Habermeyer: Unser Gast ist Rupert Riedl, emeritierter Professor für Zoologie an der Universität in Wien. Sie sind Vorsitzender des Vorstandes des Konrad-Lorenz-Instituts in Altenburg in Österreich. Sie haben u. a. für das ORF auch fünf Dokumentarfilme gemacht mit dem Namen "Die Gärten des Poseidon": über das Leben und Sterben des Mittelmeeres. Sie haben auch viele Bücher geschrieben. Zu einem Ihrer Bücher, dem Buch mit dem Titel "Biologie des Erkennens", hat Hoimar von Ditfurth gesagt, es würde eine kopernikanische Wende auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie darstellen. Dieses Buch trägt den Untertitel "Stammesgeschichtliche Grundlagen der Vernunft".
Riedl: Das hört sich nach was an, gell?
Ja, das hört sich nach was an. Bevor wir aber zum Thema "Vernunft" kommen, sollten wir doch noch über etwas sprechen. Sie sind gestartet als Zoologe, heute kann man Sie jedoch bedenkenlos als Evolutionsforscher bezeichnen. Sie haben sich also in Ihrem wissenschaftlichen Leben mit der Evolution beschäftigt. Ist denn das, was wir heute wahrnehmen können, unser Kosmos also, in der Evolution zufällig entstanden, oder hat es einen Sinn und einen Zweck, dass es uns gibt, dass dieser Kosmos entstanden ist? Kann man das in der Weise überhaupt beantworten?
Man erinnert sich vielleicht daran, dass in der Zeit, in der die Mikrophysik entstanden ist, Einstein sich nicht mit der Idee anfreunden konnte, dass Gott würfelt. Es stellte sich dann jedoch heraus, dass Gott tatsächlich würfelt: Er hält sich dabei aber strikt an seine Gesetze. Wenn einmal etwas entstanden ist, dann hält er sich an die Gesetze. Ob er gewürfelt hat, damit die Quarks entstehen konnten? Wer kann das wissen? Das ist Metaphysik. Sobald jedoch die Quarks vorhanden waren, sind auch die vier physikalischen Wechselwirkungen entstanden bzw. auseinander hervorgegangen. Das alles geschah durch zufällige Phänomene: Wenn der Kosmos in einem adiabatischen Kasten gewesen wäre, wären diese Wechselwirkungen nicht entstanden. Aber nachdem kein Raum vorhanden war und sie sich den Raum erst selbst gemacht haben... Es ist ja an sich schon eine phantastische Vorstellung, dass das Auseinanderrasen der Quanten überhaupt erst die Zeit und den Raum gemacht hat. Die vier physikalischen Wechselwirkungen sind also auseinander hervorgegangen. Durch dieses Auseinanderstreben der Quanten entstanden Unregelmäßigkeiten der Gaswolken. Das hat dann dazu geführt, dass ungleichmäßige Gravitationsfelder entstanden sind. Durch diesen Zufall des Ungleichmäßigen haben diese Gravitationsfelder die Materie wieder zusammengesammelt.
Der Zufall gehört also auf alle Fälle mit dazu.
Ja. Heute wissen wir, was es mit dem echten physikalischen Zufall auf sich hat. Mit diesem Zufall meine ich nicht den Zufall beim Würfeln: Das ist der kognitive Zufall, den man nicht versteht. Das Würfeln ist ja als Spiel so gemacht, dass ein Zufallsprodukt herauskommen muss. Dieser Zufall ist also nicht gemeint. Gemeint ist stattdessen der echte physikalische Zufall: Dieser echte physikalische Zufall ist das wesentlichste kreative Element in der Evolution. Das gilt für die Mutationen ebenso wie für unsere Ideen.
Wenn wir hier über die Sinnfrage und die Evolution sprechen: Waren Sie denn in Ihrer Kindheit und Jugend immer schon so veranlagt, dass Sie nach dem Sinn der Welt gefragt haben? Oder kam das alles erst im Laufe Ihres wissenschaftlichen Lebens? Denn, soweit ich weiß, haben Sie ja auf Wunsch Ihres Vaters zunächst einmal mit Bildhauerei angefangen.
Mit Malerei. Nachdem mein Vater halt ein bekannter Bildhauer war, bin ich in der Akademie immer nur der "junge Riedl" gewesen: Das war schon lästig. Zum Zweiten war das alles ja gleich nach dem Krieg. Ich bin Jahrgang 1925 und habe daher noch zwei Jahre Krieg mitgemacht. Danach haben wir gewusst, dass "die Welt gerettet werden muss". Ich wusste damals genau, dass die Welt nicht durch Malerei gerettet werden kann, sondern nur durch Erkenntnis. Ich hoffe, man merkt die Ironie in meiner Rede. Daher wollte ich also Wissenschaftler werden. Schon als Schüler muss ich jedoch den Wunsch gehabt haben, Naturforscher zu werden: Darunter habe ich mir wahrscheinlich einen Mann vorgestellt, der sich mit Bilgeri-Stiefeln und Tropenhelm mit der Machete durch den Urwald schlägt. Als schon etwas gereifter Junge bestand mein ehrliches Ziel darin, die weißen Flecken auf der Landkarte zu tilgen. Viele von diesen weißen Flecken hat es aber schon damals nicht mehr gegeben. Aber immerhin, unter Wasser war noch alles ungesehen und unbesehen. Das war ungefähr in der Zeit, in der Hans Hass die größten Meerestiere gefilmt hat. Ich habe dagegen bei Unterwasserexpeditionen die Führungen gemacht, die sich mit den kleinsten Meerestieren beschäftigt haben und die im Übrigen für die Meereszustände ja auch viel interessanter sind. Ich muss Ihnen sagen, dass war eine der schönsten Zeiten in meinem Leben: die ganzen Tauchgeräte selbst zu konstruieren und zu bauen – einschließlich allerlei Unfällen. Wir haben die Unterwasserkameras z. B. auch selbst gemacht und alle möglichen Flossen erfunden: Fußflossen, Armflossen, Handflossen. Die Arm- und die Handflossen haben sich nicht bewährt, aber die Fußflossen sind geblieben. Mit all dem konnten wir in eine wirklich neue Welt eintreten: Das war herrlich!
Das war gegen Ende der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre.
1948/49 war die erste und 1952 war die zweite Expedition. Wir als Studenten waren natürlich überfragt mit all dem, was da zu sehen war, und so haben wir riesige Literatur gewälzt. Wir arbeiteten damals in der Nähe von Neapel am Capo di Sorrento, denn im Golf von Neapel selbst konnten wir ja nichts machen: Dort war das Wasser zu sehr verschmutzt, und so gingen wir weiter weg zu den freien Meeresküsten. Außerdem hatte uns auch die zuständige meeresbiologische Direktion in Neapel an die Luft gesetzt. Sie haben gesagt, dass sie mit solchen Leuten nichts zu tun haben wollten, mit Leuten, die da unter Wasser irgendwie Haifische harpunieren oder so. Eine Generation später habe ich dann aber selbst eine leitende Funktion in dieser meeresbiologischen Station übernommen. Das Spaßige daran war damals jedenfalls das Leben draußen in der freien Natur: Das war wirklich die große Freiheit für uns.
Wann haben Sie denn Konrad Lorenz kennen gelernt?
Konrad Lorenz? Ziemlich bald nach dem Krieg. Er war sehr eindrucksvoll, wie überhaupt damals drei bestimmte Professoren sehr eindrucksvoll waren für uns. Bis auf einen sind auch alle Nobelpreisträger geworden. Wir Studenten hatten damals freilich keine Ahnung, welches Niveau da eigentlich herrscht. Die drei Professoren waren Konrad Lorenz, Karl Ritter von Frisch – der "Bienen"- Frisch, der eben gelegentlich in Wien war - und Ludwig Bertalanffy, der Begründer der Systemtheorie. Warum Bertalanffy keinen Nobelpreis bekommen hat, habe ich nie verstanden, denn an sich wäre er der Erste gewesen, der ihn verdient hätte. Wir hatten jedenfalls keine Ahnung, wie hoch da die Latte lag. Dort habe ich jedenfalls Konrad kennen gelernt. Während Bertalanffy zu den Vorlesungen immer in seinem abgetragenen Stresemann erschienen ist und hinter dem Katheder immer hin und her pendelte und von Frisch in einem etwas übertanen Jägeranzug immer ein wenig steif wirkte, kam Konrad Lorenz in einem Motorraddress. Er pendelte auch nicht hinter dem Katheder, sondern saß auf dem Katheder selbst mit pendelnden Beinen. So hat er uns Tiergeschichten erzählt und wie man z. B. eine Gans begrüßt usw. Es war alles sehr überzeugend, was er gemacht hat. Wir haben damals jedoch die eigentlich wesentlichen Erkenntnisse dieser drei Professoren nicht verstanden. Von all den Theorien von Konrad Lorenz ist mir gerade noch dieses Modell der Toilettenspülung in Erinnerung geblieben: Im Spülkasten staut sich etwas auf, das dann auf einen kleinen Druck hin herausrauscht. Wir haben also nur lauter Mist aufgenommen in unserem Unverstand. Das Einzige, das wir jedoch verlässlich gelernt haben, war die Erkenntnis, wie hoch die Latte zu liegen hat. Das war wirklich interessant. Mache ich mich deutlich genug, wenn ich das so sage?
Sie müssten vielleicht ein wenig genauer erklären, wie Sie das meinen.
Ich meine damit den Vergleich zum Hochsprung: Je höher die Latte liegt, umso größer wird der Anspruch an einen selbst. Die Ansprüche damals an der Universität waren jedenfalls sehr hoch: Diese Latte lag außerordentlich hoch. Wir sind immer nur so gerade noch am Ende dessen, was an Wissen produziert worden ist, mitgekommen: Wir sind mitgezogen worden in ein wirklich hohes akademisches Argumentationsniveau.
War Ihnen damals schon klar, dass es später in Ihrem Leben einmal um Fragen der Evolution gehen wird? Oder waren Sie zunächst einmal ganz einfach nur Meeresbiologe und Zoologe?
Ich wusste das nicht, denn ich stand mitten in der Meereskunde. Mein erstes Ordinariat war dann ja auch in den USA: Dorthin wurde ich für marine sciences berufen, also für marine Wissenschaften. Konrad muss ich also ungefähr in den Jahren 1946/47 kennen gelernt haben, als er aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte. Schon allein durch sein Motorraddress hat er mir natürlich Eindruck gemacht. Ich hatte damals von meiner ersten Expedition im Jahr 1949 einen Jeep: Mit diesem Jeep sind wir dann immer zu ihm nach Altenberg hinaus gefahren. Einmal war das z. B. mitten im Hochsommer, und deswegen hat er gemeint, dass wir als Erstes gleich zur Donau zum Schwimmen gehen müssen. Wir trabten brav mit, bis er gesagt hat, dass jetzt alle ins Wasser gehen sollen. Die Mädel, die dabei waren, haben aber gejammert, sie hätten keinen Badeanzug mit dabei. Er meinte aber bloß: "Das macht gar nichts, jeder sucht sich einen Busch, zieht sich aus und rutscht dann von da aus ins Wasser." Nun, unter dieser seiner Autorität ist das auch gemacht worden. Nach einer Viertelstunde ist es uns in dieser quirligen Donau aber doch zu kalt geworden: Wir mussten also wieder aus dem Wasser raus. Bedacht haben wir dabei allerdings nicht, dass wir im Anschluss daran eine halbe Stunde lang nackt auf diesem Treidelpfad zurücklaufen mussten. So viele Bekannte wie damals habe ich auf diesem Treidelpfad nie wieder getroffen! Konrad war halt ein begeisterter Nacktbader. Als ich wieder einmal mit ihm durch die Au gegangen bin - selbstverständlich nackt, denn an sich war das schon ein sehr abgelegenes Gebiet – habe ich ihm mein ganzes biologisches Herz ausgeschüttet. Er hat dabei schon gemerkt, dass mich die Verhaltenslehre sehr wohl interessieren würde. Er blieb also stehen und sagte zu mir: "Rupert, für einen Verhaltensforscher bist du nicht faul genug!" Das war richtig tiefgründig, denn er hatte natürlich vollkommen Recht: Die Geduld, die notwendig ist, um sich noch einen Tag und einen dritten Tag und einen vierten Tag diese eine Gans anzuschauen, weil sie einem immer noch nicht das zeigt, was man eigentlich sehen möchte, hätte ich wahrscheinlich nicht aufgebracht. Begegnet sind wir uns dann erst wieder 1971, als ich von der Uni in North Carolina an die Wiener Uni zurückberufen worden bin und er als Emeritus zurück nach Österreich gekommen ist. Da haben wir bemerkt, dass wir das Gleiche entdeckt haben. Mein Buch hat damals geheißen "Die Ordnung des Lebendigen", bei ihm hieß es "Die Rückseite des Spiegels". In der "Rückseite des Spiegels" hat Konrad aus dem Gebiet der Ethologie heraus gezeigt, also aus dem Gebiet der Verhaltensforschung heraus, woher die Masse unserer angeborenen Anschauungsformen stammen, woher also die Kantischen Apriori stammen. Ich habe über einen Umweg - und daher nicht so direkt wie Konrad -, nämlich über eine neuere Evolutionstheorie herausgefunden, dass unsere Denkmuster den Naturmustern sehr ähnlich sind. Unsere Denkmuster sind ein Adaptierungsprodukt an die Naturmuster.
Das wäre sozusagen ein Kernbestandteil der evolutionären Erkenntnistheorie.
Das ist evolutionäre Erkenntnistheorie. Konrad hatte das freilich schon im Jahr 1941 publiziert: die Kantischen Apriori im Lichte zeitgenössischer Biologie. Das war schon alles vollkommen richtig, aber die Biologie selbst war noch nicht zeitgenössisch genug. Er erzählte immer, dass sich sogar seine eigenen Assistenten darüber lustig gemacht hätten. Es gibt da einen Satz von ihm, von dem ich weiß, dass man sich darüber sehr gut verständlich machen kann. Er sagte schon in der Arbeit von 1941, die freilich niemand gelesen hat: "Unsere angeborenen Anschauungsformen passen wahrscheinlich aus dem selben Grund in diese Welt aus dem die Flosse des Fisches schon ins Wasser passt, noch bevor er aus dem Ei geschlüpft ist." Die Kantischen Apriori sind also für die einzelne Kreatur in der Tat wirkliche Apriori, im Hinblick auf die Stammesgeschichte sind sie jedoch Lernprodukte a posteriori. Aber diese Erkenntnis ist mir erst spät in meinem Leben gekommen, denn am Anfang hat mich das alles nicht interessiert.
Nachdem Sie nun vor einigen Jahren emeritiert worden sind, hatten Sie, wie Sie schreiben, Zeit, um ein ganz spezielles Buch zu machen. Ich darf dieses Buch einmal kurz vorstellen: "Zufall, Chaos, Sinn. Nachdenken über Gott und die Welt." Das ist ein Buch, das entstanden ist, indem Sie die Fragen Ihrer Studenten gesammelt haben, die Fragen, die die Studenten im Laufe Ihrer Lehrtätigkeit an Sie gerichtet haben. Hier in diesem Buch versuchen Sie nun, diese Fragen systematisch zu beantworten. Das hat insofern etwas mit der evolutionären Erkenntnistheorie zu tun, weil Sie darin den Blick wagen sozusagen von der Entstehung des Kosmos, also vom Beginn der Evolution, soweit wir ihn verstehen, bis zu den Fragen der heutigen Zeit...
...bis zum Zustandekommen von schlechter Politik.
...also bis zu unserer heutigen Gesellschaft und Kultur und den Problemen, die uns dabei bedrängen.
Der Untertitel beschreibt das Buch besser: "Nachdenken über Gott und die Welt." Ich hatte als Emeritus nicht nur die Zeit, um dieses Buch zu schreiben, sondern konnte damit endlich den spanischen Stiefeln der Universitätsvorschriften entgehen. Ich konnte damit endlich eine Vorlesung halten, die nirgendwo so richtig hingehört. So etwas hätte man früher vielleicht eine philosophische Anthropologie genannt, die heute eh nicht mehr gelesen wird. Bei mir basiert das jedenfalls auf einem evolutionären Weltbild. Ich bin von meinen Studenten natürlich immer wieder auch Sachen gefragt worden, die nicht nur in die Tierkunde gehören. Ich habe jedenfalls im Laufe der Zeit gelernt, dass die akademischen Sorgen unserer Studenten eigentlich nicht betreut werden. Sie bekommen hier das System der Tierkunde vorgestellt, dort dasjenige der Astronomie oder Ägyptologie usw. Aber die Fragen, die sie an ihre Zeit und an ihre Welt haben, werden eigentlich nirgends beantwortet. Mich haben aber genau diese Dinge interessiert. Denn ich habe schon lange die Überzeugung, dass in unseren weiterführenden Schulen und Universitäten ein System wirklicher Bildung geschaffen werden soll: Denn im Laufe der Jahrhunderte sind unsere Universitäten von Bildungsinstitutionen zu Ausbildungsinstitutionen geworden, an denen man die Zusammenhänge überhaupt nicht mehr begreift.
Wenn wir nun von diesen Zusammenhängen und von diesem Begreifen sprechen, dann wäre es doch interessant zu erfahren, wie Sie sich als Evolutionstheoretiker das Entstehen von Vernunft und Verstand überhaupt erklären. Denn nur von dieser Position aus, nur vom Wissen aus, was Vernunft und Verstand eigentlich ist, kann man den Blick auf unsere Zeit werfen. Erst dann kann man untersuchen, warum sich die Bildung zur reinen Ausbildung verändert hat. Wie ist denn, wie Sie das in Ihrem Buch bezeichnen, eigentlich das Bewusstsein des Menschen über sich selbst, das Bewusstsein von sich selbst entstanden? Ist das etwas, das uns von Gott geschenkt worden ist, oder ist das etwas, das mit der Naturgeschichte zu tun hat? Wie ist also das Bewusst-Sein entstanden?
Sie haben den Finger auf eine heikle Stelle gelegt: Sie haben scheinbar wirklich hineingeschaut in dieses Buch.
Ja.
Die Entstehung des Bewusstseins ist in einem Theoriengeflecht noch nicht wirklich auflösbar. Dass das einen evolutiven Erfolg gebracht haben muss, ist evident, denn sonst wäre es nicht entstanden: Das ist einfach so. Man muss sich bei der ganzen Sache Folgendes vor Augen führen. Unbedingte Reaktionen funktionieren außerordentlich schnell. Wenn ein kleiner Vogel oder eine kleine Hummel durch das Astgewirr schwebt, dann darf dieses Tier natürlich nicht darüber reflektieren und sagen: "Der Ast ist jetzt ein bisschen höher, da muss ich mehr Gas geben, damit ich da drüber komme." So ginge das nicht, und so geht das auch nicht.
Das funktioniert alles über einen Reflex.
Ja, das geschieht unmittelbar im Reflex. Die kürzeste Überlegung würde nämlich mindestens zwei Größenordnungen länger dauern. In diesem Maß muss also der Erfolg des Bewusstwerdens größer sein als der dabei entstehende Zeitverlust. Die Vermutung geht dahin, dass mit der Zunahme der Evolution vor allem bei den höheren Säugern vor allem ein bestimmtes Problem aufgetaucht ist. Die Anzahl der automatischen Lösungen - wie soll angegriffen werden, wie soll geflüchtet werden, wohin soll geflüchtet werden usw. – ist im Laufe der Evolution nämlich zu groß geworden. Wenn es für bestimmte Situationen meinetwegen eine Palette von zehn verschiedenen Anleitungen gibt, um eine Lösung zu finden, dann wird eine Oberinstanz notwendig, um unter diesen verschiedenen Lösungsansätzen auswählen zu können. Wie kann sie aber eine solche Oberinstanz auswählen? Sie kann das nur unter Rückgriff auf Gedächtnisinhalte. Der wesentliche Unterschied besteht also unserer Theorie nach darin, dass man mit Gedächtnisinhalten absichtsvoll umgehen kann. An sich machen wir Menschen das aber meistens gar nicht. Es gibt sehr viele Situationen, in denen uns nur die Situation selbst lenkt. Ein Beispiel: Wir verlassen unseren Arbeitsplatz, gehen in den Nebenraum, um im Nebenraum dann zu bemerken, dass wir vergessen haben, worin eigentlich die Absicht lag, das Zimmer zu verlassen und in den Nebenraum zu gehen. Was macht man in einer solchen Situation? Man geht zurück zum Arbeitsplatz, und dort fällt einem wieder ein, dass man eigentlich die Schere holen wollte. Unter dieser Anleitung des Objektes werden wahrscheinlich alle Tiere gelenkt. Tiere haben selten die Möglichkeit, einen Gegenstand absichtsvoll anzusteuern. Wenn ein Adler über der Hauptalpenkette schwebt, ist er sicher nicht in der Lage, sich im Gedächtnis die Astgabel abzurufen, in der sich sein Nest befindet. Wie findet er dann aber heim? Er hat meinetwegen Beute gemacht und will nun zurückfliegen. Er fliegt also etwas tiefer, und die Erinnerung sagt ihm dann bei der einen oder anderen Bergkette, dass das nun die richtige Bergkette sei, dass das nun das richtige Waldstück sei und nicht jenes, dass es diese Baumgruppe und nicht jene sei. So findet er wieder zurück zum Nest. Die Fähigkeit, mit Gedächtnisinhalten absichtsvoll umgehen zu können, ist das, was wir Bewusstsein nennen. Darin bestehen einerseits seine großen Möglichkeiten, andererseits stellt das aber auch sein Dilemma dar. Wir wissen ungefähr, wann das in der Evolution geschehen ist. Das Bewusstsein in dem Sinne, wie ich es soeben definiert habe, muss so ungefähr in der Neandertalerzeit entstanden sein. Denn wir wissen von den Shanidar-Höhlen im Nordwesten Persiens, dass dort Neandertaler mit großen Blumenbeigaben bestattet worden sind. Das hat Solecki schon in den fünfziger Jahren so ausgegraben, denn die Pollenanalyse hat das so gezeigt. Was bedeutet das? Na, diese Neandertaler damals müssen sich gefragt haben, was mit den Toten passiert. War das nun als Schmuck gedacht oder zur Heilung, denn man hat darunter auch Pflanzen gefunden, die man in Persien noch heute als Heilpflanzen kennt? Nicht "lange" danach gab es dann diese Fruchtbarkeitsfigurinen. Man hat den Zusammenhang zwischen Kopulation und Rezeption und Geburt natürlich nicht gekannt zu der Zeit: Die Geburt neuen Lebens, die Geburt eines Kindes, war für die Leute eben immer wieder ein Wunder. Mit dem Werden des Bewusstsein kam also auch das Dilemma der Metaphysik zu den Menschen. Wir werden dazu angeleitet, über Sachen nachzudenken, die wir nicht erfassen können. Konrad Lorenz sagte seinerzeit – ich selbst darf das nicht sagen, weil ich noch mitten im Beruf bin: "Die Philosophie ist das schönste und geschlossenste System der den Menschen nicht beantwortbaren Fragen."
Mittels eines kleinen Bogens würde ich gerne auf die heutige Zeit zu sprechen kommen: auf deren drängende Probleme und auf die Antworten, die Sie dazu geben. Dazu braucht es allerdings etwas, worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, nämlich die Sprachentwicklung. Dazu braucht es sozusagen das, was Sie als den Zusammenhang zwischen Sprache und zweiwertiger Logik bezeichnen. Warum ist die Sprache entstanden? Und wo liegt die Crux der Sprache?
Wie stellen Sie mich denn hier im Fernsehen hin, wenn Sie mir andauernd Fragen stellen, die sich fast nicht beantworten lassen!
Dafür haben Sie ja dieses schöne Buch geschrieben, das ich allen Zuschauerinnen und Zuschauern nur empfehlen kann.
Ich bin jetzt und war auch im Buch ehrlich: Das, was man verlässlich weiß, kann man auch als verlässlich angeben. Es gibt aber halt auch Vermutungen, bei Dingen, die man nicht so verlässlich sagen kann. Nun, was hat es mit der Sprache auf sich? Als unseren Vorfahren ihr urtümliches Biotop, der Wald, zerstört worden ist, gerieten sie in ein wirkliches Dilemma. Sie waren nämlich relativ "waffenlos": Sie waren nicht so schnell wie Gazellen, sie waren aber auch nicht so bewaffnet wie ein Nashorn oder ein Tiger. Was war also zu tun? Die Gruppe musste zusammenwirken. Jetzt kommt ein Argument, das die Soziologen sehr gut kennen und das ich für ein Hauptargument für die Sprachentwicklung halte: Dass die organische und anorganische Welt für einen Spät-Affen bzw. Frühmenschen leicht zu erlernen ist, ist nahe liegend. So jemand konnte leicht lernen, wie rosafarben eine Frucht geworden sein muss, dass sie nicht mehr sauer ist, wie dick ein Ast sein muss, damit er nicht abbricht, wenn man sich an ihm entlang hangelt. Dieses Wissen werden sie recht bald internalisiert haben. Die Sozietät jedoch, deren Zusammenhalt für das Überleben der Gruppe ja entscheidend war, hat sich immer wieder verändert. Man musste wissen, auf wen man sich verlassen, mit wem man Koalitionen eingehen, mit welchem Weibchen man verkehren konnte, ohne dass man vom Anführer geschlagen wird usw. Diese Konstellation, die sich noch dazu täglich ändert, verlangt also erstens einen verlässlichen Rückgriff auf Bewusstseinsinhalte und macht Mitteilung, Kommunikation, unumgänglich. Das hängt z. B. auch wieder sehr eng mit der Frage zusammen, warum wir in der Zeit unseren Pelz verloren haben. Das liegt vermutlich daran, dass vor dieser Stufe der Kommunikation der Körperkontakt sehr wichtig gewesen ist, der intime Körperkontakt zwischen den Mitgliedern einer Gruppe. Ich nehme also an, dass die Artikulationsfähigkeit etwas sehr Wesentliches gewesen ist und dass über diesen Weg – sicherlich auch noch über andere Wege – die Sprachentwicklung sehr stark vorangetrieben worden ist.
Was unterscheidet dann aber z. B. unsere deutsche Sprache von der chinesischen Sprache? Warum gibt es in unserer Sprache ein ganz bestimmtes Bauteil, einen ganz bestimmten Aufbau, der sich z. B. in der chinesischen Sprache nicht in der gleichen Weise finden lässt? Denn das hat ja wohl etwas mit unserer Art des Denkens und damit auch mit unserer Art des Umgangs mit der Welt zu tun.
Das war nun ein großer Sprung vom Frühmenschen bis zu diesem Problem, das in Ihrer Frage vorausgesetzt wird. Ich würde daher vor der Beantwortung gerne noch ein Bindeglied einfügen. Wir müssen nämlich zuerst noch über die Sprachuniversalien sprechen. Es gibt in allen Sprachen der Menschen - auch in den ganz exotischen wie z. B. bei den Eskimos – Grundprinzipien, die tatsächlich überall vorhanden sind. Es gibt z. B. überall die Trennung zwischen Verben und Hauptwörtern. Das wissen die Sprachwissenschaftler schon seit 20, 30 Jahren. Warum das überall so ist, ist selbstverständlich eine große Frage für sie. Wir Biologen dagegen kommen langsam dahinter, warum das so ist. Die Hauptworte verstehen wir nämlich über Gestaltwahrnehmung, während wir die Verben in einer anderen, noch nicht so genau erforschten Art erfassen. Die Gestaltwahrnehmung bei den Hauptwörtern kennen wir ziemlich genau, wir kennen diese sechs Schichten, die da ein Hauptwort wie z. B. "Beine" bilden. Demgegenüber entstehen jedoch die Verben in ganz anderer Weise: Da wissen wir noch nicht so genau Bescheid. Sie lokalisieren sich im Hirn an anderer Stelle, und sie bilden auch einen ganz anderen Vorgang in unserem Bewusstsein. Wir sehen ja auch z. B. solche Bewegungen gar nicht. Wenn ein Sperling auffliegt, dann sehen wir seine Flügel nicht: Das ist für uns nur ein unbestimmbares Gewurrle. Wenn in einem Cartoon z. B. "Popeye" davonrennt, dann werden da ja auch keine Beine gezeichnet, sondern nur ein Wirbel von Beinen und eine Staubwolke dahinter. So wird im Cartoon ein Verbum ausgedrückt. Das ist also doch etwas ganz anderes. Das Vorhandensein von Verbum und Nomen ist jedenfalls eine Sprachuniversalie. Auf der Basis dieser Sprachuniversalien bauen sich jedoch auch kulturabhängige Bedingungen auf. Damit bin ich nun bei Ihrer Frage angelangt. Die "Entfernung" zwischen Nomen und Verb könnte man z. B. grafisch darstellen. Das schaut dann wie eine Glockenkurve aus: Denn es gibt da eben auch extreme Verben und extreme Nomen. Meistens sind die Verben und die Nomen nämlich leicht miteinander zu verbinden, manche kann man jedoch überhaupt nicht ineinander transformieren. Wenn man sich also diese "Entfernung" zwischen Verbum und Nomen ansieht, dann kann man für die europäischen Sprachen, also für die Sprachen, die der griechischen Syntax gefolgt sind – die Fachleute nennen das die zirkummediterranen Sprachen – feststellen, dass Verbum und Nomen etwas weit auseinander stehen. Im Chinesischen ist das nicht der Fall. Warum das so ist, woher das kommt, wissen wir nicht. Aber dass die jeweilige Sprachstruktur so gegeben ist, ist evident. Um Nomen und Verbum nun verlässlich miteinander verbinden zu können, hat das Griechische ein Kunstwort erfunden, nämlich die Copula. Im Deutschen sind das die Wörter "ist" und "sein". An sich heißen diese Wörter ja nichts. Das führte dann zum griechischen Aussagesatz. Das klassische Beispiel dafür lautet: "Sokrates ist ein Mensch." Das ist eine solche Verbindung. Aus diesem griechischen Aussagesatz entwickelte sich "logischerweise" der Syllogismus, also der logische Schluss: "Sokrates ist ein Mensch. Alle Menschen sind sterblich. Ergo ist Sokrates sterblich." Nun hätten sich ja die Griechen schon fragen müssen, woher sie denn wissen wollen, dass alle Menschen sterblich sind. Denn Götter waren ja unsterblich, während man das von den Halbgöttern nicht so genau gewusst hat, ebenso wenig wie von den Viertelgöttern und deren Kind und Kegel. Das Ganze ist also eine Festlegung: Wenn wir annehmen, dass alle Menschen sterblich sind, und wenn wir annehmen, dass Sokrates ein Mensch ist – denn so müsste man das eigentlich ausdrücken –, dann gilt, dann erwächst daraus der logische Schluss, dass Sokrates sterblich ist. Denn man hätte ja vielleicht auch annehmen können, dass Sokrates vielleicht doch ein Halbgott war. Für unsere heutigen Begriffe war er das eh beinahe. So also ist der Syllogismus entstanden. Mir ist Ihre Frage recht lieb, weil ich sie hier nun näher illustrieren kann. Der Russe Alexander Luria, einer der bedeutendsten Sozialpsychologen, ist vor gut einer Generation dieser Sache näher nachgegangen. Er fragte damals eine sibirische Bäuerin Folgendes: "Im Hohen Norden sind alle Bären weiß, Kamtschatka liegt im Hohen Norden. Welche Farbe haben dort also die Bären?" Die Bäuerin sagt daraufhin nur, er solle jemanden fragen, der schon einmal in Kamtschatka war, denn sie sei nie dort gewesen. Er besteht aber auf dem logischen Schluss und fragt sie noch einmal. Sie antwortet in liebenswürdiger und höflicher Weise: "Wissen Sie, bei uns hat man es sich abgewöhnt, über Dinge zu reden, von denen man nichts wissen kann." Ist das nicht wunderbar? Dieser Syllogismus leitet aber unsere ganze Kultur. Wer den Syllogismus nicht anwendet, gilt als ungebildet. Wir wissen aber, dass nicht nur Naturvölker diesen Syllogismus nicht verwenden, sondern auch unsere Kinder machen das nicht. Selbst wenn man ihnen nahe legt, dass sie sich durch Anwendung des logischen Schlusses einer Schwierigkeit entziehen könnten, machen sie es nicht. Wann also begreifen unsere Kinder den Syllogismus und die scheinbare Notwendigkeit, ihn verwenden zu können bzw. zu müssen? Das geschieht genau in dem Moment, an dem sie in der Schule darauf dressiert werden, neben induktiven Prozessen auch deduktiven Prozessen zu trauen.
Was ist damit gemeint?
Induktive Akte sind schöpferische Akte, wo ich aus Einzelfällen eine Erwartungshaltung, eine Theorie oder eine Hypothese bilde. Der deduktive Vorgang ist derjenige Vorgang, der dieses Axiom, diese Festlegung, an weiteren Fällen prüft. Das ist übrigens auch der große Unterschied zwischen Popper und Lorenz, aber ich will jetzt nicht abschweifen. Helfen Sie mir kurz, wo waren wir jetzt gerade?
Wir waren bei den Kindern und dem deduktiven und induktiven Schluss.
Den deduktiven Schluss erlernen die Kinder also erst über die Wahrnehmung der Vorschriften unserer Syntax, unserer Semantik und unserer Arithmetik. Irgendwann ist vereinbart worden, dass eins und eins zwei ist – obwohl einem ja niemand so aus der Hand heraus beweisen kann, dass das so ist, denn die Philosophie der Mathematik ist ja mit ihren drei widersprechenden Lösungsformen eine sehr komplizierte Sache. Wenn man aber akzeptiert, dass zwei und zwei ebenso viel ist wie zwei mal zwei – was ja an sich auch wieder komisch ist –, dann sitzt dieser deduktive Vorgang tief in einem drin und dirigiert das weitere Denken.
Sie als Evolutionstheoretiker sagen nun Folgendes: Mit diesem Syllogismus, mit dieser Sprachentwicklung, die wir genommen haben, haben wir auf der einen Seite in evolutionstheoretischer Hinsicht einen großen Erfolg erzielt: Wir können uns durchsetzen in dieser Welt, wir überziehen sozusagen die ganze Erde mit unserer Wissenschaft, wir können Leute zum Mond schicken und sie auch wieder heil zurückbringen. Die Crux dabei ist allerdings, dass wir mit unserer Sprache und unserer Wissenschaft, damit sie funktionieren, immer auf Eindeutigkeit ausgehen: Wenn A und B in bestimmter Weise gegeben sind, dann folgt immer C als Schluss. Dabei übersehen wir aber, dass die Welt um uns herum diese Eindeutigkeit gar nicht besitzt.
Das ist sehr gescheit, was Sie sagen: Das ist wirklich eine Crux. Das ist aber hinsichtlich der Erkenntnis auch eine Drehscheibe, mittels derer sich sehr viel auflösen lässt. Die Logik ist im Wesentlichen mit Aristoteles entstanden. Man hegte damals die Erwartung, es könnte eine eindeutige Sprache geben: Die Welt wäre eindeutig, und es gäbe eine eindeutige Sprache. Damals hat man noch gedacht, dass die Begriffe von Gott erfunden worden wären. Gut, das muss jetzt nicht Aristoteles so gesagt haben, aber im Prinzip hat man damals noch so gedacht. Was steckte also dahinter? Hinter dem Syllogismus, dem logischen Schluss, steckte das Bedürfnis, die Sprache eindeutig zu machen. Wenn ich z. B. sage "ich bin ein Lügner" und man als Zuhörer ein wenig über diesen Satz nachdenkt, dann wird man schon merken, dass das ein innerer Widerspruch ist. Das klassische Beispiel dafür ist dieser Kreter-Satz: "Der Kreter sagt, alle Kreter seien Lügner." Es genügt aber im Prinzip schon, wenn ich sage: "Ich bin ein Lügner." Wenn man so etwas sagt, dann steckt man schon mittendrin. Das heißt, es ist in der Geschichte zu einer Begrifflichkeit gekommen, bei der das tertium non datur gilt. Das hört sich jetzt kompliziert an, aber das bedeutet nur: Das Dritte gilt nicht, es gibt nur wahr oder falsch. Wir wissen aber andererseits, dass unser ganzer Begriffsapparat und unser Wahrnehmen dieser Welt fortgesetzt in der Unsicherheit beginnt, dass wir im günstigsten Fall nur in Situationen von sehr großer Wahrscheinlichkeit operieren und dass wir nie völlige Sicherheit haben können. Das hat übrigens Popper auch gewusst: Unser gesamtes Wissen ist ein Vermutungswissen. Diese Vorherrschaft des logischen Schlusses hat uns jedenfalls in eine Situation hineingetrieben, in der wir jetzt die Welt so vereinfachen, dass wir sie auch nachahmen können: Das Wenige, das wir auf diese Weise aus dieser Welt nachahmen können, übertreiben wir auch noch permanent. Ich möchte an der Stelle jetzt über die Zusammenhänge von all dem sprechen. Im Anschluss daran würde ich auch gerne noch etwas über Anpassungsmängel unserer Vernunft sagen. Aber zunächst zu den Zusammenhängen. Ein Beispiel, mit dem man sich leicht verständlich machen kann, ist das DDT. Unsere landwirtschaftlichen Monokulturen sind klarerweise geradezu Zuchtanstalten für Schädlinge. Die Frage ist daher, wie bringt man diese Schädlinge weg. Die Pflanzenschützer haben entdeckt, dass das DDT die Epithelien anschwellen lässt: Wer also durch dünne Tracheen atmen muss, wird daher unweigerlich ersticken, wenn er mit DDT in Kontakt kommt. Diese Sache stimmt tatsächlich. Man konnte das auch leicht ausprobieren, indem man einen Kasten nahm, Käfer und Schmetterlinge hineinsetzte und DDT dann hineinsprühte – und schon waren alle kaputtgegangen. Man dachte, man hätte also mit dem DDT die ganz große Lösung beim Pflanzenschutz gefunden. Diese Leute hatten aber keine Ahnung von Hydrogeologie, sie hatten keine Ahnung davon, wie dieses Zeug in den Boden hineingesaugt wird. Wenn sie das gewusst hätten, dann hätten sie dafür von Limnologie nichts gewusst. Sie hätten nämlich wissen müssen, dass die Verdünnung in den texanischen Flüssen – dort in Texas ist das meiste DDT angewandt worden – so gering wird, dass man schon Supermethoden gebraucht hätte, um das DDT im Wasser der Flüsse nachweisen zu können. Wenn sie das gewusst hätten, dann hätten sie aber sehr wahrscheinlich nicht gewusst, dass das DDT im Phytoplankton aufgenommen wird, also im pflanzlichen Plankton. Wenn sie das gewusst hätten, dann hätten sie immer noch nichts von der Nahrungskette gewusst: dass nämlich im Atlantik die Nahrungskette vom Phytoplankton zum kleinen Zooplankton geht, vom kleinen Zooplankton zum großen Zooplankton, vom großen Zooplankton zu den kleinen Fischen, dann zu den großen Fischen usw. Am Ende dieser Nahrungskette standen in dem Fall die Pinguine. In jeder der sechs Stufen verdichtet sich die Konzentration von DDT auf das Zehnfache. Das heißt, bis das bei den Pinguinen ankommt und bis das die große Fische fressen, ergibt sich eine millionenfache Erhöhung der Konzentration des DDT in jedem einzelnen Tier. Ein Organ des Pinguin schafft den Umgang mit dieser Konzentration von DDT jedoch nicht mehr. Das ist etwas, das die Leute davor auch nicht gewusst haben. Die Schalendrüse der weiblichen Pinguine ist nämlich nicht mehr in der Lage, richtig zu arbeiten. Das Resultat: Die Eierschalen werden zu dünn und zerbrechen beim Legen. Wen aber auch die Pinguine noch nicht beunruhigen, der sollte darüber nachdenken, ob das nicht vielleicht heute genauso ist.
Damit kommen wir nun auf Ihr eigentliches, auf Ihr zentrales Anliegen. Wenn wir uns mit der Evolution auseinander setzen, mit der Geschichte der Evolution, wenn wir bei Ihnen lernen, wie das alles mit der Vernunft, dem Bewusstsein oder der Sprachentwicklung in der Evolution entstanden ist: Wie können wir dann dieses Wissen auf die heutige Problematik anwenden? Die Problematik lautet also: Wir machen etwas, können aber nicht abschätzen, was dabei herauskommt. Wie übersetzt sich also dieses Wissen aus der Evolution in die Frage, wie wir heute mit der Welt umgehen sollen?
Darauf möchte ich in zwei Teilen antworten: Der erste Teil bezieht sich auf die Bildung, der zweite auf Adaptierungsmängel. Die Bildungsmängel könnten wir vielleicht noch wettmachen, bei den Adaptierungsmängeln sehe ich jedoch ganz große Schwierigkeiten. Es geht also im Hinblick auf die Bildung um die ganz frühe Schulung von Zusammenhängen. Als die Physiker erklärten, sie könnten Brennstäbe "auf- und abdrehen", haben sich weder Politologen noch Soziologen für diese Frage interessiert. Auch die Innenminister oder die Klimatologen haben sich für diese Sache nicht interessiert. Alle sagten, das sei lediglich Sache der Physiker. Die Physiker ihrerseits dachten, sie hätten damit ein Weltproblem gelöst. Jetzt stellt sich aber heraus, dass man diese Brennstäbe eh nicht immer so leicht "abdrehen" kann und dass darüber hinaus in jedem Fall Abfälle übrig bleiben, die man wieder aufbereiten muss. Keiner will diese Abfälle jedoch haben und endlagern usw. Damals hat man aber über diese Zusammenhänge in keiner Weise nachgedacht: Die Bildung war zu gering, um diese Zusammenhänge verstehen zu können oder sich überhaupt dafür zu interessieren. Eine andere Frage stellt sich uns bei den Adaptierungsmängeln. Wir sind an diese anonyme Massengesellschaft nicht adaptiert: Wir sind nämlich in evolutionärer Hinsicht in der Kleingruppe aufgewachsen. Ein gesunder Mann, der nicht verhetzt ist, kann ein weinendes Mädchen nicht schlagen. Das hat mit einer angeborenen Tötungshemmung zu tun, die man z. B. auch bei gesunden Hunden noch erleben kann. Die angeborene Tötungshemmung wird jedoch durch die Fernwaffen ausgeschaltet. Noch der bravste Mann kann gemäß eines Auftrags aus einem Flugzeug, wenn der rote Punkt das Fadenkreuz erreicht, einen Bombenteppich abwerfen und dabei Hunderte von weinenden Kindern sterben lassen. Niemand ist bisher auf die Idee gekommen, auf Bomben und Granaten weinende Kindergesichter zu malen: Das ist etwas, das ich persönlich sehr empfehlen würde. Die Cruise Missiles wären ein guter Gegenstand dafür. Ein anderer Fall von Adaptierungsmängeln ergibt sich beim Zusammenhang zwischen Rang und Risiko. Das war früher in der Kleingruppe durchaus gut organisiert. Wir können das heute noch beobachten: Wenn eine Pavianhorde von einer Großkatze angegriffen wird, dann müssen die Oberaffen "an die Front". Da werden nicht die Kinder vorgeschickt, damit sich die Raubkatze satt fressen kann und Ruhe gibt. Wenn da einer der Oberaffen kneift, dann wir das von der ganzen Gruppe sofort registriert: Er verliert augenblicklich allen Rang. In unserer heutigen anonymen Gesellschaft verwenden stattdessen die hochgerangten Individuen ihren hohen Rang, um ihr Risiko zu reduzieren.
Was können wir daraus lernen, wenn wir das wissen? Das ist doch die zentrale Frage dabei. Wir können uns also bilden, wir müssen uns sogar bilden.
Wir müssen diese Mängel der Adaptierung, die uns mitgegeben sind, rechtzeitig unterrichten. Das sollte möglichst schon in der Unterstufe des Gymnasiums geschehen. Erlauben Sie mir noch einen Beispiel, das sich gut unterrichten lässt. Die absichtsvolle Schädigung des Nachbarn gilt im Familienkreis als moralische Katastrophe. Wenn ein Kaufmann absichtlich Hunderte von Kunden bzw. Geschäftspartnern schädigt, dann ist das gemäß dem österreichischen Recht eine fahrlässige Krida: Es ist kein moralisches Problem mehr, es ist nur mehr Fahrlässigkeit. Wenn eine Großbank zugrunde geht und dabei Abertausende von Menschen schädigt, dann ist das noch nicht einmal mehr Fahrlässigkeit: Das Kapital wird halt anderweitig erneuert. Wenn ein ganzer Staat einen Nachbarstaat absichtsvoll zu schädigen trachtet, dann gilt das schon als eine Form der Vernunft: Das heißt dann nämlich Staatsräson. Ich empfehle also, solche Sachen früh zu unterrichten. Wir werden demnächst auch ein Symposium mit dem Titel "Evolutionäre Pädagogik" abhalten, bei dem zu überlegen sein wird, was man den Pädagogen künftig wirklich empfehlen kann.
Es ist jetzt natürlich das eingetreten, was in Gesprächen mit Ihnen, wie ich annehme, immer eintritt: Wir könnten noch mindestens fünf Stunden weitersprechen, sind aber am Ende unserer Sendezeit angelangt. Vielleicht werden wir ja anlässlich eines runden Geburtstags von Ihnen die Gelegenheit haben, uns in absehbarer Zeit wiederzutreffen. Vielleicht schreiben Sie aber auch erneut ein interessantes Buch: Auch dann könnten wir ja dieses Gespräch fortsetzen. Ich bedanke mich jetzt jedenfalls ganz herzlich bei Ihnen, dass Sie zu uns ins Studio gekommen sind, und ich bedanke mich bei Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, für Ihr Interesse an unserer Sendung. Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht, Sie haben ein bisschen was gelernt. Bis zum nächsten Alpha-Forum, auf Wiedersehen.
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