Das Unwiederbringliche


Rupert Riedl

Die Bedingungen dieser Welt, die wir gesetzlich nennen und die unserer Orientierung und lebenserhaltenden Voraussicht dienen, erweisen sich durch den Zufall notwendig wie als notwendige Zufälligkeiten. Der Zufall begründet das Schöpferische im Kosmos und die Fixierung seiner Produkte, seine Ordnung.
Wir kennen das schon von der frühen Entstehung unserer Galaxie, dann von den Kontinenten und Gebirgen der Erde, der Entstehung des Lebens, dem Werden der Vielzeller, der Wirbeltiere, von uns Menschen, von unerem Bewusstsein und unseren Kulturen. Nichts von alledem könnte ein neuer Kosmos in derselben Weise erschaffen: und wir können das schon gar nicht.
Und das ist deshalb nicht möglich, weil stets lange Ketten von Zufalls-Entscheidungen beteiligt sind und mit der Länge dieser Zufallsketten deren Wiederholung zu einer Unmöglichkeit  - selbst für den Kosmos - wird. Die Freiheiten des Zufalls finden hier ihr Ende. Warum kann aus einem Hühnerei nicht doch einmal ein Tintenfisch schlüpfen? Die Zufallsentscheidungen, die von der Amöbe zum Tintenfisch oder aber zum Huhn geführt haben, sind so verschieden, dass deren Wiederholung “der Schöpfer nicht zugelassen hat”.


das-unwiederbringlicheDazu kommt, dass beim Zusammentreten von Systemen zu einem neuen, eben neue Eigenschaften auftreten, die auch in Spuren, in deren Bauteilen nicht enthalten sind. Eine Muskelzelle läuft nicht, eine Nervenzelle denkt nicht; und niemand hätte angesichts der ersten Nervenzelle vorhersagen können, dass sie, in großer Menge beisammen, einmal denken werden können. Wir kennen das als “Emergenzen”, das Auftauchen unvorhersehbarer neuer Qualitäten.

Uns fällt diese Einsicht gar nicht leicht. Im Grunde sind wir eben geborene “Präformisten” und denken uns alles schon in irgendeiner Weise vorgegeben. Auch die Worte “Evolution” und “Schöpfung” lassen Vorgegebenes erwarten. Die Sprache macht es uns schwer, das qualitativ Neue allein aus quantitativen Änderungen zu erwarten. Ist “mal zwei” denn nicht in allen Größenordnungen mal zwei? Die Verdoppelung einer Familie von zwei auf vier stört niemanden, aber die Verdoppelung der Menschheit uns allen. Wir haben keinen rechten Sinn für den Umstand, dass allein quantitative Änderungen neue Qualitäten zur Folge haben müssen.
Historizität im Sinne von unwiederbringlicher Geschicklichkeit. Reproduzierbar ist nur das Gleiche, das aus identischer Matrix, demselben Gedächtnis abgepaust werden kann. Wir werden durch unsere Basteleien in die Irre geführt. Natürlich sind wir in der Lage, das von uns aufgebaute Türmchen - fällt es zusammen - nochmals aufzubauen. Geht aber ein bedeutendes Schriftwerk vor seiner Verbreitung verloren, ist ein solcher Verlust unwiederbringlich. Der Begriff “Historismus” ist dabei irreführend, als Beispiel diene die Ringstraße in Wien: ein klassizistisches Parlament neben einem gotisierenden Rathaus und einer reinaissanceartigen Universität. Die Architekturformen sind nachgeahmt, ihr Geist ist vergangen.
Wir müssen anerkennen, dass Historisches, wie es über viele Emergenzen entsteht, zu achten und zu schützen ist. Man kann einen Regenwald, eine Gattung, eine Art - sind sie zerstört - nicht wiederherstellen;  eine kulturelle Bewegung kann man abdrehen wie einen Gashahn, aber aufdrehen kann man sie nicht mehr. Das wird nicht wirklich verstanden. Die Bastelstube der Genmanipulation mag schon nützliche Substanzen fabrizieren, mit Glück einmal die Anlage des “Down Syndroms”, den Mongolismus, aus dem Genom des Erbgangs herausschneiden. Es wird übersehen, dass all die Emergenzen komplexerer Gen-Zusammenhänge nur zerstört, aber nie mehr wieder hergstellt werden können.

In dieser komplexen Welt, die sich aus Massenprodukten und Individualitäten zusammensetzt, würde es nützlich sein, das Wiederholbare vom Unwiederholbaren zu unterscheiden; in einem Fall die Formen von Matrix und Gedächtnis,  im anderen die Bedingungen von Emergenzen und Historizität wahrzunehmen. Dazu kommt jeweils das Gegenüber von Redunanz und Überraschung, von Zufall und Freiheit, von Kreativität und Wiederholung sowie von Konformität und Ordnung: gemeinsam ermöglicht es Orientierung in dieser Welt.


Das Gegenüber von schöpferischer Kreativiät und unserem Orientierungsbedürfnis am Gesetzesmäßigen ist wahrzunehmen. Das Verhältnis zwischen dem Neuen und dem Zurechtfinden zu erkennen, kann helfen Fehler zu vermeiden. Es bestimmt, was uns zwischen Freiheit und Konformität gut tun kann, beeinflusst uns als Individiuum wie auch als Teil unserer Gesellschaft.
Die Freiheit der “unbegrenzten Möglichkeiten” hat unserer Ökumene genauso schlecht getan wie der Druck in den Konformismus. Wir erfahren, dass sowohl der Freiheit wie auch der Konformität Grenzen zu setzen sind. Das gilt gleichermaßen für Wirtschaft und Politik, für unser Freiheitsgefühl, wie für Kultur überhaupt.


Für die bejubelten Freiheiten, die uns die Aufklärung gebracht hat, zahlen wir mit der Fesselung in Massenprodukten und der Vermassung der Menschen; die Freiheit des Positivismus überall eingreifen zu dürfen, mit ganz kleinen wie mit ganz großen Basteien, bezahlen wir mit dem Umweltproblem. Es bedarf einer “Abklärung”, die mit der Besinnnung auf das menschliche Maß das Regulativ sein kann.
Beliebige Freiheit des Denkens und Handelns, die an keiner Kultur Maß nehmen kann, wird als Ratlosigkeit erlebt, beliebiger Zwang zu Konformität als Fessel. Wir fürchten jeden, dessen Handlung nicht vorherzusehen ist, ebenso wie jene, die sich den engsten Vorschriften einer Grupe, einer Gang oder Armee unterwerfen. Das Regulativ zwischen solchen Extremen ist Kultur; und zwar eben eine sehr ursprüngliche wie eine technisierte “Hochkultur”. Sie bändigen den Zufall, zähmen die Kreativität und lassen im verbliebenen Raum die uns fassbare Kreativität und den Erfolg zu.


Wir leben zwischen schöpferischen Freiheiten und geordneter Gesetzlichkeit in einer Welt des gebändigten Zufalls.


 

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