Der Verlust der Morphologie

Rupert Riedl (1925 - 2005)


Rupert RiedlAuf den Regalen der Bibliothek der Zoologie stehen  (von 1849 bis 1973) gut zwei Meter der Bände eines Archivs mit dem Titel Wissenschaftliche Zoologie; und mein Lehrer wusste noch, wie sie sich von unwissenschaftlicher Zoologie unterscheiden sollte. Wissenschaft war Morphologie; denn wie etwas funktioniert, sähe man ohnedies. Der Verlag Geest & Portik in Leipzig gibt im Schlussband noch eine Erklärung für den Grund der Einstellung des Archivs: „innere Ursachen des Faches aus Differenzierung und Spezialisierung“ werden angegeben. Nicht ganz falsch, aber auch das geht am Kern der Sache vorbei.

Schon in den 1920er-Jahren hatten lebendige Geister von der Ausschließlichkeit der Morphologie genug. Hans PRZIBRAM gründete das Wiener Vivarium, um Physiologie durchzusetzen. Heute findet man in den Vordrucken des Forschungsfonds, in welchem man sein Gebiet anzukreuzen hat, unter einer Hundertschaft von Gebieten Morphologie überhaupt nicht mehr. Als Wandel der Gewichtung von Wissenschaften scheint das für ein Jahrhundert noch trivial, der Hergang ist schon interessanter; und gar nicht trivial sind die Folgen, die sich durch diesen Wandel ergeben.

Die Perspektive hat sich im deutschen Mittelalter vorbereitet, der Name „Morphologie“ geht auf GOETHEs morphologische Schriften zurück und wird als „die Lehre von der Gestalt“, also von komplexen Gegenständen verstanden. Dabei ist „Gestalt“ im Deutschen dem „Gestalten“ verwandt, hat also bereits Wechselbezug zwischen Sache und Deutung im Auge, ist daher schwer übersetzbar; so ist man im Englischen auch bei dem Wort „Gestalt“ geblieben. „Design“ kommt ihm, über den Begriff „Struktur“, noch am nächsten.

Entwickelt aus der vergleichenden Anatomie, im Speziellen des Säugerschädels, kompliziert durch die nahen Begriffe von „Typus“ und „Urbild“, sprach man aber schon bald auch von einer Generellen Morphologie (HAECKEL), von einer Morphologie der Weltgeschichte (SPENGLER) und von Kulturmorphologie (FROBENIUS). In dieser Begrifflichkeit ist Morphologie im Deutschen dem „Strukturalismus“ im Französischen verwandt.

Im Ansatz stand der Gedanke, man könne der Natur zutrauen, sich an Formgesetze zu halten, die sich entschlüsseln lassen. Methodisch geht es also um einen Kenntnis gewinnenden Prozess, der nicht auf die Erklärung abzielt, sondern nach der Wahrnehmung von gesetzlichen Zusammenhängen trachtet. Gesetzlich in dem Sinne, als die Aufdeckung von Festlegungen erwartet wird, die sich aus Funktionen, heute sagen wir auch „Adaptierungen“, allein nicht verstehen lassen.

Methodisch setzt das die Erwartung von Wechselbezügen in der Natur voraus, welche durch Vergleiche aufzuspüren sind. Der Zusammenhang ist nicht sogleich zu sehen. Er geht aber von einem Gesamtzusammenhang der Dinge in der Natur aus, in dem Sinne, dass kein Ding der Welt für sich allein steht. Und zwar mit zwei Seiten der Verbindung: dass es in einem weiteren Rahmen seinen Platz haben werde und selbst aus bestimmbaren Teilen bestünde (Die Ordnung des Lebendigen. Systembedingungen der Evolution. Parey 1975, Piper 1990). Damit kommt das Thema der „wechselseitigen Erhellung“ nahe und dem schillernd gewordenen Begriff der „Hermeneutik“.

Um es vorwegzunehmen: Die Methode ist intuitionistisch geblieben. Man hat sich auf das Naheliegende seines Gefühls für die abgestuften Mannigfaltigkeiten komplexer Gegenstände dieser Welt verlassen und aus etwas wie „Kennerschaft“ geurteilt. (Riedls Kulturgeschichte der Evolution. Die Helden, ihre Irrungen und Einsichten. Springer, 2003). Das erinnert, zumal der Vorgang unaufgeklärt „schwebend“ wirkt, an eine Kunstform. Das ist auch der zentrale Vorwurf, der ihr gemacht wird. Ihre Begründung scheint weder formulierenswert noch formulierbar.

Dennoch funktioniert sie hervorragend. Ein überzeugendes Beispiel: In den letzten 200 Jahren vergleichender Anatomie sind die rund zwei Millionen uns bekannter Arten in einer halben Million hierachisch gruppierter Systemkategorien so widerspruchsfrei geordnet worden, dass die Abstammungslehre ein überzeugendes Fundament gewann. Und das, obwohl heute noch kaum ein Biologe seine Methode zu spezifieren vermöchte.

Der Zusammenbruch der Morphologie

rupert-riedlWelches Phänomen liegt damit vor? Es geht um das Übergreifen eines Paradigmas in ein Gebiet, in welchem es falsch und irreführend wird. Damit aber fällt jene Lehre zusammen, die, zunächst wenigstens intuitiv, von LAMARCKs “fait positif” und über ein weiteres Vierteljahrtausend an Forschung die Muster der Evolution aufgedeckt, die Zweiseitigkeit der Ursachen hat ahnen lassen; und ein Menschenbild, das unser Vertrauen haben kann.

Damit verfällt das Rückgrat der Biologie; und wenn man auch das hinnehmen will, sei daran erinnert, dass hier die Grenzen zwischen den reversiblen und nicht reversiblen Phänomenen dieser Welt am Greifbarsten vorliegt, dass wir an dieser Stelle vorgeführt bekommen, wo wir durch unser Eingreifen in die Welt irreversibel stören, also tatsächlich zerstören.

Es drängt sich damit die Frage auf, wie es zu verstehen sei, dass die Mehrheit hochbegabter und kenntnisreicher Forscher das nicht sieht. Zum Teil kann das aus der Art der Bildung verstanden werden, welche uns die hohen Schulen anbieten: die Trennung von der Philosophie, namentlich der Erkenntnislehre und der Wissenschaftstheorie, von den empirischen Wissenschaften, die Zerteilung in Natur- und Geisteswissenschaften, der Zerfall in Spezialisierungen und die Wirkung der Wirtschaft, letztendlich des Kapitalismus auf das Bildungswesen.

Das aber genügt noch nicht: Es muss auch einiges in unserer Anlage stecken. Man wird sich der Lateralität, der Spezialisierung unserer Hirnhälften, erinnern und des ratiomorphen, unbewusst vernunftähnlich steuernden Apparates. Er operiert überwiegend rechtshemisphärisch, vorsprachlich, durchaus nicht nur entlang linearer Kausalität, vielmehr schöpferisch und mehrdimensional. Seine Leistungen sind daher schwer unterrichtbar und kaum Inhalt unserer Lehrbücher. Aus der linken Hemisphäre dagegen operieren Bewusstsein und Sprache in einer logisch überwiegend linearen Weise und suggerieren uns die jeweils gerichteten, einfachsten und direkten Lösungen, die daher intuitionistisch als mehrdimensionale Lösung anbietet, kommt dann sprachlich auf Eindimenstionalität getrimmt zu Tage.


Verglichen mit unserem Handeln in komplexen Systemen führte sich diese Haltung sogleich ad absurdum. Man denke an ein Automobilwerk und wird schon an der Betriebsorganisation die Vielzahl an Fertigungsströmen vom Guss des Motorblocks, der Reifen, Fenster und Plastikschaltungen erkennen, wie viel da nebeneinander laufen und schrittweise verflochten werden muss, um ein zusammenhängendes Produkt zu ergeben.

Das gilt nicht minder für das Lernen aus den Produkten. Auch hier hätte ein blinder Konstrukteur, der sich auf die Variation durch Zufälle – wie Koestlers Affe an der Schreibmaschine – und das Urteil am Markt – die Selektion durch das Milieu – verlässt, keine Chance. Sogar bis in die Toleranzen muss alles, was Erfolg haben will, vorweggenommen werden:  Stets muss ein Obersystem die Zusammenhänge vorwegnehmen, die Passung von Kolben und Zylinder wie jene der Schrauben und Muttern.

Unser ganzes Leben und das unserer Kulturen beruht auf der Vorwegnahme jener Erfahrungen, die Erfolg hatten und weiterhin Erfolg versprechen. Fast ist es trival, das auszusprechen. Warum also die endlose Auseinandersetzung um die Ursachen der Evolution?

Das scheint mir deshalb gegeben, weil an ihr die Nagelprobe vom Ende des einen und dem Beginn eines anderen Paradigma ansetzt. Das eine, das seine Prognostik aus der Suggestivität der Wiederholbarkeit reversibler Prozesse schöpft, das andere, das der Komplexität unserer Lebenswelt zu entsprechen hat, einer Welt, in der wir unser Dasein fristen und deren Teil wird außerdem noch selber sind.

Nun mag sich das Erklärungsmodell des Lernens aus den eigenen Produkten in der Evolution schwierig ausnehmen, aber wir kennen die Lösung schon. Sie bildet sich in den Aufbauvorgängen der Embryologie ab wie in der Hierarchie der Gen-Wechselwirkungen. Auch diese werden nur durch Reihen von Zufall entstehen, doch werden, wie das alle Selektion vorschreibt, jene verlöschen, welche den Aufbau stören oder gar zu Katastrophen führen, uns hingegen solche erhalten bleiben, die diesen fördern.

Es bleibt schon einzuräumen, dass letztlich das Milieu über die Gesamttüchtigkeit entscheidet. Aber das Sehen der Libelle nimmt an den Insekten Maß, unseres an den Wirbeltieren. Auch das kann einem noch trivial erscheinen. Nicht trivial, vielmehr im alten Paradigma verboten ist es, diesen Rückfluss von Information, das Lernen aus dem eigenen Produkt, anzuerkennen. Es geht um den “blinden Fleck” und das Klammern an ein bequemes, aber unzureichendes Paradigma.

Nun kann man sich ja fragen, was das schaden soll. Die Morphologie ist nicht älter als zweihundert Jahre und die Wissenschaft ist auch ohne sie weitergekommen; und nicht minder unsere Kultur. Wo also fände sich das Malheur, wenn sie sich in Physiologie auflöst und zu einer Hilfswissenschaft der Biochemie wird, die von ihr nur verlässliche Namen für ihre Generalisierungen braucht?

Nun, sie ließe das richtige Paradigma endgültig den Bach hinuntergehen, die Wissenschaften vom Leben, vom Menschen, seinen Sozial- und Kulturformen an den Rand gedrängt veröden. Sie ließe weiterhin die einseitigen, Unheil bringenden Theorien von der Gesellschaft rechtfertigen, die Welt als sinnlos oder vorgeplant uns über Nihilismus oder aber blinde Ergebenheit unmenschlich machen. Sie ließe das Wachsen des Ozonloches ebenso zu wie das Steigen der Ozeane. Sie ließe zu, von staatlicher Durchplanung oder aber vom Egoismus jeder gegen jeden eine glückliche Gesellschaft zu erwarten.

Und das kommt nicht von ungefähr, denn wir sind mitten drin in den Einseitigkeiten einer Weltwirtschaft, die über Globalisierung und Neo-Liberalismus uns alle in die Fron treibt, die Armen ärmer, die Reichen reicher macht und das Faustrecht von den Hegemonien bis zum Völkermord legitimieren lässt.

Es geht um jene Schnittstellen entlang der Dinge dieser Welt, wo das Reversible ins Irreversible, umgehend Schützenswertes übergeht, um jene Grenze, wo wir für eine heile Welt und schon für unser Überleben ein anderes Paradigma bedürfen.


Der Verlust der Morphologie

2006 erschien im Seifert Verlag "Der Verlust der Morphologie", mit einem Vorwort von Dr. Barbara Schweder
"Anfang der 1980er-Jahre hat mein Vater mir gegenüber das erste Mal dieses Buch erwähnt. Wahrscheinlich hatte er schon viel früher das Konzept im Kopf, da ja sein ganzes Leben nach einem Plan abzulaufen schien, wie er selbst bemerkte, als er Aufzeichnungen aus seiner späten Gymnasialzeit fand, wo er bereits seine Entwicklung und Forscherlaufbahn aufgezeichnet hatte, Jahrzehnte bevor diese sich erfüllen sollte.
Er sagte, die "Morphologie" würde sein Alterswerk. Und zwar deshalb, weil sie alles zusammenfassen sollte, was er gedacht und zu Papier gebracht hat, bis eben zu jenem Zeitpunkt, an dem er Bilanz ziehen wollte. Danach sollte nichts mehr kommen, und so hob er sich dieses Werk auf, bis er seine Kräfte schwinden fühlte.
Vater war sehr krank in den letzten Monaten seines Lebens, daher ist die "Morphologie" nicht ganz fertig geworden, teilweise fragmentarisch geblieben. In seiner typisch selbstironischen Art meinte er, dem Leser würde nicht abgehen, was nicht dort steht. Dennoch war es mir ein Bedürfnis, aus zwei vorliegenden Fassungen - von Januar 2005 und von Juli 2005 - eine gemeinsame letzte Fassung zu erstellen und auch die Originalstichworte hinzuzufügen, wo das Werk unvollendet nur aus Anmerkungen bestand.
Vater hatte außerdem den Wunsch, dass in den entsprechenden Textpassagen auf seine Bücher hingewiesen werden sollte; diese finden sich als Anmerkung im Anhang. So ist dieses Buch über den Genuss der Lebensweisheit eines reichen Forscherlebens hinaus ein wertvoller Wegweiser durch die Publikation meines Vaters, vor allem für jene Studenten und Gebildeten, die seine Vorlesungen nicht mehr hören konnten."

 

Die Geschichte und Entwicklung der morphologischen Methode in Wien 1909 bis 2009

Die Morphologie ist eine naturwissenschaftlich-geisteswissenschaftliche Chimäre. Das heißt, sie produziert naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf der Basis einer geisteswissenschaftlichen Methode, beruht sie doch auf dem Fachwissen, dem „geschulten Auge“ des Fachmanns, der Aufgrund seiner Erfahrung Zusammenhänge erkennt und evaluiert ohne messbare Ergebnisse vorweisen zu können. Es ist kein Zufall, dass die Morphologie gerade in der Biologie entwickelt wurde, befindet sich diese doch an der San Andreas Falte zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften, gerade dort wo die kontroversiellen Methoden aufeinander stoßen…
Dr. Barbara Schweder, Wien, Sommer 2008


 

 

 

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