Tscherniwzi Чернівці Cernăuți - CZERNOWITZ 

Czernowitz 2022
Czernowitz, September 2022

 

Igor Pomerantsev, Czernowitz

Dichter, Radio-Kulturproduzent Igor Pomerantsev

... schreibt in russischer Sprache, spricht Ukrainisch und Englisch, verbrachte seine Kindheit in Czernowitz. Seine Gedichte, Essays werden von Czernowitz genährt, er lebt nach Stationen in London und München in Prag und ist der geistige Vater des Literaturfestivals.

Das 2010 aus der Taufe gehobene Lyrikfestival MERIDIAN CZERNOWITZ  schafft Begegnungen mit der zeitgenössischen, europäischen Literatur, in der "einstigen Stadt der Bücher". 

2017 erschien in deutscher Sprache Czernowitz, Erinnerungen eines Ertrunkenen, eine Sammlung von Essays und Gedichten.
In-Ex-Terieur Czernowitz: Lyrik, Prosa von Igor Pomeranzew, 2023 

Czernowitz"Deshalb werde ich nicht müde werden zu betonen, dass Czernowitz eben keine deutsche Stadt war, auch keine jüdische und keine rumänische, weder ruthenische noch polnische. Sie hatte von allem, und das machte sie besonders ...

... historisch wäre am ehesten der Sammelbegriff "österreichisch" anzuwenden, denn der subsumiert Vielfalt. Czernowitz, das war das vorübergehend erfolgreiche Praktikum einer letztlich gescheiterten Idee, nämlich jener vom völkerreichen Donaustaat. Und sie war als binneneuropäische Konzeption wesentlich weiter gediehen, als die fragilen Konstrukte unserer europapolitischen Gegenwart." Raimund Lang, zitiert aus seinem Vorwort im Kunstalbum Czernowitz, 2017 

In Czernowitz wird  heute vorwiegend Ukrainisch, ein wenig Russisch, und ganz a bissl Rumänisch, Jiddisch und Deutsch gesprochen. Es leben noch rund viertausend Jüdinnen und Juden, ein halbes Prozent der rund 240000 Einwohnerinnen und Einwohner, in der seit 1991 westukrainischen Stadt. Vor dem ersten Weltkrieg waren es um die fünfundvierzig Prozent.

Die einstige vielsprachige, kosmopolitische Stadt existiert nicht mehr. Davon erzählt Rezzoris Essay "Heimkehr nach Tschernopol", der 1990, nach vierundfünfzig Jahren in seine Geburtsstadt zurückkehrte. Der Fall des Eisernen Vorhangs - 1991 -  bewirkte in Czernowitz ein Nachdenken über die Vergangenheit. Fragen wurden gestellt, es wurde nach Wurzeln gesucht, nach neuen Bezugspunkten.

Helmut Böttiger
Helmut Böttiger, Czernowitz September 2022

Helmut Böttiger nahm 2022 am Meridian Czernowitz 2022 teil. Im August 2023 erschien der Essay "Czernowitz, Stadt der Zeitenwenden" in Buchform (88 Seite, gebunden, Berenberg Verlag). Dreimal ist Helmut Böttiger während der letzten dreißig Jahre nach Czernowitz gereist:  Jedes Mal hat sich die Stadt verändert: von einem sowjetischen Vielvölker-Labor (Juli 1993) über den Schauplatz der Orangenen Revolution (Mai 2005) hin zu einer Stadt in der demokratischen Ukraine (September 2022), die sich gegen die alten Besatzer verteidigen muss. Während dieser Zeitspanne hat Tscherniwzi ihre jüdischen Wurzeln neu entdeckt und die unter sowjetischer Herrschaft verbotenen Autoren wurden, allen voran Paul Celan, zur Ikone der ukrainischen Literatur.

Dass “U kraina” wörtlich “am Rand” bedeutet, hat auch eine ästhetische Dimension. Ist der Rand nicht auch der angestammte Platz der Literatur? Ist ihre Sprache nicht gerade dadurch bestimmt, dass sie von der allgemein als selbstverständlich empfundenen Norm abweicht? Etwas in dieser Art muss Sabine Stöhr durch den Kopf gegangen sein, als sie Juri Andruchowytsch im Club der polnischen Versager hörte.

Es gibt unverkennbar eine Tradition ukrainischer Literatur, samt einer futuristischen Strömungen in der ersten Jahren der Sowjetunion. Dennoch begann in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts etwas fundamental Neues. Im galizisch geprägten Raum traten Juri Andruchowytsch, Wiktor Neoborak und Oleksandr Irwanez mit ihrer Lyrik-Performancegruppe Bubabu auf den Plan. Sie hat schon den Charakter einer Legende, weil die drei jungen Herren auf einen Schlag alles nachholten, wofür die westliche Avantgarde Jahrzehnte gebraucht hatte: Kokett bezeichneten sie sich als “Kontra-Avantgarde”. Und ein bisschen zeitversetzt passierte dasselbe auch in Charkiw, in der äußersten Ostukraine direkt an der russischen Grenze: Hier verwendete Serhij Zhadan, Sohn eines Lastwagenfahrer und mit der russischen Sprache sozialisiert, das Ukrainische als Gegengift gegen die Sowjetherrschaft. Seite 62, 63:, Helmut Böttiger "Czernowitz".

Сергій ОсачукSergij Osatschuk, Herausgeber des Czernowitz Kunstalbums: "Anstelle der üblichen Behauptungen mancher russischsprachiger Mitbürger, erst sie hätten die "Kultura" gebracht, kam Anfang der 90er Jahre die Erkenntnis, dass sie damals, 1940, die Kultur weggenommen haben. Infolge solcher Wandlungen der Perspektiven begann in den Köpfen engagierter Heimatforscher das Interesse für diese verschüttete Kulturepoche zu wachsen, in der Czernowitz noch ein Bestandteil des versunkenen k.u.k. Atlantis war." Osatschuk spricht ausgezeichnet Deutsch. Er war u.a. österreichischer Honorarkonsul in Czernowitz, seit 2022 ist er Offizier der ukrainischen Armee. Ihm begegnte ich auf den Strassen von Czernowitz und  Klagenfurt - dort stellte er im November 2018 das Kunstalbum Czernowitz vor. 

Petro Rychlo, CzernowitzDas Heft 19 Mnemosyne  widmete seine Ausgabe im September 1997 Czernowitz. Petro Rychlo  schrieb u.a. den Beitrag Entwurzeltes Wort, der in die Gegenwart führt — vor allem wenn er, Dr. Constantin Tomasczu, zitiert: "Wehe der Nation, die sich fürchten musste vor dem Einfluss fremder Kultur. Diese hat sich selbst das Todesurteil gesprochen". Petro Rychlo, Literaturwissenschaftler übersetzt u.a. das Gesamtwerk von Paul Celan ins Ukrainische, in  "Über dem Dorn" skizziert er den Lebenslauf des Dichters aus Czernowitz. 2008 erschien die zweite, erweitertete Auflage der zweisprachigen (ukrainisch/deutsch) Anthologie Die verlorene Harfe, von Petro Rychlo. Im Herbst 2014 wurde das Paul Celan Literaturzentrum eröffnet, es wird von Rychlo geleitet. 

Bukowinisch-Galizische Literaturstraße: Ein Blick in die Vergangenheit – für die Zukunft, Petro Rychlo - Frühjahr 2023

Meine erste Begegnung mit der Stadt in der Bukowina im September 2010 war ein Schlüsselerlebnis: das Gefühl, dass Vergangenes durch Gegenwärtiges aufersteht. Ich fühlte meine Kindheit im jetzt und heute, obwohl diese vor mehr als fünf Jahrzehnten stattgefunden hatte, in Graz, in der Nähe vom Thalerhof, – dort, – das erfuhr ich als fünfzigjährige, hatten die Behörden der k.u.k Monarchie während des Ersten Weltkrieges ein Internierungslager für ruthenische (ukrainische) Gefangene eingerichtet. Für mich, als seit 1991 in Prag lebende Österreicherin, hat Czernowitz mein Interesse für die gemeinsame Geschichte, jenseits von Grenzstationen und Sprachgrenzen, geweitet - sie richtet sich auf Gegenwärtiges mit gelegentlichen Abweichungen in die Vergangenheit und Gedankenreisen hinein in Zukünftiges.

Für Recherchen Czernowitz betreffend empfehle ich die Online-Sammlung von Edgar Hauster.

Milena Findeis

 


Links zu Beiträgen über Czernowitz auf dem Zeitzug

Meridian Czernowitz XIII, 2.-4. September 2022, Milena Findeis
Die Verlorene Harfe. Poetisches Atlantis der Bukowina - von Peter Rychlo 
Über dem Dorn Paul Celans traumatische Dichtung ... Peter Rychlo
Eugenie Schwarzwald, Vortrag von Peter Rychlo über die Pädagogin und Pionierin
Entwurzeltes Wort, Peter Rychlo rezensiert Versunkene Dichtung der Bukowina
Heimkehr nach Tschernopol, "Czernowitz holt mich immer ein", Gregor von Rezzori
Erinnerungen eines Ertrunkenen, Igor Pomerantsev
Das Recht zu lesen, Igor Pomerantsev
Kindheit in Czernowitz, Igor Pomerantsev
Meridian Czernowitz 2015, 2020. 2022: Claus Löser, "Von Tschernowitz nach Tscherniwzi und zurück"
Ein begehbares Gedächtnis. Ein Essay von Andreas Saurer
Die Stadt der Bücher. Die Lesewut hat mich angesteckt. Joana Radzyner. Salzburger Nachrichten
Czernowitz heute. Das leben gejt waiter. Essay von Joana Radzyner. Illustrierte Neue Welt
Theaterstück "Der Sand aus den Urnen". Paul Celan
The Secret of Czernowitz, A radio interview with Igor Pomerantsev
Gehört: Zwei Stimmen aus Czernowitz, Milena Findeis
Buchhandlung Singer, Wien, Milena Findeis
Lyrikhandlung am Hölderlinturm, Ulrike Geist
Czernowitz Ein Gespräch über Czernowitz. Sashko Bojchenko 
Czernowitz Residenz Tagebuch, Herbst 2013, Milena Findeis
Fotoalbum Meridian Czernowitz 2011, Milena Findeis
Fotoalbum Czernowitz 2010, Milena Findeis


Nach dem Maidan (Herbst 2013), der Revolution der Würde, den Kämpfen in  Luhansk und  Donezk, der Annexion der Krim (2014), erklärt Putin Ende Februar 2022 der gesamten Ukraine den Krieg.
Ein Gespräch von Tino Schlench, Literaturpalast am 27.2.2022 mit Oxana Matiychuk in deutscher Sprache, Tscherniwzi "wir baden blutig aus"
Anläßlich von Meridian Czernowitz XIII traf ich den aus Tscherniwizi stammenden Reporter, Fotografen Maxym Kozmenko, der aus der Ukraine berichtet. 

Meridian Czernowitz, 2010


Das von Meridian Czernowitz produzierte Video basiert auf "Erinnerungen eines Ertrunkenen", von Igor Pomerantsev, der seine Jugend (1954 - 1970) in Czernowitz verbrachte, gesprochen von seinem Sohn Peter, der in London aufgewachsen ist. Es zeigt Szenen vom Internationalien Literaturfestival, das seit 2010 Czernowitz wieder mit der europäischen Literatur verknüpft.

Externe Links betreffend Czernowitz:


"Die Matrix dieser polyethnischen Soziotope erweist sich zum Prag eines Kafkas ähnlich als produktiv in Bezug auf die Literatur dieser Region und auf das von ihr inspirierte Neuverständnis der Kultur, denn "Kultur ist nicht das, was ein kultivierter Mensch hat, sondern das, woran er arbeitet." - wie Martin A. Hainz die in der Lektüre von Czernowitz inhärente Botschaft aufflechtet: "Das ist also jene "Oase der Vielvölkerverständigung", sie ist eine Fiktion - doch will es scheinen, gerade ihr Nichtvorhandensein habe etwas bewirkt, das womöglich ihr Vorhandensein nicht bewirken hätte können." Brigitta Finta: Mitteleuropäische erinnerte, erzählte und imaginäre Topographien. Geschichts- und Identitätskonstruktionen des Grenzgängers Gregor von Rezzori, November 2012


Boris Savelev, 2018, CHERNOWITZ PORTFOLIO

Boris Salvelev

Boris Savelev (*1946) ist ein in der Ukraine geborener russischer Fotograf, der für seine von Schatten geformten Bilder von alltäglichen Straßenszenen und Menschen, während und nach dem Kalten Krieg und dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekannt ist.

Der aus Czernowitz stammende Savelev  begann mit dem damals  einzig verfügbaren Schwarz-Weiß-Film und arbeitete mit minimalen Formen, dunklen Farb- und Lichttönen, um seinen realistischen Blick auf die Straßen in seiner Wahlheimat Moskau abzubilden. Nach der Erfindung des Farbfilms in den frühen 1980er Jahren ging Savelev zur Farbfotografie über und nutzt eine Mischung aus digitalen und analogen Formen der Fotografie.

Published by Factum Arte
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