Tamar Radzyner

Tamar Radzyner wurde am 31. März 1927 in Łódź geboren, überlebte Auschwitz, verlor ihre Eltern und den größten Teil ihrer Verwandtschaft in der Shoah, sie starb am 7. Juni 1991 in Wien.

Tamar Radzyner

In ihren Gedichten lebt sie

Tamar RadzynerBeim Verfassen ihrer deutschen Gedichte verwechselte Tamar (geborene Teefila Fajvlovitz) deren Muttersprache Polnisch gewesen ist, das eine oder andere Mal den Akkusativ mit dem Genetiv. Ihre älteste Tochter Joana, die in Wien aufwuchs und als Korrespondentin für den ORF in Warschau arbeitete, wollte die Grammatikfehler ausbessern. Die Korrekturen der Tochter wurden von der Mutter, die stolz auf ihren polnischen Akzent war, ignoriert. Bis zu ihrer Emigration im Jahre 1959 schrieb Tamar in Polnisch. Ein Notizbuch mit unveröffentlichten Gedichten aus dieser Zeit wird von Tochter Joana sorgsam verwahrt. Die in deutscher Sprache verfassten Gedichte wurden kaum publiziert. Tamar betrachtete ihre Gedichte als eine Form der Psychoanlayse „so erpare ich mir das Honorar“- deutsche Grammatik und Syntax: das war ihre Psychotherapie.

Den Zweiten Weltkrieg erlitt Tamar Radzyner in der radikalsten Form und überlebte ihn, wundersam, weil sie an das kommunistische Polen mit ihrer ganzen Seele glaubte. „Die Internationale“ war für sie von sakraler Bedeutung. Die Demontage Stalins im Jahre 1965 und antisemitische Kampagnen in Polen beraubten sie dieses Glaubens. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, Mitglied des Polnischen Parlaments, und den beiden Töchtern emigrierte sie 1959 nach Wien. In Österreich wechselte Radzyner von dem ihr vertrauten Polnischen in das ihr fremde Deutsch, ihre wahre Heimat wurde die Lyrik.

Bei einem Friseur wartend, fand sie in einem Magazin die Anzeige „Texte für Lieder gesucht“. Sie folgte diesem Aufruf, das war der Beginn ihrer Zusammenarbeit mit Georg Kreisler. Es war die erfüllendste Zeit ihres Lebens. Sie schrieb Gedichte, Liedertexte, Sketches, übersetzte aus dem Polnischen, Russischen, Hebräischen und Jüdischen. Eine Sternstunde für Tamar war, als im Österreichischen Parlament, zum Gedenken an die Opfer des Holocaust, eines ihrer Gedichte rezitiert wurde. Milena Findeis

Dank einer Begegnung mit Joana Radzyner wurde ich auf die Gedichte vonTamar Radzyner gestossen, die mich berührten. Emigranten, auch wenn sie aus verschiedenen Ländern stammen, haben eine feine Antenne für Schicksalsgefährten. So entstand meine Übersetzung, Tamars deutscher Gedichte ins Russische, aus einem rein persönlichen Motiv. Beinahe unbekannt den Namen nach, hat ihre Lyrik für mich einen besonderen Stellenwert: verfasst von einer Frau, die den Tod überlebte und den Prozess des Überlebens poetisch festgehalten hat. Igor Pomerantsev

Joana Radzyner liest Gedichte von Tamar Radzyner

 

GEDICHTE VON TAMAR RADZYNER

Damals

Eine Dame weinte
weil die Tasse
die ihr seit Kindheit
gehörte
zerbrach.

     Wie schade
     sagte ich.
     Wie schade.

Ein junger Rat
Im Rathaus meinte
sie mußten doch
in Auschwitz
Dokumente haben!

     Mein Gott
     sagte ich.
     Mein Gott.

Eine Dame seufzte:
auch wir hatten oft Hunger
und kein Kleid
fürs Theater ...

   Ja, der Krieg
   sagte ich.
   Der Krieg.

Wenn mich wer fragt
wie es damals war
kann ich nichts sagen.

 

Wieder

Wieder brachte ich Kinder zur Welt
als ob ich nicht wüßte
wie mühelos
ein Kinderschädel
zerquetscht wird.

Wieder baute ich ein Haus
als ob ich nicht wüßte
wie man unter den Mauertrümmern
erstickt.

Wieder binde ich mich an Menschen
als ob ich nicht wüßte
daß die einem als erste
weggenommen werden.

Ich habe nichts dazugelernt.
Unter dem Schutthaufen der Zeit
hüte ich die Hoffnung.

 

Emigranten

Von langem Laufen betäubt
keuchend
kommen wir an
und wollen für einen Moment
unsere schwarze Koffer abstellen
wie die anderen sein.
Doch man drückt uns
eine Erdkugel in die Hände,
eine bunte Erdkugel
aus echtem Plastik
elektrisch beleuchtet.
Man fragt: "Wohin wollt ihr?
wo gelb - von dort kommt ihr her,
wo grün - herrscht Krieg
wo rosa - seid ihr unerwünscht..."
Gelb, grün, rosa ist die Erdkugel.
Habt ihr keine andere?
Eine mit winzigen Plätzchen
wo man eine Weile
Ruhe atmen darf
Pfeife rauchen darf
Augen schließen darf
in der Sonne?
"Ein guter Witz"
- lachen die Beamten -
"eine andere Erdkugel!"
klopfen uns auf die Schulter
und schließen zur Mittagspause.
Wir warten am Stubenring
am Bankerl.
Fette Tauben promenieren gleichgültig
die wissen, daß wir fremd sind.
Die brauchen nichts von uns.

 

Die Ameisen

Klein, schwarz, beweglich
ruhelos strebend,
von fremdem, perfektem Instinkt getrieben
kommen die an,
ekelhaft.

Nichts haben sie mir getan,
keinen Schaden zugefügt,
unsere Geraden kreuzen sich nicht,
fremde Welten, gleichgültige Galaxien,
irgendwie bewundernswert
ekelhaft.

So nehme ich meine Zyklondose
sprühe Tod
und da unten
geschieht das große Sterben.
Die kleinen, schwarzen Körper zucken,
krümmen sich, schrumpfen,
Panik, Chaos, ausweglose Flucht,
heroisches Leichenschleppen -
Schreie auf unhörbaren Wellen -

Über die leblosen Körper
schreite ich,
tausendfach vergrößert
durch den Tod in meiner Hand,
mit milder Weisheit,
mit leichtem Ekel,
ich
der Ameisengott.

 

Wohnhaft

Ich wohne auf dem Grund
einer Sanduhr.
Es ist weich hier
träge
halbdunkel
es regnet Sand
es rieselt
winzige runde
Zeitstückchen.
Wenn ich
am ersticken bin
kippt das Glas um.
Von Luft erstochen
von Licht erblindet
von Verlangen
und Verzweiflung
zerrissen
lebe ich
einen Augenblick lang.
Dann
falle ich auf meinen Platz
am Grund einer Sanduhr

 

Die Gewohnheit

Nach vierzig Jahren
der Selbstzerfleischung
stelle ich fest:
es ist eine äußerst
langweilige Tätigkeit.
Durch die Begrenztheit
der Materie,
des Werkzeugs
beschränkt,
wiederholt sich
immer öfter
im Kreislauf
das Muster.
Mit meiner
Nonkonformität konform,
an meinen Protest
gewöhnt,
mit dem inneren
Schweinehund
aufs tiefste befreundet –
verspreche ich
nichts mehr
und erhoffe nichts.

Schlimm ist –
nicht das Gefangensein –
schlimm ist –
sich nichts unter der Freiheit
vorstellen zu können.


„Nichts will ich dir sagen. Gedichte und Chansons“ Tamar Radzyner

Joana Radzyner, Konstantin Kaiser, Alice Radzyner

Joana Radzyner mit Konstantin Kaiser und Tochter Alice bei der Vorstellung des Buches Nichts will ich dir sagen, 12. November 2016, Freie Bühne Wieden, Wien


Die CD MIMIKRY  mit Texten der Lyrikerin Tamar Radzyner wurde  am 29. September. 2019 im Porgy & Bess, Wien von Joana Radzyner, der Schauspielerin Brigitte Karner und dem Saxophonisten Edgar Unterkirchner vorgestellt.  


 

Jahrbuch für Internationale Germanistik Jahrgang 
LII – Heft 2/2020 | Peter Lang, Bern | S. 253–260 

 

Es gibt in Italien eine in Deutschland wohl völlig unbekannte Seite im Netz, die heißt Exil der Frauen, auf Deutsch, Nebenprodukt eines großen Forschungsprojekts zur Erfahrung des Exils in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, inzwischen erweitert um Nuove Migrazioni. Dort findet sich eine lange Liste von Dichterinnen, meist jüdischer Herkunft, einschließlich Kurzbiographien und Hinweisen zur Forschung. Viele Namen sind aus dem kollektiven literarischen Bewusstsein völlig verschwunden, kommen oft nicht einmal in ausführlichen Literaturgeschichten vor: Wer kennt noch Lola Blonder, Gertrud Isolani, Susanne Wantoch, um nur einige zu nennen? Andere wurden erst in den letzten Jahren dem Vergessen entrissen, wie Mascha Kaléko, Gabriele Tergit oder Mela Spira (d.i. Mela Hartwig), aber auch die Wiederentdeckung Irmgard Keuns liegt erst wenige Jahre zurück. Den Namen Tamar Radzyner sucht man auch dort vergeblich. Den Bemühungen der Theodor Kramer Gesellschaft ist es zu verdanken, dass zumindest ein kleiner Teil der Gedichte nun dem Publikum zur Verfügung steht. Der einzige bisher publizierte Aufsatz zu ihr stammt denn auch von Konstantin Kaiser, dem Mitbegründer und Generalsekretär der Kramer Gesellschaft.1 Dabei war Tamar Radzyner in den frühen siebziger Jahren wenigstens in Wien zu einer gewissen Bekanntheit in Österreich gekommen, und Georg Kreisler, der auf sie aufmerksam wurde und mit dem sie eine Zeit lang zusammenarbeitete, hatte nach ihrem Tod 1991 sogar einen Gedichtband zur Publikation vorbereitet, der aber nicht veröffentlicht wurde (Kaiser, S. 332). Wenige Texte erschienen danach in einer Anthologie.2 In dieser Zeit mit Kreisler und seiner Frau Topsy Küppers schrieb sie Chansons, Lieder, Gedichte, etwa für das Programm und die LP Immer wieder Widerstand (1973). Im Programmheft dazu findet sich eine von ihr autorisierte Kurzbiographie: 

„Tamar Radzyner war im Ghetto Lodz Mitglied einer antifaschistischen Jugendorganisation. Nach der Liquidierung des Ghettos war sie in den Konzentrationslagern Auschwitz-Birkenau und Stutthof. Im Nachkriegspolen arbeitete sie als Textilarbeiterin, Funktionärin einer Jugendorganisation und als Journalistin. Seit dem Jahr 1959 lebt sie in Wien und schreibt Lyrik in deutscher Sprache.“ (zit. nach Kaiser, S. 335). 


Später bereitete sie statt einer Biographie folgende Zeilen für die 1992 erschienene Anthologie vor: 


Geboren in Polen, zu spät, um die "Goldenen Zwanziger Jahre" zu genießen, zu früh, um dem Krieg und der Naziverfolgung zu entgehen. Nachdem ich mein größtes Erfolgserlebnis – das Überleben – erreicht hatte, versuchte ich, meinen überschüssigen Idealismus mit der politischen Arbeit zu verbinden. Wie die meisten Versuche dieser Art schlug auch dieser fehl. Jetzt lebe ich in Wien als Hausfrau und Mutter und versuche, mir den Psychiater zu ersparen, indem ich meine Ängste in Gedichten niederschreibe. (zit. nach Kaiser, S. 335). 


Diese ernüchterte Selbstironie, das Eingeständnis des Scheiterns hier, mag nicht allein dem Erlebten während der Nazizeit geschuldet sein, auch wenn ihr Schicksal grauenhaft genug war: 1927 als Tamar Fajwlowicz in Łódź geboren, Widerstandskämpferin im Ghetto, überlebte sie die KZs Auschwitz-Birkenau, Stutthof und Flossenbürg. Ihre Eltern und fünf ihrer Geschwister werden ermordet. Aber ihr widerfuhr danach dann das, was viele Überlebende vor allem in der deutschsprachigen Welt nach 1945 erfahren mussten: Hass und Ablehnung. Auch der Antisemitismus hatte überlebt, und den erlebte sie zunächst im kommunistischen Polen, dann aber, nach ihrer Emigration 1959, in Österreich. Ihrer Person und ihrer Literatur, die daraus erwuchs, – erste Gedichte schrieb sie in Polen, auf Polnisch – ist sicherlich vor allem mit wohlwollendem Unverständnis begegnet worden, was Konstantin Kaiser in seinem Artikel festhält. Als 1971 Topsy Küppers Tamar Radzyners Werke in der Gesellschaft für Musik in Wien vorstellte, erschien danach eine kurze Notiz in der Tageszeitung Die Presse:


„Novellen, Kurzromane, Epigramme, Lyrik. Erfüllt von einem seltsam berührenden Trauerton, den man als sachlichen Weltschmerz charakterisieren könnte. Die Ausweglosigkeit der grauen Alltagsexistenz ist ihr Stoff, die Lieblosigkeit der Umwelt, das eigene Versäumen, Mensch zu sein über bloßes Vegetieren hinaus. Man braucht sich nicht zu fragen, was denn Tamar Radzyner zu dieser Lebenssicht gebracht hat. Das jüdische Schicksal in Polen formte ihr Wesen, darin steckt alles. Um so ergreifender, daß sie dann und wann zu Humor findet“. (Kaiser, S. 333). 

Das ist vielleicht gar nicht einmal gedankenlos geschrieben, wie Kaiser diesem Artikel auch konzediert, erfasst wohl auch manches, was der heutige Leser in diesen Gedichten erfahren kann, vermeidet aber mit den Worten vom jüdischen Schicksal in Polen jede Annäherung an das, was in diesen Texten fast physisch greifbar wird, auch wenn sie kabaretthaft von der Rolle der Frau im Haushalt sprechen: das Leben einer Überlebenden im Land der Täter, dessen Sprache sie angenommen hat und das immer noch Juden mit Verachtung sieht. Und der Artikel vermeidet jeden Versuch, indem er von Weltschmerz spricht, die Kraft und die Stärke ihrer Texte hervorzuheben. 

Wie alle bleibende, große Literatur handeln Tamar Radzyners Texte vom Unabgegoltenen der Geschichte, von Verfolgung und Flucht, dem Suchen nach Heimat, nach Glück, sie handeln von Ausgrenzung und Geschlechterbeziehungen in partriarchalischen Strukturen, und der Hoffnung, trotz allem und irgendwie, Menschlichkeit realisieren zu können.

Und sie handeln von etwas, was auch in diesen Tagen, in der endlich ihr Werk zugänglich wird, mit Macht zurück zu kommen scheint und wohl nie fort war: dem Antisemitismus. Die Auswahl ihrer Gedichte in diesem Band (83 Texte von insgesamt 216 im Nachlass verwahrten) ist in sechs Teile untergliedert, auch wenn sich die zentralen Themen über alle Teile erstrecken: 1: Laßt mich abends nicht allein zuhause, hier finden sich einige aus dem Polnischen übersetzte Gedichte, Gedichte des Moments der Ausreise, der Emigration, der Ankunft in Wien; 2: Meine Mutter lebte durch meine Haut, der durch den programmatischen Text Neu anfangen eingeleitet wird; 3: Sommer in der Stadt, beginnend mit Hurrah – der Frühling ist da, Gedichte über die Versuche, sich im Fremden zurechtzufinden, es zu verstehen, wobei das Hurrah alles andere ausdrückt, als Freude über etwa gelungenes Ankommen; 4: Meine wahre Heimat handelt von der Sprache, besser: den Sprachen, die Tamar Radzyner Heimat sind/ zur Heimat werden, auch Die deutsche Sprache ist dabei einzuschließen, selbst wenn es dort heißt: Wie ein stummer Gast/ wie ein scheuer Gast/ im Nobelhotel/ komme ich mir vor/ in der deutschen Sprache. Sie ist im besten Sinne des Worts eine interkulturelle Dichterin. Das titelgebende Gedicht aber bekennt: Meine wahre Heimat/ heißt Unglück/ Dort bin ich zu Hause. Denn außerhalb der Sprache lebt sie In meiner Zelle, mit den Versen Im Gefängnis geboren/ Zum Gefangensein erzogen. Dass der Teil 5: Das Unwesentliche mit Die Straßenverkehrsregeln beginnt, verweist sogleich auch auf die Mentalitäten eines deutschsprachigen Umfelds, das gerade dem Fremden Selbst-Kontrolle abverlangt und dem Ich das Gefühl unüberwindbare Einsamkeit vermittelt. Schließlich folgt als letzter Teil Nichts will ich Dir sagen. Chansons, entstanden in der Zusammenarbeit mit Georg Kreisler, mit bösen Liedern wie Hausfrauen-Report oder Frische Socken, die mit spitzer Zunge und Bitterkeit unter anderem die Rolle der Frau in der neuen Welt aufs Korn nehmen. Aber hier finden sich auch Zigeunerballade sowie Häftlingsnummer 82-128. Konzentrationslager Stutthof, von denen noch zu reden sein wird, die dem Leser die Kehle zuschnüren. Dass einige Chansons durchaus komisch sind, ähnlich dem Galgenhumor Kreislers, ist dabei kein Widerspruch zum Gesamteindruck, den diese Gedichte hinterlassen. Hier auch finden sich Übungen in einer weiteren Sprache, im Wiener Dialekt nämlich (kleine Zwutschkerl, in: Beitrag zur Familienplanung zum Beispiel), von dem sie keineswegs nur ironisch Besitz ergreift, etwa im Chanson Das Wienerisch-Slawische

Bis auf den letzten Teil sind alle Texte (meist) reimlos und ohne eine bestimmte metrische Bindung, mit Zeilenbruch und zum Teil mit strophischer Strukturierung. Aber es sind keine Prosatexte, die etwa eines vermeintlichen Realitätsgehalts wegen auf typisch „Poetisches“ verzichten wollten, auf Bilder, Metaphern und ähnliches. Die Gedichte sind hochartifiziell, auch wenn sie alles Hermetische vermeiden, sie sind sich bewusst, eine sprachliche Form finden zu müssen, die eine Kommunikation mit dem lesenden Subjekt ermöglicht. Sie sind hochpolitisch und engagiert, indem sie subjektiv Welterfahrung in Sprache zu fassen versuchen, ganz im Sinne von dem, was Adorno in Engagement zu beschreiben versuchte. In Heute ekelt mich das Papier an heißt es: 

Kaum ausgewürgt
sind die Worte alt
vom Speichel schlüpfrig
schäbig –
sie berühren
dringen nicht ein
besänftigen
doch befreien nicht (S.44) 

Vor allem aber stellt jedes Gedicht die allererste Frage: wie kann das Unaussprechliche doch in Worte gefasst werden? Wie kann nach Auschwitz weiter geschrieben werden? Wie kann gar dieser Zivilisationsbruch3 , das schlechthin Unsagbare in Sprache gefasst werden? Es ist unvermeidbar, hier an Adornos vielgeschmähten und in der Regel falsch zitierten Satz vom Gedicht nach Auschwitz zu erinnern. Meist wird er auf den gern als Verdikt suggerierten Satz reduziert: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.4 Wenn überhaupt, dann ging es darum, dass über Auschwitz nicht schön geschrieben werden kann, oder darum, dass es für Auschwitz zwar keine Sprache gibt, aber dennoch darüber, pausenlos im Grunde, zu reden, zu erinnern sei. Seinen Satz hat er dahingehend ergänzt, dass die eigentliche Frage lauten müsse „ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“.5 Ob Radzyner Adorno kannte, man kann es wohl vermuten, ist letztlich zweitrangig, aber ihr Bewusstsein von Sprache führt sie notwendigerweise zu ähnlichen Konsequenzen, und die zentrale Frage der Gedichte ist eben: „ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“. Dies, die verlorene Heimat, die verlorene jüdische Kultur, die hier wie in so vielen dieser Texte fast unmerklich präsent ist, und die scheinbar nicht zu gewinnende neue Heimat, kommt im Gedicht Porzellangasse II zu Worten, dessen resignierender Grundton jedoch keineswegs alle Gedichte des Bändchens durchzieht:

In meiner Heimat
die mir keine Heimat
sein wollte
baute man
bunte Häuser
auf den Ghettoruinen 

Nachts
glühten die Fundamente
der Rauch stieg in die Augen
es tönten die Osterglocken
mit zerplatzten Lippen
schrien wir Todesgebete 

Das hat die Nachbarn gestört
in bunten neuen Häusern
(…) I

n meiner neuen Heimat
die mir keine Heimat ist
wächst über Schuld und Sühne d
er goldene Heurige 

(…) 

Nachts steigt in die Augen
der Rauch der verloschenen Öfen
und die zerplatzten Lippen
flüstern das letzte Gebet 

Vielleicht wird es schon morgen
die Ruhe der Nachbarn stören
Vielleicht muss ich schon morgen
an andre Gräber gehen  (S. 30 f.) 

Die Chansons des letzten Teils, verfasst für Programme wie Immer wieder Widerstand sind meist metrisch gebunden und gereimt, benutzen und zitieren Formen der deutschen Traditionen auf sehr überzeugende Weise, und unterstreichen die operative Funktion dieser sich direkt an ein Publikum richtenden Texte, wie etwa die Zigeunerballade

Durch die polnischen Wälder
zogen vor Jahren
Pferdewagen, die heut niemand mehr kennt
fremde Sprache und Lieder
remdes buntes Gefieder
doch die Menschen
sie waren nicht fremd.

(…) 

Dann entflammte die Erde
die SS nahm die Pferde
alles brannte – es gab kein Zuhaus‘,
nach Führers Erlaß
wurden alle vergast
ein paar Tage
den Juden voraus. 

(…)
Ihr, mit Blut an den Händen,
mit Blut in den Gedanken,
kommt ihr einmal nach Polen – gebt acht!
In den Wäldern am Abend
hört man Wiehern und Traben,
tausend Geigen spielt der Wind in der Nacht
(…) (S. 146 f.) 

In Häftlingsnummer 82-128. Konzentrationslager Stutthof kommt sie zurück auf die Thematik der frühen, noch in Polen geschriebenen Texte, ihre Zeit als Widerstandskämpferin im Ghetto, als junge Frau, als Mädchen noch, die nach Auschwitz, Stutthof in Flossenbürg Munition herstellen musste, dann hoffnungsvoll der polnischen KP beitrat: 

Ich bin, Genossen, 16 Jahre alt –
und ich kann nichts um mich begreifen.
Aus meinem Vater haben sie Seife gemacht
Und ich, ich wusch mich mit dieser Seife 

(…) 

Ich hatte zwei lange blonde Kinderzöpfe
mein Schädel ist abrasiert
Ich hatte die verschämte junge Weiblichkeit
Nun bin ich keine Frau. Ich bin ein Tier. 

(…) 

Doch ich schwöre auf Millionen der Gekreuzigten
auf meinen Haß, auf Hunger und Angst —
ich werde überleben, um laut auszuschreien
meine Zeugenaussage, meine Mordbilanz:
(…) 

das Ziel "Tod den Faschisten!"
Den Haß, der mich verbrennt —
Ich werde überleben —
denn ich bin kein Mensch mehr
Ich bin nur mehr ein Zeuge —
ich bin ein Testament (S. 150 ff.) 

Dieser verzweifelt kämpferische Ton, eben aus dem Programm Immer wieder Widerstand ist genauso eine Ausnahme, wie der resignative. Wollte man einen Grundton in dieser eher kleinen Auswahl suchen, so würde man in Wieder fündig, ein eher leises Gedicht, das aber ein Publikum der frühen siebziger Jahre in Wien wie in der ganzen deutschsprachigen Welt wohl genauso irritiert hätte: 

Wieder brachte ich Kinder zur Welt
als ob ich nicht wüßte
wie mühelos
ein Kinderschädel
zerquetscht wird.

Wieder baute ich ein Haus
als ob ich nicht wüßte
wie man unter den Mauertrümmern
erstickt.

Wieder binde ich mich an Menschen
als ob ich nicht wüßte
daß die einem als erste
weggenommen werden.

Ich habe nichts dazugelernt.
Unter dem Schutthaufen der Zeit hüte ich die Hoffnung.      (S. 47) 

Die lyrische Geste dieses Gedichts, wie vieler anderer, erinnert an Gedichte Brechts aus dem Exil, wobei damit keineswegs gesagt sein soll, Tamar Radzyner hätte sich bewusst an dieses oder ein anderes Vorbild anlehnen wollen. Unüberhörbar aber sind ihre Verweise auf Traditionen, in denen sie sich offensichtlich sieht, formaler wie inhaltlicher Art. Und Brecht zitiert sie auch wörtlich: im Hausfrauen-Report träumt das Ich wie Jenny träumte (…) von der schwarzen Piratenbrigg und von blutiger Rache, die diese Brigg brächte. Stärker als an Brecht aber erinnert dieser Text, besonders aber dann Kleinbürger-Protest an Walther Mehrings politisch-literarisches Kabarett der Zwanziger Jahre (hier das Wienerische, das bei Mehring das Berlinerische war), das zwar zu ihrer Zeit noch auf die Wiederentdeckung warten musste, ihr aber durch Georg Kreisler wohl bekannt war. Zoo steht zwar in der Tradition der sogenannten Nonsense-Dichtung, Ringelnatz glaubt man zu hören, und das ästhetische Wiesel Morgensterns wird sogar zitiert (allerdings tat es hier ein Kakadu des Reimes willen), aber auch hier dominiert der Ton des politischen Kabaretts. 

Tamar Radzyner hat, soweit man die spärlichen Nachrichten so deuten kann, ein durchaus beträchtliches Werk hinterlassen, sie übersetzte dazu auch aus dem Polnischen, Russischen, Hebräischen und Jiddischen, und sie ist eine eigene Stimme in der deutschsprachigen Literatur, die unbegreiflicher Weise noch immer kaum bekannt, ja: unbekannt ist. Es ist dringend zu wünschen, dass sehr bald weitere ihrer Texte, weitere Gedichte auch, zur Publikation finden, dass ihre polnischen Arbeiten in Übersetzungen greifbar werden, die sie dazu als interkulturelle Stimme aus einer Zeit vernehmen ließen, in welcher es interkulturelle Literatur im deutschsprachigen Geschehen noch kaum gab. 

Michael Dallapiazza

1 Konstantin Kaiser: Erster Versuch über Tamar Radzyner. In: Zwischenwelt 20, Heft 2 (2003), S. 58-62. Wiederabdruck in: Konstantin Kaiser: Ohnmacht und Empörung. Schriften 1982 – 2006. Mit Beiträgen von Siglinde Bolbecher und Peter Roessler. Hrsg. von Primus-Heinz Kucher, Karl Müller und Peter Roessler im Auftrag der Theodor Kramer Gesellschaft. Klagenfurt/Celovec 2008 (Jahrbuch Zwischenwelt 11), S. 325-337 (zitiert)

2 Wären die Wände zwischen uns aus Glas/If the Walls Between Us Were Made of Glass. Deutsch/Englisch, Übersetzung ins Englische von H. Kuhner. Hrsg. von Peter Daniel, Johannes Diethart und Herbert Kuhner. Wien 1992.

3 Der Begriff wurde von Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt / M. 1988, geprägt, anschließend an Adorno. Diner nennt diesen Zivilisationsbruch „Sigel für das Scheitern der Zivilisation“, S. 31.

4 Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt / M. 1955 / 1976, S. 26. Das ganze Zitat lautet: "Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward. heute Gedichte zu schreiben.”

5 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (GS 6), S. 353. Das ganze Zitat dazu lautet: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen." Adorno hat auch zu Celan Stellung genommen, an den man bei Radzyners Gedichten oft denken muss. Dessen Lyrik, so Adorno, sei „durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids“ (Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, GS 7, S. 477). Genau so wirken Radzyners Gedichte.



Tamar Radzyner2021 erscheint im Verlag Portatori d'acqua: Tamar Radzyner, Nulla voglio dirti, Poesie e chansons.

Die Gedichte aus dem Band  Tamar Radzyner "Nichts will ich dir sagen, Gedichte und Chansons" übersetzt von Giulia Fanetti, werden in der deutschen Originalfassung und in der italienischen Übersetzung gedruckt. Das Vorwort von Michael Dallapiazza und die Einführung von Joana Radzyner finden sich in dem Band in Italienisch.

Die deutsche Originalfassung der Einführung von Joana Radzyner ist unter ​Teofila Fajwlowicz - Helena Glibowska - Tamar Radzyner auf dem Zeitzug nachzulesen.

 

 

 

 

 

 

 


 

 

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