Sigrid Benthin

Indien Einblicke

altWenn man nie in Indien war, kann man sich unter dem Wahrheitsgehalt des Slogans: "Indien – das Land der Gegensätze",  Einiges vorstellen, aber die Realität übertrifft alles. Vorstellungen sind  von den eigenen Erfahrungen geprägt und die haben in den meisten Fällen nichts mit dem Alltag in Indien zu tun. Es ist möglich Gemeinsamkeiten zu finden, nämlich dort, wo es um elementare menschliche Bedürfnisse und Gefühle geht – aber auch da ist der Boden brüchig.
 Beispiele. Die Frau, die in Indien in die Fabrik geht , geht sehr aufrecht mit dem Gang einer Königin (trainiert durchs Wasserschleppen), trägt einen farbenfrohen Sari und frische Blumen im Haar. Ihr Lohn ist ein Hungerlohn – er reicht oft nicht für eine Mahlzeit. Ihr Mann trinkt in den meisten Fällen, schlägt sie. Aber sie lächelt. Ihr Status ist über dem einer Hausangestellten, die in indischen Haushalten oft schlecht behandelt werden. Jemand der sich auskennt, erzählte mir, dass im Dorf Prügel als eine Art Anerkennung gewertet werden. Mein Mann prügelt mich nicht – bin ich uninteressant geworden? Amu, meine Köchin, erzählt von "goldenen“ Tagen in Bangalore. Der Vater war als Lkw Fahrer unterwegs. Der Stiefmutter und Amu war es nicht erlaubt, nach Einbruch der Dunkelheit das Haus zu verlassen. Um 19.00 Uhr ist es stockdunkel und das Licht  sehr schlecht. Es gab nichts zu tun, sie konnten nicht lesen – nur fernsehen. Wenn die Mutter vergessen hatte etwas für das Abendessen einzukaufen und mal schnell 100 m  zum Tante Emma-Laden lief, durfte sie sich nicht vom Vater erwischen lassen, dann schlug er sie wegen Ungehorsams und Ängsten, dass sie untreu war. Amu erinnert sich gerne an diese Zeit, als die Welt noch in Ordnung war.

Damit die Frauen ihre Häuser nur zum Schwätzen mit der Nachbarin verlassen, fahren die Gemüsehändler mit Karren, die aus einer tischgroßen Platte und 4 Fahrradrädern bestehen, die Straßen in den ärmeren Vierteln an. Sie kaufen auf den Märkten früh morgens schlechte Ware, die die Frauen billig kaufen können. Niemand in diesen Straßen hat einen Kühlschrank und die Frauen kaufen nur für eine Mahlzeit ein. 2 Tomaten, 5 Bohnen, 4 Zwiebeln, Koriander und Curryleaves und Knoblauch – in der Größenordnung etwa. Diese Gemüse werden nicht etwa zu Salat verarbeitet, sondern so lange gekocht bis das Öl, in dem zu Beginn schwarze Senfkörner und Cumin aufgeschlossen werden, nach oben steigt. Danach wird das ganze zu einer Sauce püriert. Der „Mixi“ gehört zur Grundausstattung eines Haushalts. Dazu gibt es den weißen geschälten Reis der billigsten Sorte, der nach dem Kochen klebt.

Kuriosität: die Milchkühe werden von den Milchbauern mit der Schale des Reis gefüttert. Mangelernährung bei den Menschen.

Wasser gibt es in den Häusern mit Wohnungen, die für Fabrikarbeiter, „Maids“, Tagelöhnern oder Gemüseverkäufer erschwinglich sind, nicht. Das wird in Plastikkrügen, die auf der Hüfte oder dem Kopf getragen werden, vom Brunnen geholt. Dort gibt es Warteschlangen und oft Streit, der nicht selten handgreiflich endet. Die Toiletten haben keine Wasserspülung. Wer sie benutzt (oft 4 Familien oder mehr) nimmt sich einen Eimer Wasser mit. Damit reinigt man sich und spült nach. (hoffentlich). Amu erzählt, dass es in dem Dorf, aus dem sie stammt, nicht eine einzige Toilette gibt. Die Bewohner gehen morgens vor Tagesbeginn in die Felder. Die eben beschriebene Art Häuser stehen in der Stadt nicht etwa gesondert in einem armen Viertel. Ohne jede Stadtplanung stehen sie oft neben Bungalows, oder Apartmenthäusern. Aber die Bewohner bleiben unter sich, da sie größtenteils der sogenannten Scheduled Caste angehören. Die Kasten sind zwar abgeschafft – aber wie die Berliner Mauer  - in den meisten Köpfen immer noch gegenwärtig.

Einige Zahlen sollen veranschaulichen wie die Einkommensverhältnisse sind. Ich lasse sie absichtlich in Indischer Rupie stehen, um die Größenverhältnisse nicht zu verwässern. Wenn ich die Beträge in Euro umrechne, meint man leicht – oh die leitenden Angestellten verdienen doch wenig. Aber die Ausgaben sind für alle gleich und in Indischer Rupie (Rs).  Menschen ohne Englischkenntnisse verdienen immer unter oder um 3000 Rs. Die Miete eines Zimmers in einem Haus wie oben beschrieben ist etwa 1000Rs am Rande von kleinen Städten. Auf dem Dorf von 300 bis 500 Rs. In der Grosstadt ist der Verdienst etwas höher, aber die Mieten viel höher. Unter 2000 gibt es kein Zimmer – sie nennen es Haus. Um solch einen Raum mieten zu können, müssen hohe Kautionen gezahlt werden, oft mehr als 11 Monatsmieten. Die Folge ist eine Verschuldung aller dieser Menschen. Der Durchschnittstageslohn einer Frau liegt bei 80 Rs (ungelernt). Männer verdienen als Hilfskräfte auf den Baustellen 150, als Maurer oder Anstreicher 250 Rs, im Garten etwa 100 – 120 Rs PRO TAG, nicht pro stunde. Ein Ehepaar auf den Farmen hier kommt zusammen auf 5 – 6000 Rs. Das heißt morgens um 5 Uhr die Kühe melken und abends bis 8 Uhr arbeiten.  Die Handwerker sind Tagelöhner, die nicht jeden Tag Arbeit haben. Lohnfortzahlung gibt es in dieser sozialen Schicht nicht. Wer krank wird hat verloren. Es gibt auch keine Urlaubsregelung. Alle sind auf Gedeih und Verderb dem jeweiligen Arbeitgeber ausgeliefert. Gearbeitet wird 6 oder 7 Tage in der Woche. Der Maurer oder Schneider hat keine Ausbildung, nur Erfahrung. Sie lernen Skills – bestimmte Teilarbeiten, die sie dann perfekt ausführen. Die Herrenschneider z.b. nähen 100% perfekte Hemden und Hosen – aber wehe sie sollen auch nur die kleinste Änderung am Schnitt vornehmen– das funktioniert nicht – es sei denn, der Kunde bringt ein Muster mit. Sie sind Meister im Kopieren. In der Stadt arbeiten sie im Akkord. Pro Bluse oder Rock bekommen sie etwa 20 – 30 Rs. Oft ist der Verkaufsraum in der Höhe unterteilt und sie sitzen direkt unter dem Blechdach ohne Ventilation. Drückend heiß. Es gibt für all diese Menschen, von deren Berufsgruppen ich nur eine kleine Zahl erwähnt habe und die die Mehrheit darstellen, keine Krankenversicherung, keine Altersversorgung. Lebensversicherungen, die hier auf dem Land z.B. von den Postfrauen verkauft werden, erleben seit etwa einem Jahr einen Boom. Die Menschen wollen raus aus dem Kreislauf der Armut. und sie glauben alles was die Postfrau, die meistens einer um eine oder zwei Stufen höheren Kaste angehört, ihnen erzählt.
indien-einblickeDer Gegensatz? Junge Menschen mit Englischkenntnissen verdienen in den Call Centres um die 10000 Rs pro Monat, IT Fachleute in den Software Firmen bis 80000 Rs pro Monat. Ein junger Computer Spezialist bei Hewlett-Packard  35000 Rs – ich kenne ihn persönlich. Und die sogenannten Expats, die europäischen oder amerikanischen leitenden Angestellten in Bangalore zahlen monatliche Mieten in der Größenordnung von 25000 bis 150000 Rs.
Die Armut und der  Wohlstand prallen hier aufeinander. Die Europäer bezahlen ihr Personal gut, die Amerikaner zu gut. Die Fahrer – Englischkenntnisse sind Voraussetzung – verdienen von 7 – 12000 monatlich und sind oft bei den Firmen angestellt, teilweise mit Krankenversicherung und Altersversorgung. Man soll nun meinen dass sie besonders dankbar sind. Aber da sie täglich von Luxus umgeben sind, wollen sie mehr. Sehr viele sind arrogant ihren anderen Mitangestellten gegenüber und beuten sie aus. Gerade gestern hat mir eine Deutsche berichtet, dass sie gehört hat dass ihr Fahrer das zinslose Darlehen, dass er von ihr bekommen hat, mit Wucherzinsen weiterverliehen hat. Etwas was hier weitverbreitet ist und mich sehr erschreckt hat. Jede Kaste der Armen wird von der nächsthöheren unterdrückt. Es sind kaum die Wohlhabenden, die daran beteiligt sind. Fahrer und Computerspezialisten sind in ihrer Gruppe die gutverdienenden. Wenn man die Zahlen vergleicht, ist  zu erkennen dass es sich lohnt, Englisch zu lernen. Fahrer, die für Inder fahren und nur die Landesprache sprechen, verdienen nicht mehr als 4000 und werden meistens nicht gut behandelt. Aber Englisch zu lernen ist nicht so einfach. Das liegt am Schulsystem.

Als ich vor etwa 10 Jahren nach Bangalore, Süd Indien kam, waren die Geschäfte mit Luxusgütern  Geheimtipps, die nur den Fahrern der Ausländer bekannt waren. Kein Rikshawfahrer kannte sie. Heute besteht die Innenstadt aus Glas und Chrom und Luxus. Geworben wird mit Instinkten wie Neid, Stolz, EGO. Alle teuren Brands sind vertreten. Die junge Generation hat begonnen auf Kreditkarten und Krediten zu leben. Sie geben an einem Wochenende in Pubs soviel aus, wie Amu im Monat verdient. Sie haben Kindermädchen und teure Hunde. Sie sind die Minderheit, die aber ihren neuen Wohlstand ohne Scheu zeigt. Ich stell mir manchmal vor, wie sich jemand fühlt der diesen Wohlstand sieht und selber nicht Geld hat, zum Arzt zu gehen.

Die Verschuldung


Ein sehr großer Teil der Bevölkerung verdient gerade mal so viel pro Tag, dass es für schlechte Ernährung reicht. Die Basisversorgung im Süden ist Reis, geschälter weißer Reis, ohne jeden Nährwert, dazu eine dünne Sauce "Rasam" genannt, die für die Verdauung gut sein soll, aber die Konsistenz und das Aussehen von Spülwasser hat. Ohne Gemüse, nur Gewürze und Wasser. "Ragi"  ist wie Buchweizen kein Getreide, wird aber so gehandhabt. Ich verwende es statt Roggen zum Brotbacken, gemischt mit Vollkornmehl.   Im Dorf, erzählt mir Amu, ist eine Tasse Ragibrei mit etwas Salz oft die einzige Mahlzeit am Tag.

indien-einblickeDas was das Leben so unerschwinglich für diese soziale Gruppe macht, ist die Eingebundenheit in Traditionen, die so tief sitzt, dass ich manchmal den Eindruck habe die Verpflichtungen werden mit  den Genen vererbt . Es ist schier unmöglich, sich aus diesen Zwängen zu lösen. Logik funktioniert nicht. Das hat oft bittere Folgen. Es werden in den Dörfern immer noch Mädchen Föten getötet, auch eben geborene Babies. Vor 10 Jahren hat eine Theatergruppe die aus Sozialarbeitern bestand in den Slums Straßentheater aufgeführt und diese Probleme thematisiert. Da bekam in einer Geschichte das Mädchenbaby die Schale eines Reiskorns „aus Versehen“ in den Mund und ist erstickt. Frauen und Kinder standen um die Akteure und haben geweint. Es ist unmöglich für viele mit dem Zwang der Aussteuer ein Mädchen großzuziehen. Bringt sie nicht genug mit in die Ehe kann es ihr passieren dass sie ein Leben lang wie Dreck in der Familie des Mannes behandelt wird. Es kommt immer noch vor, dass sie mit Kerosin überschüttet werden und verbrannt, oder dass ihnen Acid ins Gesicht geschüttet wird, das sie entstellt. Das sind keine Märchen von gestern. Natürlich ist die Zahl der Fälle drastisch zurückgegangen und die Menschen hier sind entsetzt, wenn sie davon hören – aber es gibt sie noch. Weit ab in den Dörfern, wo die Menschen von der so glorreichen Politik vergessen leben. Dort herrscht noch das Mittelalter. Die, die hier leben, haben dort ihre Wurzeln. Sie gehen immer wieder zurück und fallen dort in ihrer Entwicklung zurück. Wenn Amu anfängt: Aunti, jemand hat gesagt .... dann weiß ich das wieder eine Dorfweisheit kommt, die schlimm oder falsch ist .......wenn ich gestorben bin werde ich auch ein Servant sein. Endet das nie? Amutha, Amus Stiefmutter hätte sich schon längst von dem Ehemann, der trinkt und sie schlägt, getrennt – aber was wird man im Dorf von ihr denken? Ein Dorf, das nur fordert. Der Vater ist krank. Eine Nachtfahrt mit dem Bus. Vater ins Krankenhaus. Kredit. Im Krankenhaus wird nur gegen Bargeld  behandelt. Staatliche Krankenhäuser sind frei für die Armen? Amu musste alleine 2 Wärter bestechen, damit sie ihren Vater besuchen konnte, der nach einem Selbstmordversuch dort lag. Jedes Mal  50, Rs ein halber Tageslohn. Grobe Krankenschwestern, die keinen Respekt vor diesem „Schwächling“ hatten und ihn beschimpften beim Katheder einführen und ihn zum Weinen brachten, können mit Geld zu Engeln gewandelt werden. Der Arzt drohte mit der Polizei und einer Anzeige – wer will das schon – wenn sie nicht 6000 Rs zahlen. Alle drei Vettern, junge Burschen, die mit Amu und ihrer Familie hier wohnen, haben zusammengelegt – ihre gesamten Monatsverdienste – und bezahlt. Wer nicht zahlt, verrottet in solch einem Krankenhaus.

indien-einblickDeshalb blüht der Kredithandel. Die Schuldenspirale beginnt schon bei der Geburt. Die Eltern des Mädchens, die schon die Hochzeit ausrichten mussten (und sich verschuldet hatten) müssen nun für die Kosten aufkommen. Wir hatten ja hier gerade am Sonntag eine Geburt. Die Zahlen sind aktuell. Amu hat in einer kleinen Entbindungsstation hier im Dorf entbunden. Dieses Dorf gehört zur Stadt Mysore, die anderen Dörfer von denen ich spreche liegen weit ab von der Zivililsation. Insgesamt kostete die Entbindung 5000 Rs, ein Monatslohn des Ehepaares. Das Baby wurde nicht untersucht. In Mysore Stadt kostet die Entbindung 12000 – 25000 Rs. Hinzu kommt dass die Ärzte offensichtlich gerne die Kinder mit Kaiserschnitt holen. Das kostet sicher sehr viel mehr. Da hab ich keine Zahlen. Einige Monate nach der Geburt muss das Kind mit Gold oder Silberschmuck ausgestattet werden und geht zur Familie des Mannes. Diese Familie hatte schon bei der Hochzeit gefordert. Saris, Armbanduhren, bei etwas Wohlhabenderen (die noch gieriger sind) ein Motorroller für jeden Bruder, ein Anzug und eine Golduhr für den Vater und den Ehemann – ohne Ende. Es ist verboten und einige wenige Verstöße kommen zur Anzeige, es bleibt  eine riesige Dunkelziffer.

Ich hab Amu in Bangalore kennen gelernt. Dort hatten wir ein sehr schönes, großes modernes Haus gemietet, das allerdings in einer Strasse stand, in der neben Regierungsangestellten in  großen, aber älteren Häusern, ein Haus stand, in dem 8 tamilische Familien lebten. Als Amu mit 17 zwangsverheiratet wurde, bin ich mit ihr zu meiner Gynäkologin gegangen und hab sie gebeten, das Mädchen aufzuklären. Da alle Frauen in dem Haus mit Kaiserschnitt entbunden hatten, war sie tatsächlich im Glauben, die Kinder kämen aus dem Bauch.  Alles was über die Nahrungsversorgung hinausgeht und den obligatorischen neuen Sari zu den großen Feiertagen, muss auf Kredit laufen. Niemand kann es sich vom monatlichen Einkommen leisten. Jede Krankheit, Geburt, Tod in der eigenen kleinen Familie oder der im Dorf zurückgebliebenen bedeutet neue Schulden. Ist dort jemand krank, fahren die Städter hin und besuchen den Kranken. Als der wohlhabendere Teil der Familie gemessen am Einkommen im Dorf, sind sie in der Pflicht, sich großzügig an den Krankenhauskosten zu beteiligen. Das selbe Schema ist bei den Besserverdienenden in der Stadt zu finden. Wer mehr hat, muss geben. Im Prinzip sehr gut – nur ist alles relativ. Wer mehr hat, hat auch höhere Kosten und einen anderen Lebensstil und auch keine Ersparnisse. Wer kann, kauft ein Apartment oder Haus oder Auto auf Kredit und ist in Schwierigkeiten wenn die Dorf Hilfsgesuche an sie herangetragen werden. Im Unterschied zu den Armen bekommen sie ihre Kredite zu banküblichen Zinsen.
Der Vater hatte sie von der Schule genommen und wollte sie mit 14 verheiraten. Zu dem Zeitpunkt hatte sie gerade angefangen bei mir zu putzen, zusammen mit ihrer Stiefmutter, die nur ein paar Jahre älter als sie war. (15) Ich hab daraufhin die Helpline für Frauen angerufen und sofort kamen 3 Sozialarbeiterinnen und haben alle Familien in dem Haus aufgeklärt, dass diese tamilische Tradition gegen das indische Gesetz sei. Aufschub. Als sie 16,5 war, fing das Spiel noch einmal an. Aber Amu war so gehorsam – sie gab jede verdiente Rupie zu Hause ab und schlief dort mit ihrem Hund auf dem nackten Betonfußboden in der Küchenecke – dass sie allen Versuchen widerstand, sie einfach weit weg in Kerala auf einer Ananasplantage unterzubringen. Heute bereut sie es bitterlich. Sie mochte ihren Onkel, der 15 Jahre älter war. Amu ist intelligent und hat sehr schnell Englisch gelernt und wir hatten vor, sie noch auf eine Abendschule zu schicken, um die abgebrochene Ausbildung abzuschließen. Deshalb war ich sehr in Sorge als sie einen Analphabeten ohne Job heiratete. Nach der Aufklärung durch die Ärztin ging’s ins Dorf mit einer Packung Antikonzeption Pillen (heimlich) . Der Astrologe im Dorf hat es dem Ehemann verraten, dass sie so etwas bei sich hat (oder sie selber, da sie ein schlechtes Gewissen hatte?). Dieser Onkel, den sie dann heiratete, war der jüngste Bruder ihrer Stiefmutter, die sie im übrigen auch so behandelte wie in Grimms Märchen. Zurück kam sie mit 30000 Rs Schulden. Auf ihre Kosten ohne eigene Beteiligung hat die Familie die Hochzeit ausgerichtet. Schließlich hat sie ja einen deutschen Arbeitgeber und war reich. Treibende Kraft hinter allem war die Mutter des Vaters, die das Clanoberhaupt war/ ist. 30000 Rs mit 10% Zinsen PRO MONAT. Tamilische Sitte ist, dass die frisch vermählte Tochter mit ihrem Ehemann für einige Monate im Haus der Mutter lebt. Dieses „Haus“ war ein Raum ohne Lüftung, in dem die Eltern auf einem Metallbett schliefen, die jüngeren Geschwister unter dem Bett und Amu in der Küchennische. Die 30000 Rs waren ihre ersten Schulden, die wir dann übernommen haben und ihr als zinsloses Darlehen gegeben haben. Als ich ihr dann gekündigt hatte weil sie  mit der Arbeit und ihrem privaten Stress überfordert war, haben wir sie ihr erlassen. Als sie später wieder bei uns arbeitete, wir waren inzwischen nach Mysore umgezogen, hatte sie 10000 Rs Schulden von der Entbindung ihres ersten Kindes. Trotz großer Schwäche – sie war kurz vor dem Verhungern, ist sie sofort nach der Geburt nach Hause gegangen, weil ihr das Geld für auch nur einen Tag Krankenhaus Aufenthalt fehlte. 5 Monate arbeitet sie ohne Lohn, dann war dieser Kredit erledigt. Erst dann fand sie heraus, dass ihr Mann im Jahr 2000 im Laufe eines halben Jahres eine Summe von 45000 Rs geliehen hatte für die Behandlung der sehr kranken Mutter. Sie hat Parkinson. Die 4 Brüder haben den Schuldschein als Zeugen mit unterschrieben, sich aber nicht beteiligt. Schließlich ist der Jüngste für die Mutter zuständig. Vereinbart waren 10% Zinsen pro Monat. Als ich Thamodrian nun ausrechnete, dass seine Schulden auf die stattliche Summe von 120000 Rs angewachsen war, wollte er sich aufhängen. Amu mit ihm. Keine Schulausbildung für die Kinder, keine Perspektive auf etwas Eigenes. Sie fingen mit einer  Rückzahlung in Höhe von 2000 Rs monatlich an. Damit wurden die Schulden trotzdem jeden Monat 2500 Rs mehr. Als der Gläubiger mit Grundstücken spekulieren wollte und Bargeld benötigte, hat er die Arbeitskraft der kleinen Familie einschließlich Babytochter an einen Farmer „verkauft“ gegen Bargeld. Bonded Labour. Da hatte meine Schwester die Idee, einen Hilfeaufruf zu starten. Es hatte Erfolg. Wir konnten mit dem Gläubiger einen niedrigeren Betrag aushandeln und den Kredit ablösen. Sogar ein gebrauchtes Moped sprang noch raus, mit dem Thamo jeden Morgen die Tochter und den Sohn der Schwester zum Kindergarten bzw. Schule fährt. (drei Leute oder vier auf einem Moped ist normal).

Amu hat mir erklärt dass in einer Stadt wie Bangalore aber auch in jedem Dorf die Geldverleiher unterwegs sind. Jeder ist schwer verschuldet. Sie leihen Geld für 5 – 10 % Zinsen PRO MONAT. Es gibt  Kredite für nur wenige Tage, die bis zu 100% Zinsen bringen. Natürlich sind diese Kredite illegal – aber so lange das Einkommensniveau so weit unter den normalen Bedürfnissen liegt, solange keinerlei Sozialfürsorge existiert und solange die Banken diesen Menschen keine Kredite zu banküblichen Zinsen geben, solange haben meiner Meinung nach diese Kredithaie ihre Art Aufgabe in dem Kreislauf. Vor 10 Jahren hat man mir einen Steinbruch gezeigt in dem verschuldete Familien mit ihren Kindern gearbeitet haben. Alle von den unteren Schichten. In Bondage ihr ganzes Leben lang. Die Mädchenkinder werden oft jung an Bordelle gegeben. Im Laufe der Verhandlungen mit dem Gläubiger hatte ich einen sehr wohlhabenden Inder gebeten mir  einen Rat zu geben, wie ich vorgehen könnte. Er meinte im Beisein Thamos, jeder Mensch hätte in seinem Einkommen zu leben. Wenn er die Behandlungen nicht bezahlen kann, muss er eben sterben. Hätte er die Mutter sterben lassen, wäre seine Familie jetzt nicht in Gefahr. So einfach ist das.

Sicher kann man Einzelnen helfen, aber hier muss eine politische Lösung kommen. Diese finanzielle Ausbeutung durch zu niedrige Löhne und das fehlen jeglicher sozialer staatlicher Hilfe ist auch der Grund für die Kinderarbeit. Es genügt nicht, sie zu verbieten.

Oktober 2008,  Mysore, Indien
©Sigrid Benthin

 

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