Sejm im Herbst dieses Jahres die Rückkehr an die Macht erhofft. Wir haben ja schon bei Tschechien und Belgien gesehen, wie innenpolitische Turbulenzen den Handlungsspielraum des EU-Vorsitzlandes einschränken und Image schädigend wirken. Droht Polen Ähnliches?

Diese Gefahr ist wirklich gegeben. Wir machen uns ja gemeinsam mit den Schweden für das ehrgeizige Projekt der „Östlichen Partnerschaft“ stark. Aber unsere Opposition will uns die Präsidentschaft gehörig verpatzen, wie Jaroslaw Kaczyński bereits lauthals ankündigte. Wir müssen diese Drohung ernst nehmen, denn die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ hat namentlich durch die geschickte politische Instrumentalisierung der Flugzeugkatastrophe von Smolensk im April des Vorjahres punkten können. In der Maschine der polnischen Regierung hatten sich der amtierende Staatspräsident und Zwillingsbruder von Jaroslaw Kaczyński, Lech, befunden sowie dessen Frau, hohe Militärs und Politprominenz, die bei Katyn der Opfer des von Stalin angeordneten Massakers an polnischen Offizieren 1940 gedenken wollten. Millionen von Polen glauben inzwischen die abstrusen Verschwörungstheorien, wonach der Unfall ein Attentat war, das von Russlands Regierungschef Putin inszeniert und von der amtierenden liberalkonservativen Warschauer Regierung gedeckt wurde, um den Moskau-kritischen polnischen Patrioten Lech Kaczyński aus dem Weg zu räumen.
Die Opposition hat allerdings auch handfeste Waffen in der Hand. Die Preise steigen und steigen, und dem polnischen Bürger ist es dabei ganz egal, dass das Leben auch in Griechenland oder Spanien teurer wird. Für Kaczyński ist die amtierende liberale Regierung daran schuld und basta.

Können solche Argumente vergessen machen, dass mit der Regierung von Donald Tusk nach ewigen Schlammschlachten im Inneren und unnötigen Konflikten mit dem Ausland endlich so etwas wie politische Normalität in Polen eingekehrt ist?

Leider kann man auch die beste historische Konjunktur durch Dummheit, Ignoranz und Fantasiemangel zerstören. Donald Tusk ist in meinen Augen zweifellos ein Garant der politischen Stabilität und der gesellschaftlichen Normalität. Der Regierungschef und seine Partner sind rational denkende und pragmatisch handelnde Politiker. Und bei aller Kritik sind die Popularitätswerte dieser Regierung auch nach vier Jahren an der Macht noch relativ hoch, trotz internationaler Finanz- und Wirtschaftskrise und trotz der Katastrophe von Smolensk. Tusk kennt keine Berührungsängste und ist frei von Dogmatik. Vor Kurzem hat er sogar einen populären Linksabgeordneten in seine „Bürgerplattform“ geholt. Aber erst am Wahltag werden wir wissen, ob die Mehrheit der Polen das alles zu würdigen weiß.

Sie zählen zu den bekanntesten Vertretern der polnischen Bürgerrechtsbewegung, Sie waren auch einer der politischen Architekten des Übergangs zur Demokratie. Wie schätzen Sie die Chancen der neuen Demokratiebewegungen in der arabischen Welt ein?

Ich freue mich, dass der Kampf um die Freiheit auch dort begonnen hat, und ich fühle meine These bestätigt, dass sich jede Gesellschaft nach Freiheit sehnt, in Frankreich genau so wie in Usbekistan. Andererseits muss ich die allgemeine Euphorie etwas dämpfen. Auf der Grundlage aller Erfahrungen, die wir in Ostmitteleuropa gemacht haben, ist Skepsis angebracht, denn es kann noch zu sehr unterschiedlichen Entwicklungen kommen. Die Fundamentalisten stehen noch nicht an vorderster Front, aber die Gefahr ist real, dass sie die Zügel der Revolution an sich reißen. Bei uns hatte man gewarnt, dass die Demokratie antisemitische Pogrome bringen würde. Diese Prophezeiung hat sich jedoch auch nach 22 Jahren demokratischer Praxis nicht erfüllt. In der Ukraine ist es ganz anders gelaufen. Als die Revolution ausbrach, waren alle ungemein optimistisch, aber ich warnte meine ukrainischen Freunde damals, dass alles nicht so einfach gehen werde, wie sie sich das vorstellten. Doch sie lächelten damals und meinten, ich würde übertreiben. Nun, wir kennen den Rest.

Was halten Sie vor diesem Hintergrund von der Unterstützung der libyschen Aufständischen durch die Nato?

Ich war und bin ohne Wenn und Aber für eine Intervention. Wenn eine Gesellschaft die Kraft aufbringt, sich gegen die Diktatur aufzulehnen, dann sollte ihr geholfen werden. Vom Wegschauen oder von tatenlosem Zuschauen halte ich grundsätzlich nichts.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2011)

 

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