Kein Hinweis auf Herbst
Ukraine 2003-2023
Anlässlich von Meridian Czernowitz 2022 ein Wiedersehen mit Judith Schifferle. Sie erzählte, dass sie an einem Sammelband, Projektname Ein roter Faden, arbeitet. Die nachstehend angeführten Gedichte sind Teil der Gedichtesammlung Kein Hinweis auf Herbst, Ukraine 2003 - 2023. Schifferles Gedichtband und der Ausstellungskatalog des aus Czernowitz stammenden Künstlers Oleg Liubkiwsky, wurden von Oleg Yemelyanow in Czernowitz gedruckt. Lesungen daraus am 6.5.2023, 18 Uhr im Kulturhaus Helferei Zürich; 7.5.2023, 17 Uhr im KunstRaumRhein Dornach/Basel zusammen mit der Ausstellung Spiegelungen - Konzeptuelle Utopien von Oleg Liubkiwsky 29.4.–20.05.2023.
Milena Findeis, Juni 2023
Judith Schifferle
Am 1. September 2022 wurde ich zu einer Lesung ans Lyriktreffen Meridian Czernowitz eingeladen und reiste zum ersten Mal in ein Land im Krieg. Es war jetzt "mein Land", meine Wahlheimat. Zusammen mit einem deutschen und einem israelischen Dichter war ich an der rumänischen Grenze bei Seret nach Tscherniwzi unterwegs. Raben kreisten über uns. Wir fotografierten sie, bis wir wussten, wie gefährlich das an der Grenze war. Sie wachten über uns, die sich aufs Ungewisse eingestellt hatten, angstfrei, weil wir in guter Gesellschaft waren. Zu dieser Gesellschaft gehörten auch die Raben und die Hunde von der Straße, die mit den Grenzwächtern gut Freund wurden und fröhlich Apportieren spielten. In Tscherniwzi, das während des Treffens ohne Angriff blieb und ohne Luftalarm, las ich die hier zusammengestellten Gedichte zum ersten Mal. Aus der persönlichen Geschichte einer Unabhängigkeit wurde ein roter Faden, der nicht nur Anfang und Ende meiner Erzählung bindet, sondern literarische Erinnerungen als ukrainisches Kulturgut schützen will.
...
Der rote Faden dieser lyrischen Bilderzählung führt über Abgründe und Gräben, welche die Geschichte dieses Landes seit Jahrhunderten durchfurchen. Blut und Tod, aber auch Freude und Leben finden in der Literatur und namentlich der Lyrik die strenge Kontinuitätslinie eines freien Landes. Seit Jahrhunderten weiß diese sich über das geschriebene, gesprochene oder gesungene Wort am Leben zu halten und Tote aus dem Vergessenen zu bergen.
Die Kulturanthropologin und Ukraine-Kennerin Judith Schifferle (geb. 1978 in Grenchen, Schweiz) las beim Meridian Czernowitz XIII aus ihren Gedichten.
Nach dem Studium der Deutschen Philologie, Kulturanthropologie und Kunstgeschichte in Basel und Wien ist sie seit 1999 unterwegs in Mitteleuropa mit längeren Aufenthalten in der Ukraine.
2011 Promotion zum Bukowiner Dichter Moses Rosenkranz («Überleben im Dazwischen», Böhlau 2013), tätig in der -Literatur- und Kunstvermittlung (z.B. Universität -Basel, -Cartoonmuseum, Schaulager) sowie als freie Autorin («Zweistimmige Gedichte», Essays, Ausstellungstexte).
Lesung von Judith Schifferle, 4.9.2022 moderiert von Petro Rychlo
GEDICHTE
Lesung Meridian Czernowitz 2022
Judith Schifferle
«Kurze Geschichte der Unabhängigkeit 2003–2023»*
(Benefizlesung für die Ukraine im Aargauer Literaturhaus, März 2022)
*Unter diesem Titel ist für 2023 ein Gedichtband in Arbeit
Ich war dein Gast.
Ich kam als Fremde in mein selbstgewähltes Heimatland.
Ich habe gelernt,
wie weit und breit das Feld, auf dem sich Worte wie Gras zu wachsen trauen.
Ich habe gelernt,
wie sich Geschichten in Miniaturen und Zeichen verfangen.
Ich habe gelernt,
meine Stimme über die Gräber zu tragen.
Ich habe gelernt,
ohne Schatten unter der Sonne zu stehen.
Ich habe gelernt,
wie Sprache sich im Angesicht des Kriegs in Reime zwingt.
Ich habe gelernt,
dass auch Freundschaft wie Glas im Aug zerbricht.
Ich habe gelernt,
dass unsere Spuren wie Sporen ohne Licht überdauern.
Ich habe gelernt,
dass Gedichte eine Stimme brauchen.
Ich habe gelernt,
dass dein Gesang vor Jahrhunderten schon aus dunklen feuchten Kellern drang.
Ich habe gelernt,
dass Angst uns die Wirklichkeit raubt und dass sich deine Wirklichkeit im Aberglauben von Sorgen befreit.
Ich habe gelernt,
dass sich deine Bilder ohne Rahmen leichter über alle Grenzen tragen.
Ich habe gelernt,
dass die einzige Sprache deiner Zukunft, in Grundform, Flexion und Adressat die Schönheit ist.
Ich habe gelernt,
dass übers grüne Land ein roter Faden in die Erzählung führt, zu den Toten in die Furchen des tiefschwarzen Ackerlands.
Ich habe gelernt,
was Liebe ist und was Aussperrung der Liebe meint, wenn Tradition mechanisch durch die Lippenbremse zischt.
Ich habe gelernt,
dass Schreiben antritt gegen Trauer ohne Trost und dass Wahrheit erst in Trauer reift.
Ich habe gelernt,
was Ruhe schafft in der Unruhe der Nacht.
(März 2022)
***
Es ist verlogen
über Ruhe zu reden
in der Unruhe der Nacht,
über Gedichtetes zu reden,
wenn man nur die Worte liebt.
Aber es gibt Grillen im Gras,
und unter ihnen ...
Trümmer, die aus dem Innern
sichtbar geworden sind,
ein Geheimnis,
das wahr ist.
***
Waldmeister,
du bist
einer von der Gasse
mit weißem Kragen
und immergrünem Schirm.
Die Zeit ist aus,
um unterm blauen Himmel
«Oh, mein Herr!» zu singen.
Wer ist ER auch,
wie tritt ER dunkel
aus dem bunten Heer heraus?
Hätte ich im Vorfeld
schon gewusst
von dir, dass du aufrichtig
in den Niederungen und im Gebirg
durch Senken und Täler treibst,
dass du besonnen bleibst
unter Blitzen und Haubitzen,
wobei der Himmel heizt mit deinem Blut,
und du über den Feldern ungebrochen
herzwarme Witze lehrst
vom Donbass bis hierher.
Wer hätte gedacht,
dass ausgerechnet du, Waldmeister,
mit grünem Pinsel auf
abgebrannten Flächen malst,
dass darunter das versickerte,
das gelbe und kranke,
das schwarz verkrampfte Blut
sich wieder röten kann.
Standhafter als die Lüge im Krieg
bleibst du dem Glauben zum Trotz
nicht Hoffnung
nur mein letzter Trost.
***
Die Dauer
Wenn das Leben geht,
kehrt dunkelbau der Sinn
ins Spiel der Farben zurück.
Wir atmen weisz in allerletzter Stund.
Wie gut, dass jetzt Sommer ist
und ein breites grünes Band
die Grenze zwischen Himmel und Erde bricht.
Wir wissen voneinander,
wir haben über den gelben Feldern
unsere Nahrung geteilt
wie die Sonne ihr Kleid.
(für Elio, Juni 2021)
***
Schwarzes Meer
Der Wiederholung sei nichts entgegenzusetzen.
Von Zeit zu Zeit, sagt er, holt mich das Wasser ein.
In Wellen ergreift es mich, eine Woge ohne Reim.
Sein Körper werde von ihrer Wucht ausser Kraft gesetzt.
Sie verdreht mir den Kopf, sagt er.
Sie kommt und kommt und kommt.
Das Wasser gibt kein Zeugnis ab
nur sein Puls verweist auf die Vereinigung.
Es gibt nichts zwischen uns. Ich weiß.
Der klare Himmel trifft auf die Ruhe des Meers.
In der Nacht, unter plötzlichem Aufkommen des Windes
wacht das stille Wasser auf.
Voici – une déclaration d’amour.
(Celan: Das Leben in der Sprache – la vie dans la langue: Paris, Bâle, Czernowitz)
Das Herz am Tor der Zeit
Nachgeschrieben
vergangene Läufe
aus der Untiefe
des verwucherten Tals
und über dem Dampf
die Ansicht eines Stroms.
Mit dem Stein der Zone
misst du, dann ich
in den Fugen das Geheimnis,
Figuren eines anderen Glücks.
***
Meinem Vater zum Abschied
Was uns bleibt,
ist Dein Wort
«Danke», «es ist genug»
und das für alle
im Kreuz
geteilte Brot.
*
Kein Hinweis auf Herbst.
Die Körner werfen sich nicht ab
zur Vermehrung.
Anblick und Erinnerung
zeichnen die herbe Frucht
frei zur Aufnahme.
«Das ist mein Leib»
beschreibt
zwischen Erde und Mensch
das Abbild,
indem du eingehst
«unter mein Dach».
Uns bleiben deine Worte
und das Geheimnis
einer Landnahme durchs Gebirg.
Wollkraut und Augentrost,
Männertreu und Frauenmantel.
***
ZUSATZ
In Europa ist Krieg
singt ein altes Lied
in unseren Herzen
spiegeln wir
von Mitgefühl beladene
Post von West nach Ost.
Müde schon trägt die südrussische Tarantel
ihre Frucht im weissen Seesack zurück,
unnütz gewordene Grabinstrumente
durchs versengte Gras.
Platz gibt’s genug
aus den kollektiven Schlupflöchern
sind tiefe Gräben mit immerkühlen Schatten
aus der Zeit gefallen
für den Rückzug in die Unentschuldbarkeit.
Die Ausläufer der ukrainischen Steppe
ziehen über die ungarische Puszta
bis ins Burgendland, vernehm’ ich hier.
Noch nie war uns ein Sommer
so klar, die Hitze so fröstelnd
bei allem, was sich am Eisenberg
von oben bei Nacht
auf die Erde zeichnet.
Wir fliehen nicht
wir betrachten nicht mehr die Landschaft
nur noch den Berg, den roten,
hierzuwege Monterosso genannt.
Wir schauen die Rinde, die Borke
anstelle des Baums und des Walds.
Wir hören die Hirsche von nah,
die Grillen, die nicht nur in der Erde,
sondern auch von den Baumkronen zirpen.
Wir belauschen den Specht,
der unaufhörlich an die harten Stämme klopft
um Einlass bitten lassen wir ihn nicht.
Jetzt kocht der Berg, die Steine brechen,
Schotter taumelt, schlägt dich an.
Der Sinn ist aus
wir frieren.
Uns friert der eigene Knochen
zittert unterm Zwerchfell
in unserer Haut aus Anthrazit.
Ein Tränchen rinnt und tropft da rein.
Es stammt von nebenan. Ein dünnes Atmen
ziert von Kopf bis Fuß das Herz.
Die Verse unserer Lieder zehren sich aus.
Es ist der letzte Hauch unseres gemeinsamen Freunds.
Es ist jetzt Krieg in Europa
und weder Freud noch Leid
geht uns was an. Wir schweigen
um zu beweisen, dass wir
noch immer Pazifisten sind.
***