Czernowitz – ein begehbares Gedächtnis
Celans Heimat Klein-Wien oder Jerusalem am Pruth wurde Czernowitz genannt. Vor 90 Jahren wurde hier Paul Celan geboren. Jetzt erinnert sich seine Geburtsstadt mit dem «Meridian»-Poesiefestival zaghaft an den grossen deutschsprachigen Dichter – und an den übermächtigen Schatten des Holocaust.
«Meridian Czernowitz»
Igor Pomeranzev ist einer der Initianten des Festivals «Meridian Czernowitz», das diesen Herbst seine erste Auflage erlebte. Der russisch schreibende Lyriker und Essayist ist in Czernowitz aufgewachsen, wurde 1979 als Dissident aus der Sowjetunion ausgebürgert und emigrierte nach Grossbritannien. Er hat der Stadt in seinem Essay «Erinnerungen eines Ertrunkenen» ein kleines Denkmal gesetzt. Über die Bedeutung Celans im Czernowitz seiner Jugend sagt er darin: «Er war ein unsichtbarer Dichter, ein Phantomdichter.» «Meridian» – so hiess Celans Rede, als er 1960 den Büchner-Preis erhielt. Zwei Jahre davor hatte er in der Bremer Preisrede über «sein» Czernowitz gesagt: «Es war eine Gegend, in der Bücher und Menschen lebten.» Er beschwor damit den Mythos der vielsprachigen habsburgischen Provinzweltstadt. Seit vielen Jahren arbeitet der 62-jährige Pomeranzev für den russischsprachigen Dienst des US-Senders Radio Liberty in Prag. Jetzt hat er mit einem jungen und ambitionierten Team um seinen rührigen Neffen Svjatoslav Pomeranzev Lyriker und Musiker aus Deutschland, Österreich, der Schweiz sowie aus der ganzen Ukraine nach Czernowitz gebracht, in die einstige habsburgische Provinz und an die Peripherie der deutschen Sprache. Die beiden Pomeranzevs wollen das «verschüttete historische und kulturelle Gedächtnis» freilegen – und es für die heutigen Czernowitzer nutzbar machen.
Gewagtes Experiment
An der Universität, in Restaurants, in Galerien, im Theater, auf Plätzen und in Diskotheken war plötzlich rund um die Uhr Deutsch zu hören. Und das gewagte Experiment klappte, das Publikum kam. Dank der unermüdlichen Übersetzungsarbeit von Petro Rychlo ins Ukrainische und Mark Belorusez ins Russische und wegen der in der Ukraine verehrten Publikumsmagneten Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan. Es kamen viele Studenten. Und viele Betagte. Einer von ihnen begann plötzlich in deutscher Sprache mit brüchiger Stimme ein Lied zu singen und machte sich so zum Mittelpunkt. Der Mann heisst Max Schickler*, ist 91 Jahre alt und einer der letzten Juden in Czernowitz, welche die dunkelste Zeit in dieser Stadt, die einmal der Nabel der Welt war, überlebt haben. Mit Josef Burg ist im Sommer 2009 der letzte jiddisch schreibende Dichter des alten Czernowitz im Alter von 97 Jahren gestorben, und auch die beiden Helden in Volker Köpfs eindringlichem Czernowitz-Dokumentarfilm von 1999 «Frau Zwilling und Herr Zuckermann» haben inzwischen auf dem gigantischen jüdischen Friedhof von Czernowitz die letzte Ruhe gefunden.
Deportationen und Flucht
Nach dem Ersten Weltkrieg – die Stadt zählte weniger als 100000 Einwohner – war hier jeder Dritte Jude. Der nationalsozialistische Vernichtungswahn – vom rumänischen Bündnispartner bereitwillig unterstützt – machte dem magischen Zauber von Czernowitz den Garaus: Ghettos, Deportationen, Lager, Flucht. Zerstörte Freundschaften und zerrissene Familien. Celans Eltern wurden wie viele andere in die Konzentrationslager nach Transnistrien verschleppt – von wo sie nicht mehr zurückkehrten. Celan selber war in rumänischen Arbeitslagern interniert. Der Schöpfer der «Todesfuge», der in der Sprache der Mörder schrieb und mit ihr berühmt wurde, entkam seinem tiefen Trauma weder in Bukarest noch in Paris. Max Schickler ging mit Celan zur Schule: «Er war ein Jahr unter mir.» Konkrete Erinnerungen an den unauffälligen Schüler hat der alte Mann keine. Schickler floh während des Krieges Hunderte von Kilometern zu Fuss nach Osten zur Roten Armee. Überlebt hat er durch Glück und ausgerechnet dank seiner Deutschkenntnisse, denn die Sowjets setzten ihn als Übersetzer für deutsche Kriegsgefangene ein. Redet er heute noch oft Deutsch? «Ich weiß nicht mit wem», winkt er ab. Im Realsozialismus arbeitete er über Jahrzehnte in einer Fabrik. Natürlich spricht Schickler Russisch. «Nur Französisch habe ich vergessen», und für einen winzigen Augenblick blitzt der Schalk in seinem einen noch gesunden Auge auf. Und er spricht Rumänisch, denn in seiner Kindheit, also nach dem Ersten Weltkrieg, war Czernowitz eine rumänische Stadt.
Zwischen Kiew und Bukarest
Heute spricht in der Region Czernowitz noch fast jeder Fünfte Rumänisch. Gleich neben dem Bürgermeisteramt hat der Verein für rumänische Kultur «Mihai Eminescu» seinen Sitz. Sonntags übt hier der Chor «Dragoș Vodă» mit Dirigentin Elena Nandriş sein patriotisches Repertoire. Hier treffen sich auch Intellektuelle und Lehrer zum Austausch. «Wozu braucht es in Czernowitz 200 Banken, wenn man kein einziges Buch in rumänischer Sprache findet?», fragt Ilie Tudor Zegrea. Der 60-jährige Lyriker arbeitete über 30 Jahre als Radiojournalist, seit kurzem ist er in Rente. Er bedauert, dass die Jugend nur noch Internet und Fernsehen im Kopf habe. «Wirklich Angst aber machen mir die militanten ukrainischen Nationalisten», sagt er, um gleich anzufügen, dass deren Schlägertrupps sich bisher in Czernowitz nicht zu zeigen wagen. Tatsächlich wirkt die Stadt auf den Hügeln am Pruth mit ihren 250000 Einwohnern stolz, fast wie eine unwirkliche Insel. Auf die 600-Jahr-Feier von 2008 hin wurde das Zentrum überholt, viele Gebäude und Strassen saniert. In der aufgemotzten Fussgängerzone, die es in ihrer ärmlicheren Variante auch schon zur Sowjetzeit gab, stehen samstags vor dem Standesamt die Brautpaare Schlange. Kommen die Frischvermählten heraus, stossen sie an und werfen die Gläser in die Luft. Eine Putzfrau steht den ganzen Tag über bereit, kehrt die Scherben zusammen und gibt die Bühne fürs nächste Brautpaar frei. Später gehen sie alle zur Universität, weil sich der prunkvolle einstige Sitz des orthodoxen Metropoliten als Kulisse für die Verewigung im Familienalbum aufdrängt. So kommt es, dass sich in der weitläufigen Parkanlage und in den Hallen der Universität atemberaubend schöne Frauen in bedrohlich hohen Absätzen in Pose werfen.
Pomeranzevs Vision
«Parma ist Schinken. Venedig ist Wasser, Glas und Filmstars. Und Czernowitz ist ein Buch.» Das ist die Vision von Igor Pomeranzev für das «Meridian»-Festival. Hier steht Celans Geburtshaus. Neben dem Eingang hängt seit einigen Jahren eine Gedenktafel. Allerdings weiss niemand, in welcher Wohnung seine Familie hauste. Im Innenhof des Gebäudes, in dem wie damals Mieter wohnen, flüstert Mark Belorusez, der Celan ins Russische übersetzt hat, in die unwirkliche Stille: «Durch diesen Hof fliesst die Seine.» Und die ihn umringende versprengte Schar von «Meridian»-Teilnehmern sieht den Fluss in Paris vor sich, in dem Celan vor 40 Jahren den Freitod gesucht hat. In Czernowitz gibt es seit einigen Jahren eine Celan-Büste. Seit zwei Jahren gibt es das Museum der Juden in der Bukowina. Und jetzt gibt es das Festival. Immer mehr Menschen machen sich auf nach Czernowitz. Auf Spurensuche. Auf der Suche nach dem einstigen jüdischen Czernowitz, aber auch auf der Entdeckung des rumänischen, des polnischen, des russischen und natürlich des ukrainischen. Czernowitz ist ein begehbares Gedächtnis. Und eine Marke, aus der sich ohne falsche Scham Kapital schlagen lässt. Bürgermeister Fedoruk, der eben im Amt bestätigt wurde, ist beliebt, weil er sich als Unabhängiger den politischen Intrigen in Kiew konsequent widersetzt. Er hat die Zeichen der Zeit und das Entwicklungspotenzial erkannt: «Wir werden eine Celan-Gedenkstätte** errichten.» Die lebendige Provinzstadt muss nicht auf ewig «eine versunkene Welt» bleiben.
©Andreas Saurer