Teofila Fajwlowicz - Helena Glibowska
Tamar Radzyner
2021 erschien im Verlag Portatori d'acqua in Zusammenarbeit mit Joana Radzyner der Gedichtband Tamar Radzyner, Nulla voglio dirti, Poesie e chansons. Die Gedichte aus dem 2016 von der Theodor Kramer Gesellschaft herausgegebenen Band Nichts will ich dir sagen, Gedichte und Chansons wurden ins Italienische von Giulia Fanetti übersetzt. Im Gegensatz zu den Gedichten, die in der deutschen Originalfassung und in der italienischen Übersetzung sind, wurde das Vorwort von Michael Dallapiazza und die Einführung von Joana Radzyner allein in Italienisch gedruckt. Nachstehend die deutsche Originalfassung der Einführung von Joana Radzyner.
Wie traumatisierend muss Erlebtes sein, wenn ein Mensch beschließt, sein Ich auszulöschen?
Die dreizehnjährige Teofila Fajwlowicz wird im Winter 1940 als Jüdin mit ihren Eltern und vier Halbgeschwistern aus der großbürgerlichen Innenstadtwohnung im Nazibesetzten Lodz vertrieben und in das Armenviertel der Stadt gepfercht. Trotz Schwerstarbeit und Unterernährung überlebt sie das Getto Lodz sowie die Konzentrationslager Auschwitz, Stutthof und Flossenbürg. Nach Kriegsende wird sie zur Genossin Helena Glibowska - in Anlehnung an den Mädchennamen ihrer Mutter Helena Gotlibowska, die bei einem Todesmarsch an Entkräftung starb. Mit dem neuen Namen soll die Vergangenheit begraben werden. So heißt es in einem frühen, noch in polnischer Sprache verfassten, handgeschriebenen Gedicht meiner Mutter, das ich in einem vergilbten Notizbüchlein aus den 1950er Jahren fand:
Vergessen habe ich meinen Namen
Den Kerzenschimmer am Sabbat-Tisch
Will durch kein Erinnern anders sein
Mein Gedächtnis ist meine Einsamkeit
(„Gelbe Angst“)
Unerträglich einsam nach den Grauen des Krieges, der ihr fast alle Angehörigen raubte, schließt sich die in Prag gestrandete, von Selbstmordgedanken verfolgte polnische Repatriantin früheren Genossen an, um in der polnischen Heimat beim Aufbau des von ihr lange erträumten Kommunismus mitzuwirken. Der Glaube an die Zukunft ist stärker als die Vergangenheit. Tola, wie sie die Freunde nennen, heiratet und bringt nach mehreren unglücklichen Versuchen, schwanger zu werden, zwei Töchter zur Welt.
Wieder brachte ich Kinder zur Welt
als ob ich nicht wüßte
wie mühelos
ein Kinderschädel
zerquetscht wird
Wieder baue ich ein Haus
als ob ich nicht wüßte
wie man unter Mauertrümmern
erstickt.
(…)
Unter dem Schutthaufen der Zeit
hüte ich die Hoffnung
(„Wieder“)
Aber allmählich erkennt die Shoa-Überlebende, dass der Kampf um die Verwirklichung eines gesellschaftspolitischen Systems, in dem alle Menschen gleich behandelt und angstfrei leben würden, eine Illusion war. Der Antisemitismus, den es zu überwinden galt, ist bald auch im realen Sozialismus salonfähig. Die Aktivistin der ersten Stunde wird politisch unbequem und als Redakteurin in eine politisch wenig exponierte Zeitung versetzt.
Im Spätherbst 1959, nach zwei Jahren unbezahlter Quarantäne als Träger von parteipolitischem „Geheimwissen“ dürfen Tamar und ihr Ehemann Niutek mit uns Kindern nach Wien auswandern.
Wie Tamar hat auch der Lodzer Stahlhändlersohn Niutek Radzyner, der im Getto Lodz Anführer einer marxistisch-leninistischen Widerstandsbewegung war, seinen Namen auf einen unverdächtiger klingenden geändert. Władysław Młotecki- abgeleitet von seinem Untergrundnamen „Młot“, also „Hammer“- ist 1947 mit knapp einundzwanzig Jahren jüngster kommunistischer Abgeordneter im polnischen Parlament. In der folgenden Legislaturperiode verbannt eine nationalistisch gesinnte Fraktion den Großbürgersohn und Juden in die Redaktion einer landwirtschaftlichen Zeitung. In Wien nimmt er auf Drängen seines hier schon seit Ende der 1940er Jahre lebenden Vaters wieder den Familiennamen Radzyner an und gibt sich den Vornamen Viktor. Aus Helena Młotecka wird Tamar Radzyner.
Wir Kinder wussten von dieser Vergangenheit nichts, wenngleich zuhause Polnisch gesprochen wurde. In der Schule waren wir als „konfessionslos“ eingetragen. Das einzige, was das bleierne Schweigen durchbrach, waren die nächtlichen Schreie der Mutter, die uns aus dem Schlaf rissen und uns Angst machten. Doch eine Antwort auf unsere immer drängenderen Fragen nach den „Dämonen“, wie unsere Mutter abwehrend ihre Albträume umschrieb, haben wir erst als Erwachsene erhalten – über einen ursprünglich polnisch verfassten Text, den sie bis zu ihrem Tod nicht mit dem eigenen Namen zeichnen wollte:
Ich habe die Krätze, Genossen
Verfaule lebendig
Läuse kriechen über mein Gesicht
(…)
Ich hatte zwei lange blonde Kinderzöpfe
Mein Schädel ist abrasiert
Ich hatte die verschämte junge Weiblichkeit
Nun bin ich keine Frau.
Ich bin ein Tier.
(„Häftlingsnummer 82-128. Konzentrationslager Stutthof“)
Im Wien der frühen 1960er Jahre starten die Eltern neu durch und studieren Medizin. Doch die Hoffnung auf eine Zukunft als Ärzte scheitert nicht zuletzt an Sprachschwierigkeiten. Viktor wird Mitarbeiter in der Spielwaren-Firma seines Vaters, Tamar wird Hausfrau. Neue Freunde gibt es nicht, zu den alten, die im kommunistischen Polen geblieben sind, halten sie keinen Kontakt, um ihnen nicht zu schaden.
Vieles ändert sich, als meine Mutter Anfang der 1970er Jahre in einer Zeitung einen Aufruf der bekannten Kabarettisten Georg Kreisler und Topsy Küppers liest. Unter dem Kennzeichen „Das unbekannte Chanson“ werden Interessierte aufgefordert, einen Text einzuschicken. In Tamars Schublade stapeln sich schon Dutzende.
Es folgen Jahre enger persönlicher Freundschaft und intensiver Zusammenarbeit mit Kreisler und Küppers, zuletzt an Topsys´ “Theater an der Wieden“. Tamar schreibt Gedichte, Chanson-Texte, Sketches, übersetzt aus dem Polnischen, Russischen, Hebräischen und Jiddischen. Es ist eine so erfüllte Zeit, dass sie die verhassten Haushaltspflichten zu vernachlässigen beginnt. Müsste sie nicht für den Mann und die Kinder kochen, sagte sie mir später einmal, hätte sie sich nur von dick mit Butter bestrichenem dunklen Brot, von Äpfeln und von Nuss-Schokolade ernährt.
Irgendwann zerbricht die Freundschaft mit Topsy, und meine Mutter nimmt ihr altes Leben wieder auf. Liebevoll begleitet sie die beruflichen und emotionalen Entwicklungen von uns Töchtern und betreut den kränkelnden Ehemann. Aber nachts schreibt sie sich ihre Not von der Seele.
Ich schreie aus verklebtem Mund
schlage um mich
bewegungslos
(…)
Meine Kinder
versuchen
mich herauszureißen
noch
die Vergeblichkeit nicht ahnend
(„Vergeblichkeit“)
1987 wird bei Tamar Krebs diagnostiziert. Ihre für uns unbegreifliche, verstörende Reaktion: Dankbarkeit. Jetzt werde sie endlich für das unverdiente Überleben bestraft. Jetzt werden ihre „Dämonen“ endlich ablassen von ihr:
Nachts/ kann ich nirgendwohin weglaufen
Lange bis zum Morgen
stehen sie über mir:
Du bist davongekommen
du stehst für uns
Du sollst unsere Träume weitertragen
solange dein Atem reicht
(…)
Was von uns
was für uns
hast du der Erde, den Menschen gegeben?
(„Nachts“)
Für ihre engste Freundin der Getto-Jahre, die in Tel Aviv lebende Lilian Sulkovitz, ist die um zwei Jahre ältere Tola ein Vorbild. Sie sei „anders als alle anderen“ gewesen, erzählt mir die heute 90 Jährige am Telefon. Bei langen gemeinsamen Abendspaziergängen nach zwölf Stunden kraftzehrender Arbeit im Textilressort des Gettos habe ihr das Mädchen mit dem blauen Samtband im unzähmbaren Haar den quälenden Hunger mit der Rezitation eigener, täglich neuer Gedichte und mit Lyrik von Heine vertrieben.
Poesie rettet Tamar auch später. KZ-Genossinnen, die den Krieg überlebten, erinnerten sich noch gut an die gereimten Durchhalteparolen, mit denen Tola den ausgemergelten, von Läusen geplagten Frauen in ihrer Lager-Baracke Lebensmut und Kampflust einpeitschte.
Später, im Wiener Exil, wird das Schreiben für die vielfach Enttäuschte „Ersatz für den Psychiater“, wie sie sagte.
Alle Versuche, die Schrecken der Kindheit zu überwinden, sind gescheitert.
Ich bin an der Erinnerung
unheilbar krank.
(„Die Anklage“)
Und doch gibt es zwischen den dunklen Nächten und dem grauen Alltag auch die vielen unvergesslichen Momente des kleinen Glücks. Dann schreibt Tamar spät abends, wenn in der Wohnung schon alles schläft, auch Texte wie diesen - auf einem losen, aus einem Notizblock herausgerissenen Zettel:
Der Kakadu
der Kakadu
macht sehr oft
die Augen zu
Das kommt ihm
äußerst ungelegen
doch macht er das
des Reimes wegen.
Die Geburt ihrer ersten Enkelin 1987 kann meine Mutter noch mit mir im Kreissaal miterleben, von der Geburt einer zweiten Enkelin im März 1991 erfährt sie im Krankenhaus. Sie stirbt am 7. Juni 1991, ihr Mann nur ein halbes Jahr später. Beide sind am Jüdischen Friedhof in Wien beerdigt.
"Tamars Texte sind nicht vergessen" schreibt ein Jahr nach ihrem Tod Georg Kreisler im Vorwort zu einem von ihm zusammengestellten Lyrikband, der leider nicht veröffentlicht wurde: "Wer Tamar Radzyner kannte, wird sie nicht vergessen können. Wer sie durch ihre Gedichte kennenlernt, wird einen wichtigen Teil von ihr kennenlernen, und wird – Zeichen echter Poesie – einige ihrer Zeilen immer wieder zitieren. Sie war Zeit ihres Lebens nicht sehr bekannt, aber ihre Zeit kommt noch, wenn sie nicht schon da ist."
1999 erscheint im Klagenfurter Verlag Alekto der englisch-deutsch verfasste Lyrikband „Meine wahre Heimat“, wo gemeinsam mit Texten der Lyrikerin Stella Rotenberg auch jene von Tamar Radzyner veröffentlicht werden.
2007 publiziert der Wiener Theodor Kramer Verlag die 567 Seiten starke Anthologie des österreichischen Exils „In welcher Sprache träumen Sie“, in die auch Texte von Tamar Radzyner aufgenommen wurden.
2016 wird im selben Verlag Tamar Radzyners Lyrikband „Nichts will ich dir sagen“ veröffentlicht.
2017 und 2018 vertont und veröffentlicht der weltberühmte österreichische Avantgarde-Komponist Friedrich Cerha 15 Texte meiner Mutter.
2019 Brigitte Karner interpretiert Gedichte von Tamar Radzyner, begleitet von Edgard Unterkrichner auf dem Saxofon, Roman Wohofsky auf dem Piano "Mimikry"
Was mich jedoch vielleicht am meisten freut: vor kurzem hat auch die junge, in Wien lebende serbische Sängerin und Komponistin Jelena Popržan Tamars Texte für sich und eine neue Generation entdeckt.
Joana Radzyner, Wien 2021