Rupert Riedl

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Der Wiederaufbau des Menschlichen

 

 

 

Wir brauchen Verträge zwischen Natur und Gesellschaft
Auszüge aus dem Manuskript 1987

 

 
Der Aufbau des Menschlichen erfolgte über hundert Jahrtausende, vielleicht über einen Zeitraum von mehr als einer Jahrmillion. Massiver Selektionsdruck einer noch feindlichen Natur hat diesen frühen Menschen über ungezählte grausame Schicksale herausgebildet, das Bewußtsein hell gemacht, ihn seine noch einfache Welt richtig interpretieren lassen und seine sozialen Adaptierungen so geregelt, daß der Erfolg dieser Spezies den aller anderen Kreaturen übertraf. Kulturen waren die Folge.
Diese Kulturen haben auf jenen erblich verankerten Regulativen aufgebaut, sie aber in einem für Evolutionsprozesse völlig neuen Tempo, uns mit selbstgemachten Strukturen, überbaut. Die Zivilisation hat die alten Anlagen überwuchert. Und sosehr wir auch meinen, ihre Entwicklung absichtsvoll gelenkt zu haben, sind wir in ihre Konsquenzen doch nur, wie Friedrich von Hayek zeigt, hineingestolpert.
Die Zivilisationen sind uns passiert. Etwa in dem Sinne, daß keiner, der Geschichte machen wollte und auch Geschichte gemacht hat, wissen konnte, welche Geschichte er gemacht haben werde. So mußte es geschehen, daß manche der sich verselbständigenden Institutionen einer Zivilisation, wiewohl von den alten Regulativen gefördert, deren lebensfördernde Wirkung in wenigen Jahrzehnten pervertieren und sich sogar gegen unsere Lebensinteressen wenden konnten.
 
Der Abbau des Menschlichen (Konrad Lorenz) konnte uns, auch gegen beste Absicht, geschehen, weil wir zu wenig von Entwicklungsgesetzen und von der universellen Ausstattung des Menschen wußten, von Entstehen und den Grenzen der Vorbedingungen unserer Vernunft wie überhaupt von den Eigengesetzlichkeiten komplexer Systeme. Solcherart Kenntnis steht nun zur Verfügung, und Konrad Lorenz hat schon vor fünf Jahren (1983) die Grundgesetze dieses Abbauvorgangs beschrieben.
Es ist die Evolutionäre Erkenntnistheorie, in welcher jene Kenntnisse zusammenlaufen. Sie stellt fest, daß unsere alte Ausstattung, jene angeborenen Anschauungsformen, die uns lenken, die Welt zu deuten, in Zeiten, wie sie Kulturen zur Verfügung stehen, nicht mehr veränderbar sein werden. Sie können nur mit Hilfe der Erfahrung überstiegen werden.
 
Viele der Einsichten hinsichtlich unserer sozialisierenden Ausstattungen entnehmen wir heute der Vergleichenden Verhaltungsforschung. Mit den Grundlagen unseres Weltbildapparates (Biologie der Erkenntnis), dem Erkennen und Begriffen (Begriff und Welt) wie dem Erklären und Vestehen (Die Spaltung des Weltbildes) habe ich mich in Büchern selbst auseinandergesetzt;  wie unsere Haltung zu den Fragen von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu deuten ist, damit befassen wir uns in diesen Jahren.
Der Wiederaufbau des Menschlichen müßte aus diesen Kenntnissen darstellbar werden. Freilich vorerst nur in der apodiktischen Kürze eines Entwurfs. Er soll zeigen, wie unsere Natur beschaffen ist und in welcher Weise einerseits das soziale Milieu unserer Zivilisation mit unserer Ausstattung wieder verträglich gemacht werden kann und andererseits unser Weltbildapparat mit der Komplexitität dieser Welt (Teil1). Wie unsere Haltungen zwischen Altruismus und Egoismus (Teil 2), zwischen Pluralismus und Uniformismus (Teil 3) und zwischen Zwecken und Zwängen (Teil 4) pervertiert wurden und restauriert werden könnten, schildern konkrete Beispiele. Und welche Verträge mit unserer Gesellschaft zu schließen wären (Teil 5), das will ich aus der gemachten Erfahrung herleiten.
 
Es wird, im Unterschied zu Rousseaus “Gesellschaftsvertrag”, mehr von Verträglichkeit die Rede sein. Einmal, weil unsere Verhandlungen mit unserer Gesellschaft nie aufhören sollen. Ein andermal, weil man mit den Gegebenheiten, welche die Natur bietet - die äußere wie unsere eigene -, nur begrenzt verhandeln kann. Darin liegt auch der Unterschied: Wir wissen heute um so viel mehr, wie die Welt gemacht ist und was im Menschen verankert bleibt, daß wir angeben können, was unsere Gesellschaft von Menschen noch nicht versteht und der Mensch noch nicht von seiner Welt.
Ich muß also eine Fülle an Kritik folgen lassen. Man verstehe mich aber recht. Diese Fülle an Kritik ist nicht darauf zurückzuführen, daß ich meinte, aus der Perspektive einer besonders zu kritisierenden Zivilisation heraus zu schreiben. Im Gegenteil: unter den industrialisierten Gesellschaften, welche diese Welt gefährden, ist diejenige, aus der heraus ich schreibe, noch geradezu die beste. Es ist umgekehrt eben das Niveau dieser Kultur, das es erlaubt, krititsch und sogar sehr kritisch mit ihr umzugehen; und auch mit einiger Hoffnung, verstanden zu werden.
Ich halte diese Möglichkeit und die Ambition zu aufbauender Kritik sogar für Wertmaßstäbe der Kultur einer Nation und der Bildung ihrer Bürger und möchte sie allen wünschen, die am Abbau des Menschlichen bereits beteiligt sind.
 

Teil 1: Verträge aus unserer Natur

oder: Adaptierung, Pervertierung, Restaurierung
Über die Natur unserer Ausstattung
oder. Wie wir gemacht worden sind
Wem unsere Natur ausgesetzt ist
oder: Was wir aus uns gemacht haben
Worin der Vertrag bestehen kann
oder: Was wir nun mit uns zu verhandeln haben werden
 
 
Teil 2: Über eigene und kollektive Inhalte
oder: Altruismus, Nihilismus, Egoismus
 
Über Massenvermännlichung
oder: Das Lob der Frauen
Die Verhaustierung des Menschen
oder: Das Lob des Liebens
 
 

Über Aufrüstungsverhandlungen

oder: Das Lob des Nachbarn
 
Wandernd über den Taygetos, einen Gebirgszug des südlichen Peloponnes, begegnete ich einem Hirtenjungen. Erst erstarrten wir und brachen darauf in homerisches Lachen aus, denn wir sahen uns zum Lachen ähnlich. Ich war ihm, oder er mir, wie aus dem Gesicht geschnitten. Unglaublich! So saßen wir lange beisammen und unterhielten uns; er mich mit seiner Rindenflöte, ich ihn mit meiner aus Blech gepreßten Mundharmonika, wie ich sie als Student stets dabei hatte. Wie so fragte ich mich später oft, wenn wir in des jeweils anderen Umgebung aufgewachsen wären? Wir stammten doch beide aus derselben alten Kultur. Dennoch, er konnte nicht lesen, aber die Odyssee auswendig. Ich konnte sie nicht auswendig, aber sie vorlesen, aus meiner Taschenbuchausgabe. Er hatte noch nie Schuhe gehabt. Ich konnte da oben ohne Schuhe nicht sein. In seiner Hirtenhütte aufgewachsen, hätte meine Neugierde vielleicht das Verhalten der Schafe befriedigt, der Wandel der Jahreszeiten oder die Anzeichen des Wetters. Nie wäre mir der lebhafte Wunsch nach einer Botanisiertrommel entstanden, nach einem Mikroskop oder einem Bücherregal. Das Maß unserer kulturellen Bedürfnisse ist unsere Umgebung, und in derselben ist es unser Nachbar.
 
An unseren Nachbarn nehmen wir Maß, und eine Kultur besteht darin, es ihnen gleichzutun, die Entwicklung einer Kultur darin, über das Maß der Nachbarn hinaus - ein klein wenig - aufzubauen. Selbst Heroen der Kultur, wie Michelangelo, haben die Kultur ihrer Nachbarn, damals die bildende Kunst der Renaissance, nur um ein weniges überstiegen. Der Nachbar enthält das ordnende wie ein herausforderndes Prinzip. Es ist das order on order-Prinzip, wie es Erwin Schrödinger für die Evolution der Organismen formuliert und wie auch für die Evolution der Kulturen gelten muß. Darum ist der Nachbar zu loben.
 
Unsere Bedürfnisse entstehen mit unseren Möglichkeiten. Was über unsere Ausstattung, den Wunsch nach Kommunikation und sozialer Einfügung hinausgeht, muß als Bedürfnis jeweils erst geschaffen werden. Und dies entsteht durch Nachahmung aus dem Vergleich und weiter nur innerhalb der engen Grenzen unserer Geschicklichkeit und Phantasie.
Man staunt über die Menschenaffen, daß sie neben der eher zufälligen Benützung eines Stockes kein Werkzeug entwickeln; obwohl ihnen die Herstellung eines Faustkeiles physisch schon möglich und das Gerät immer wieder von lebenserhaltender Bedeutung wäre. Aber auch unsere Vorfahren haben über eine Million Jahre den Faustkeil nicht überstiegen. Und vom Bronzebeil konnte nicht einmal geträumt werden, solange noch niemand auf den Gedanken gekommen war, man könnte Metall aus den Steinen schmelzen.
 
Die Dinge aber kamen in Bewegung, in atemberaubende und lebensbedrohende Bewegung. Was einmal lebenserhaltend wirken konnte, beginnt sich gegen uns selbst zu wenden. Diesem Wandel und seinen Ursachen will ich nachgehen. Noch meinen Großeltern war fließendes Wasser in der Wohnung kein Bedürfnis, weil aller Sozialkontakt und alle Neuigkeit beim Brunnen, der “Bassena” im Hofe, floß. Meinem Vater war das Auto kein Bedürfnis, und nie ist er geflogen. Denn in seiner Welt schätzte man die Beschaulichkeit der Reise in der Kleinbahn und der Kutsche und lange Kontemplation über das Reiseziel. Man reiste vier Tage nach Florenz, nicht weil man nicht schneller konnte, sondern weil man die Reise durchs Friaulische und die Marken sich nicht entgehen lassen wollte. Das ist in der Generation meiner Kinder anders. Schon in ihren zwei Jahrzehnten wandelte sich das Bedürfnis vom Dia-Projektor über den Schmalfilm zur Videokassette, von der Schallplatte übers Tonband und den Kassettenrekorder zur Digitalplatte und vom Rechenschieber über den Taschenrechner zum Personal-Computer. Woher kommen alle fünf Jahre neue Bedürfnisse? Diese kommen längst nicht mehr aus Kreativität, Fertigkeit und Bedürfnislage der Benutzer, sondern aus der Kreativität, Fertigkeit und Bedürfnislage von Industrie, Marketing und Werbung. Diese Institutionen mußten ein Eigenleben entwickeln. Sie werden zum Ziele ihres eigenen Überlebens gezwungen, uns neue Bedürfnisse aufzuschwätzen, noch bevor der Markt mit alten Produkten gesättigt ist. Denn welche Industrie auch den Markt endgültig gesättigt hätte, sie erstickte damint ihr eigenes Lebenslicht.
 
So mußte es zu einem Wettlauf der Bedürfniserzeugung kommen. Und weil es immer um viel Kapital, Prestige, viele Arbeitsplätze und Interessen geht, werden im Wettlauf auch die Tüchtigsten aufgeboten. Somit wird ein Großteil der Intelligenz in unserer Zivilisation nicht dazu verwendet, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern durch die Erfindung von Mangelerscheinungen solche zu erzeugen. Also flimmern von den Fernsehschirmen dümmliche und desperate Menschen mit den alten Produkten, denen kluge und und glückliche mit den neuen gegenübergestellt werden. Und schon in zartem Kindesalter kann man sehen, worin das Glück der Menschen besteht: im Besitz immer neuerer Gegenstände, welche die alten zu Gerümpel werden lassen, das erst in die Rumpelkammer wandert und dann auf den Müllplatz. Daher wird der Nachbar mit seiner neuen Ausrüstung und seinem Vorbildcharakter selbst wieder industriebeflügelt. Denn auch wenn er sich den Neuerungen widersetzen wollte, die Industrien haben für das Alte keine Ersatzteile mehr. Er wird bei Schäden ohnedies zum Erwerb des Neuen gezwungen. Die Erzeugung von Mangelerscheinungen wird selbst Institution. Es müssen sogar Schäden im gleichbleibenden Produkt vorpogrammiert sein. Denn wohin käme zum Beispiel die Glühbirnenindustrie, würde sie, was sie könnte, Birnen von einer Lebensdauer produzieren, daß man sie über Generationen vererben könnte. Die so liebenswerte Ausstattung des Menschen mit Neugierde, Besitzer- und Innovationsfreude, der Lust an Betriebsamkeit und Gewinn wird aber in einer noch gespensterischeren Weise pervertiert. Nicht nur werden permanent Mangelerscheinungen erfunden, das nachbarliche Maß selbst wird überschritten. Wo einmal die Bürger eines Städtchen aneinander Maß nahmen, dann an Nachbarländern und benachbarten Nationen, reicht das Maß des Nachbarn heute hinaus über die Grenzen ganz unnachbarlicher Kontinente. Als dessen Folge zerschneiden heute alle Fortschrittlichen ihre Städte mit Schnellstraßen, die Landschaft mit Autobahnknoten, verpulvern ihre Energie mit Ganzglasfassaden, Vollklimatisierung und ihre Reserven in völlig absurder Rüstung. Denn nicht mehr wappnen sich die Tiroler Bauern, wie einst mit Dreschflegeln gegen die Bayern, vielmehr, dank der Innovationslust und der Reichweite der Erfindungen, wappnen sich nun die Nordamerikaner gegen Rußland und umgekehrt; und alle Verbündeten machen das nach. Nun ist des Nachbars Maß überall an der Anzahl, Reichweite und Sprengkraft der Nuklearwaffen, in Tonne TNT, zu messen.
 
Die Innovationsfreude unserer alten Ausstattung wird nun industriebetrieben noch angstbeflügelt, und die Partner, durch die Angst schon der ganzen Welt zur Verhandlungen gefordert, kommen auf den Gedanken, aus der Position überlegener Stärke zu verhandeln - weil bekanntlich nur die Macht zur Räson zwingen kann. Und so nimmt es nicht wunder, daß alle Abrüstungsverhandlungen, wie man sie uns vorstellt, sämtlich zu Aufrüstungsverhandlungen geworden sind.
 
Wohin ist nun jenes nachbarliche Maß geraten, das Ordnung auf Ordnung unsere Kulturen gefördert hat? Dieses lebensfördernde Prinzip ist zum lebensbedrohenden pervertiert worden. Es gefährdet uns in galoppierender Eskalation durch die Verschleuderung unserer Ressourcen, die sich in die Lawinen der Müllhalden verwandeln, und durch die schauerliche Bedrohung eines vierzigfachen Overkill.
 
Was also ist zu tun? Das Rezept ist so einfach zu formulieren, wie es schwierig ist, es anzuwenden. Denn einerseits ist um das tradierende Prinzip, welches unsere Kultur trägt, nicht herumzukommen. Andererseits wird man sich darauf besinnen müssen, was an Innovation die eigentliche conditio humana fördert. Das ist schon für uns Kreaturen nicht einfach. Nämlich zwischen den uns eigenen und den für uns fabrizierten Bedürfnissen zu unterscheiden. Denn man hat den Nachbarn zum Mangelerscheinungsmaß pervertiert. Für die produzierenden und vertreibenden Institutionen ist die Aufgabe noch schwieriger. Welcher Gewinn könnte der industriellen Konkurrenz aus Zurückhaltung entstehen, es sei denn ein moralischer? Und welcher Wettbewerb in der Wirtschaftswelt hätte bisher durch moralische Gewinne reüssiert? Und die Staaten? Diese scheinen mir noch mehr überfragt zu sein. Sie konkurrieren erst recht, und gerade auf den Gebieten wachsenden Umsatzes über wachsend erzeugte Bedürfnisse.
Da das Gefühl für Verantwortung sogar mit dem wachsenden Umfang von Verantwortung sinkt, bleiben doch die sichersten Urteile im engsten Kreise von  uns einzelnen Kreaturen. Letzten Endes sind wir Individuen es selbst, die entscheiden müssen, welche Art von Leben, Kultur und Welt wir wollen. Wenn wir wieder in die Lage kommen, dem Nachbarn neuerdings das rechte nachbarliche Maß zu liefern, dann ist der Nachbar wieder zu loben. Betrachten wir den Nachbarn von einer zweiten Seite.
 
 

 

Die Logik der Massenprivilegien

oder: Der Wert des Wachstums
 
Vor Ägyptens Pyramiden konnte sich noch niemand, besaß er auch nur eine Spur von Sensivität, des mächtigen Eindrucks erwehren. Richtig Farbe bekommt der Eindruck aber erst, wenn man die Mühseligkeit der damaligen Technik mit in Betracht zieht. Für die heutige Technik des Fertigbetons wäre der Bau kein Problem. Man könnte sich, etwa im Wert eines Häuschens, seine Pyramide leisten, wenn man auf die Maße des Cheops verzichtet und sich statt mit einer Seitenlänge von 233 Metern mit bloßen 100 bescheidet. Bei etwas Sparsamkeit könnten das alle haben. Dann wäre Österreich im Laufe von nur einer Generation lückenlos mit Pyramiden bedeckt und eingeebnet - des Baumaterials wegen. Also kann behördlicherseits dem Pyramidenplan nicht stattgegeben werden, und zwar, weil schon unsere Kinder nicht mehr den geringsten Platz für ihre Pyramiden hätten. Diese Weisheit der österreichischen Baubehörde, die ich schätzen lernte und mit meiner Überlegung ehre, ist leider noch nicht Allgemeingut. Davon ist nun eben auszugehen.
 
Die Nationalökonomie beschreibt eine Vielfalt struktureller Ursachen, warum das sogenannte Bruttosozialprodukt wachsen muß. Wenn es aber das Lebensziel aller Menschen wäre, morgen mit weniger Gütern und weniger lästigem Komfort belastet zu sein als heute, könnten die nationalökonomischen Gründe bleiben, wo sie wollen. Nichts würde wachsen. Das Gedränge der Angebote würde als Obszönität, die Engelszungen der Werbung als Züngeln des Beelzebub empfunden werden. Namentlich die Frauen, die schon einmal auf das Werben einer solchen Schlange hereingefallen sind, würden mit Grausen flüchten. Aber nichts derlei beobachten wir. Im Gegenteil. Angebots- und Werbestrategien sind so erfolgreich, daß sich sogar schon Universitätsfächer etablieren, die erforschen, wie man den Leuten neue Bedürfnisse aufschwätzt, auf die sie selbst nie gekommen wären. Ich gehe darum bewährterweise vom Menschen aus. Oder noch besser: von der Amsel.
 
Nie konnten Biologen beobachten, daß etwa die Amsel im zweiten Jahr ein größeres Nest zu bauen trachtet als im ersten. Selbst die Schimpansen, die im Tropenregen jammervolle Bilder abgeben, sorgen auch gegen den hundertsten Wolkenbruch keineswegs mit einem Blätterdach vor. Man läßt die Dinge, wie sind. Das Bedürfnis des Menschen, sich zu verbessern, muß mit dem Hellwerden seines Bewußtseins zusammenhängen und also mit der Möglichkeit, das Gestern so mit dem Heute zu vergleichen, daß daraus Pläne für das Morgen resultieren können. War es bislang nur die lebensbedrohenden unter den üblen Erfahrungen, denen vorgebeugt wurde, so kann nun aller negativen Erfahrung vorgebeugt werden. Aber gemach! Bekanntlich beanspruchte die Verbesserung vom Faustkeil zum Schaber und später vom ersten Weizenanbau bis zu dem unserer Tage jeweils zweihundert Generationen, vom ersten rindergezogenen Pflug bis heute über hundert. So blieb es überhaupt in der sogenannten traditionellen Gesellschaft. In der “reifen Gesellschaft”, wie die Lehrmeinung der Volkswirtschaft bescheidernerweise ihre eigene bezeichnet, ist das anders. Nicht nur ist das Rind dem Traktor gewichen; wer keine Differentialsperre hat, will sie morgen haben, übermorgen Federsitz, Aircondition und den Eiskasten in der Kabine.
 
Was hat sich geändert? Die Ausstattung des Menschen gewiß nicht. Seine Bedürfnisse aber offenbar. Wieso? Kehren wir zur Nationalökonomie zurück. Sie erklärt uns den Wandel damit, daß der Luxus, den in der traditionellen Gesellschaft nur wenige beanspruchen konnten, nun von allen beansprucht werden könne. Wir sind zurückgekehrt zu den Pyramiden, der tieferen Logik der Massenprivilegien. Und dies ist wohl der Grund, weshalb nach Ansicht von John Galbraith die Wirtschaftsplanung mit ihrer “Mischung aus Vernunft, Weissagung, Beschwörung und gewissen Elementen von Zauberei bestenfalls in den primitiven Religionen eine Paralelle findet.” Erklärt  man heute aus der Kenntnis von Evolutions- und Systemtheorie Wirtschaftsplanern und Politikern, daß jedes System, das nur vom Wachsen leben kann, am eigenen Wachstum zugrunde gehen muß, so wird einem immerhin schon zugehört. Dennoch folgt als Antwort: “Aber fünf Prozent muß sein.” Sucht man eine Antwort auf diese Diskrepanz, so empfiehlt sich als erstes zu fragen: Wachstum wovon?
 
Ein Ausflug in die Naturgeschichte zeigt freilich ein stetes Wachsen in der Evolution. Doch nicht der Energiedurchsatz hat zugenommen. Er blieb für die Biosphäre gleich. Nur die Nutzung der Energie hat zugenommen, aufgrund stabilerer Verflechtung und effizienterer Methoden. Was gewachsen ist, ist genetische Instruktion, was, was wir landläufig Information, Kenntnis oder Erkenntnis nennen. Das ist im Wirtschaftswachstum dummerweise anders. Vom Rind zum modernen Traktor ist vor allem der Energiedurchsatz gestiegen. Was uns die Technik an Prosperität anbietet, ist in einem Maße mit einem Energiedurchsatz korreliert, daß Lebensstandard, Bruttosozialprodukt und Energieeinsatz fast dasselbe bedeuten. So verbraucht die Gesellschaft der USA mit 7% der Weltbevölkerung 40% der Weltenergie. Hätten diesen Aufwand bereits alle Menschen beansprucht, so wäre unsere Atmosphäre schon zerstört.
 
Warum treibt unsere Gesellschaft in das Energiewachstum, und was wäre die Alternative? Energie ist, solange sie nachfließt, billig: von der Energie des Rindes zur Dampfmaschine zum Erdöl. Energie aus großen Ressourcen ist vor allem weniger kostspielig als Information, Kenntnis oder Erkenntnis. Allerdings nur solange sie unlimitiert nachfließt beziehungsweise solange die Biosphäre diesen wachsenden Fluß verträgt. Dann allerdings muß der Zusammenhang umkippen. Und wenn dann auch guter Rat teuer sein wird - die Fortsetzung jener Energiepolitik würde uns noch viel teurer zu stehen kommen. Nun korreliert aber Lebensstandard und Energiedurchsatz nur ganz oberflächlich mit dem Niveau der Lebensqualität, da Norwegen und auch Österreich hier weit vor den USA, England oder Frankreich liegen. Und damit kommen wir von globalen Problem der Wachstumsgrenzen wieder zu den Bedürfnissen des Menschen, die dahinterstehen
.
Was versteht man unter Lebensqualität? Dazu gehört nun wohl der Kühlschrank ebenso wie ein freies Bücherangebot, das Automobil wie die Qualität des Gartens oder nahe Wandergebiete, die Qualität der Medien wie die Möglichkeiten der individuellen Kommunikation, der kommunalen Sicherheiten wie die des Trinkwassers, des Schulsystems und der Bildung. Lebensqualität hat also ein andere Zusammensetzung als Prosperität, Standard oder gar Energieaufwand. Warum wurden wir in den Strudel der technischen Prosperität gezogen?
 
Dem Menschen, von dem immer auszugehen war, ist ein Bedürfnis nach Verbesserung seiner Lebensqualität eingeboren. Wir schnell diese vollzogen werden und worin sie bestehen soll, das bestimmt überwiegend sein soziales Milieu. Sie hätte in besserem Theater, besseren Kunstgewerbe im Haus, besserer Lyrik, Malerei, Bildung oder wenigstens besseren Fremdsprachenkenntnissen bestehen können. Keine Grenzen des Wachstums wären da gegeben. Unsere Kultur ist aber, in noch unreifen Jahren, die Technik passiert, die Industrie und damit die Möglichkeit zur Massenproduktion kurzlebiger Billigprodukte dominiert. Die zwar nun fast alle haben können, die aber im Gegenzug auch fast alle in die Spirale einer Massenkonsum-, Verschwendungs- und Wegwerfgesellschft gezogen haben, deren Wachstumsgrenzen erreicht sind. In der industriellen Konkurrenz ging es zwar oberflächlich um die Befriedigung von Marktbedürfnissen. Aber dies gelingt nur über die Erzeugung solcher Bedürfnisse. Also über die Erzeugung von Unzufriedenheit, um diese durch Befriedigung zu ersetzen. Also über einen Kreisel mit eskalierender Beschleunigung. Und die Wirtschaft muß den Kreisel weitertreiben, weil ihre Institutionen weiterhin über Marktanteile um ihr Überleben ringen. Das Dogma, daß diese Lösung den Menschen glücklich mache, hat man in der Schere zwischen Hetzjagd, Unsicherheit, Inflation und Arbeitslosigkeit wohl aufzugeben. Sie zerstört die Natur und die Humanität. Natürlich will jedes Menschenleben aufbauen, für sich und seine Nachkommen die Lebensqualität verbesssern. Worin diese aber besteht, was das Humane, von der Kreatur Gewertete an Qualität aber ist, das möge man aus sich selbst heraushorchen. Nicht auf die industriellen Institutionen und ihre Werbung ist Verlaß. Sie stehen in den ärgsten Zugzwängen und müssen uns aufschwätzen, was sie in Masse produzieren können. Das Maß der Lebensqualität müssen wir selber sein. Der Wert des Wachstums muß nach menschlichen Werten bemessen werden.
 
 
Die Lebenswaffenschmiede
oder: Der Wert der Bildung
Die Paradoxien der Moral
oder: Das Vornehme der Zukunft
Von Riesenrüben und Riesenfüchsen
Oder: Das Vornehme der Regulative
Über altruistischen Egoismus
Oder das Vornehme des Eigentums
 
 

Teil 3: Über eigene und kollektive Werke

oder: Pluralismus, Konformismus, Uniformismus
 
Über Verwirklichungs-Institutionen
oder: Das Lob der Ungleichheit
Über gleiches Recht auf Ungleichheit
oder: Das Lob der Identität
Die Institutionalisierung der Eile
oder: Das Lob der Beschaulichkeit
Der Narrenkasten
oder: Der Wert der Phantasie
Die Fahne im Wind
oder: Der Wert des Wandels
Das Antiökonomieprinzip
oder: Der Wert des Kleinen
Über naiv Reisende
oder: Das Vornehme der freien Meinung
Macht muß Recht werden
oder: Das Vornehme der Medien
Das Salz der Geschichte
oder: Das Vornehme der Minderheiten
Bertrand Russels Hühner
oder: Das Vornehme der Wahrheit
 
 

Teil 4: Über eigenes und kollektives Tun

oder: Zwecke, Zweifel und Zwänge
 
Das Elende des Zentralismus
oder: Das Lob der Funktionen
Wer Verantwortung verantwortet
oder: Das Lob der Sicherheit
Entwurf der Wegwerfgesellschaft
oder: Das Lob der Arbeit
Die Substitution des Menschen
oder: Der Wert des Kreatürlichen
Über Kulturparasitismus
oder: Der Wert der kulturellen Werte
Die Erfindung des Schöpfers
oder: Der Wert der Re-ligio
Stricken an Maschenfaden
oder: Das Vornehme der téchne
Der Anti-Ameisenstaat
oder: Das Vornehme der Zwecke
Die Verhöhnung der Primitiven
oder: Das Vornehme des Denkens
Kindern Natur zurückgeben
oder: Das Vornehme des Nicht-Machbaren
Gottes Verantwortung
oder: Das Vornehme de Weltordnung
 

 

Teil 5: Verträge mit unserer Gesellschaft

oder: Wünsche, Ansprüche und Rechte
 
Über das Goldene Kalb
oder: Lernschritte für den Bürger
Über das Eigenleben der Kollektive
oder: Lernschritte für Institutionen
Über den Sachwalter der Metaphysik
oder: Lernschritte für den Staat
 
Literaturhinweise
Register
Veröffentlicht im Piper Verlag 1988
ISBN 3-492-03195-1
 

 


Link zum Vortrag von Rupert Riedl auf Tonband vom 19. Mai 1988, Wiederaufbau des Menschlichen, nachzuhören auf der Mediathek
Link PDF des Buches

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