Kein Ende der Genesis

Rupert Riedl

Kein Ende der Genesis

Wir und unsere Staaten

 

Jede Zeit hat ihre Verrücktheiten. In der unseren ist vieles an Unverständlichem dank einer neuen Biologie und Erkenntnislehre durchschaubar geworden: unsere menschliche Ausstattung ebenso wie die Spiele der Gesellschaft, Politik und Macht.
Meine Aufzeichnungen zu diesem Thema beginnen im Jahr 1996. Inzwischen habe ich viel publiziert, aus Rezensionen gelernt, die Notwendigkeit einer „Abklärung" verstanden und meine Gedanken mit Hilfe der Expertise von Freunden geordnet.
Es geht um die Verhandlung eines neuen Gesellschaftsvertrags mit unseren Staaten. Wer aber sollte da mit wem verhandeln? Gibt es eine Instanz, die eine solche Verhandlung legitimieren und den Vertrag beglaubigen könnte? Wer könnten Jäger, Beldagter und Richter sein? Der Bürger, der Staat oder die Vernunft? Und sitzt Vernunft so verlässlich in uns Menschen?
Gegenstand der Verhandlung ist eine bessere Welt. Aber verstehen wir darunter alle dasselbe? Ist es mit der Forderung nach mehr Humanität und Sicherheit getan? Und warum, wenn immer danach getrachtet wurde, ist diese Forderung nicht erfüllt? Wissen wir, was wir wollen, und wollen wir auch, was wir tun?

Warum stehen gerade Staaten im Mittelpunkt unserer Betrachtung?
Mit dem Rom der Kaiserzeit war schlecht zu verhandeln, mit Karl IV. war es auch nicht leicht. Frei-, Burg- und Landgrafschaften, Herzog-und Bistümer standen zur Wahl. Heute gibt es die Nationalstaaten. Vielleicht ist mit parlamentarischen Demokratien noch am ehesten zu verhandeln. Aber werden sie nicht auch von waffenstarrenden Hegemonien, Konzernen und Kapitalströmen regiert?
Wer ist konkret anzusprechen, wenn im Untertitel dieses Buches von „Wir und unsere Staaten" die Rede ist? Offenbar sind wir Kreaturen gemeint, egal ob Bergpapua oder Freaks in Börsezentren. Doch wer ist zum Verhandeln aufgerufen? Sind es einige Intellektuelle? Oder gibt es Bewegungen, die sich selbst dazu aufgerufen haben — von den Walschützern bis zu den Globalisierungsgegnern? Haben wir diese Staаten nicht selbst gemacht, haben Massen an Menschen hierarchisch gegliedert, weil uns nichts anderes glückte? Sind folglich wir Bürger aufgerufen zu verhandeln?
Und was heißt „Vernunft"? Rousseaus Klagen reichten nicht aus, doch genügen Kants Kategorischer Imperativ und sein moralisches Zureden? Sollen wir noch weiter aufklärеn, wo uns die Spätfolgen der Aufklärung jene Überheblichkeit einbrachten, die ganze Welt zu unserem Unheil zu manipulieren? Haben wir denn in den vergangenen zwei Jahrhunderten nichts dazugelernt? Kann man, frage ich, Rousseaus Berufung auf Gott (wessen Gott?) sowie Kants „Apriori" und seine Kritik an der Vernunft (wessen Vernunft?) nicht schon längst durch Erfahrung ersetzen, durch Einsichten beispielsweise in die Ausstattung der menschlichen Kreatur?
Schließlich stellt sich die Frage: Wer legitimiert? Ist das nur die Zeit — jenes Zusammenwirken aus wachsender Kenntnis, Lebensgefühl und durchschauter Indoktrination gegenüber Possessivität, Abhängigkeit und Falschspiel? Die Verflechtung eines jeden Einzelnen mit den Machern unserer Geschichte ist deutlicher geworden. Verstehen wir uns selbst und die fatalen Zugzwänge internationaler Wirtschaft und Politik deshalb besser? Legitimieren wir Bürger unsere Zeit?

Freilich bedarf es zur Beantwortung all dieser Fragen einiger Kultur. Haben wir Mitteleuropa vor Augen? Wenn ich bedenke, wo mein Appell zur Vernunft verstanden werden kann, so sind Grenzen zu erwarten. In einer Welt militanter Sekten werde ich wohl ebenso wenig gehört wie von „führenden" Nationen mit ihren anmaßenden Herrschaftsansprüchen. Was folgt, wirkt angesichts der wüsten Übergriffe in aller Welt, namentlich von den USA, möglicherweise wie ein Plausch auf der Insel der Seligen.
Aber irgendwo ist zu beginnen. Wenn einer so formuliert, scheint er die Lösung in der Tasche zu haben. Teils mag das so sein — dank der jüngsten Evolutionstheorien der Systeme und der Erkenntnis. Doch kann dieser neue Ansatz verstanden werden? Er muss seiner Zeit voraus sein, aber nicht zu weit, um den Zeitgeist, mit dem er sprechen will, noch einzufangen. Man wird sehen.

Ich bat meinen Freund Werner Patzelt, meine ambitiösen Gedankengänge auf ein fachlich zulässiges Maß hin zu mildern und seine Sachkunde in politologischen Fragen einzubringen. Seine hinzugefügten Texte wird man an deren liebenswürdigeren Art erkennen. Ein Abenteuer zweier verwandter Geister liegt vor. Wie weit mag es gelungen sein?

 

 

Wien, im Sommer 2004
Vorwort "Kein Ende der Genesis", Wir und unsere Staaten

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