Peter Rychlo

Entwurzeltes Wort

Entwurzeltes Wort

Mnemosyne Heft 19 (September 1995), CZERNOWITZ, Gesellschaft für Erinnerung, Klagenfurt herausgegeben von Armin A. Wallas, Andrea M. Lauritsch

Versunkene Dichtung der Bukwina. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik. Herausgegeben von AMY COLIN und ALFRED KITTNER. München: Wilhelm Fink Verlag 1994, 422 Seiten.

Bereits der Titel dieses von der amerikanischen Germanistin Amy Colin und dem verstorbenen Bukowiner Dichter Alfred Kittner herausgebrachten umfangreichen Bandes weist auf zwei grundlegende Umstände hin, die dieses einzigartige historische und literarische Phänomen charakterisieren: erstens, dass diese lyrische Produktion deutschsprachig war, und zweitens, dass sie seit einer gewissen Zeit als versunken gilt. Beide Determinanten haben letzten Endes einen gemeinsamen Nenner und hängen damit zusammen, dass die Bukowina von 1774 bis 1918 zur Donaumonarchie gehörte, und ihre Literatur als Bestandteil des österreichischen Literaturprozesses betrachtet werden kann. Mit dem Ende des Kaiserreiches - unter dem Doppeladler - sollte aber auch das Bukowiner deutschsprachige Schrifttum versiegen. Das letztere widerstrebt der genauen geschichtlichen Datierung, da die Blüte der deutschsprachigen Dichtung der Bukowina paradoxerweise in die Jahre nach 1918 fällt, als sie schon unter rumänischer Verwaltung stand. Seit 1945 war dieses Land "der Geschichtslosigkeit anheimgefallen" (Paul Celan), da es im "realen Sozialismus" — egal ob sowjetischer oder rumänischer Prägung — als vernachlässigtes Grenzgebiet jahrzehntelang eine elende Existenz fristen musste. Auch heute bleibt es gespalten: der Norden der Bukowina ist ukrainisch, der Süden rumänisch.

Vor diesem Hintergrund ist die Bukowina — wie sie sich in den Nachkriegsjahren im westlichen Bewusstsein etablierte — kaum ein geographischer, eher schon ein politisch-historischer (als "retrospektives Modell des Vielvölkerlandes mit friedlicher Koexistenz", als "Chiffre für ein vereintes Europa"), religiöser (Czernowitz als "Hochburg des Chassidismus", als "Vatikan des Ostens", als "Jerusalem am Pruth"), vor allem aber ein literarischer Begriff, gekennzeichnet durch Namen wie Karl Emil Franzos, Rose Ausländer, Paul Celan, Gregor von Rezzori und vieler anderer im binnendeutschen Raum wenig bekannter Autoren. Bernd Kolf hat in seinem Essay in Akzente (1982) eine treffende Formel für das Charakteristikum dieses Landstriches gefunden: "Bukowina als geistige Lebensform" (S.337). Das bezog sich insbesondere auf Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina. Wie sich diese "Lebensform" in Wirklichkeit realisierte, erfährt man aus Rose Ausländers Erinnerungen an eine Stadt: "Man las viel, nicht nur Zeitungen, Zeitschriften, Sekundärliteratur und Unterhaltungslektüre, sondern gute, beste Literatur. Man diskutierte mit Feuereifer, musizierte und sang. Das Stadttheater war immer gut besucht, bei Gastspielen ausverkauft. Ein beträchtlicher Teil der Jugend, geistig aufgeschlossen, war von unersättlicher Wissbegier. Das zentrale Interesse vieler Intellektuellen galt nicht dem ehrgeizigen Planen einer einträglichen Karriere, nicht einem technisch höheren Lebensstand, es ging ihnen vielmehr um erkenntnisreiche Einsichten, sei es auf Wegen der Wissenschaft, Philosophie, Politik oder durch das Erlebnis von Mystik, Kunst, Dichtung und Musik [...]. Czernowitz war eine Stadt von Schwärmern und Anhängern. Es ging ihnen, mit Schopenhauers Worten, 'um das Interesse des Denkens, nicht um das Denken des Interesses' [...]. Hier gab es: Schopenhauerianer, Nietzscheanbeter, Spinozisten, Kantianer, Marxisten, Freudianer. Man schwärmte für Hölderlin, Rilke, Stefan George, Trakl, Else Lasker-Schüler, Thomas Mann, Hesse, Gottfried Benn, Bertolt Brecht [...]. In dieser Atmosphäre war ein geistig interessierter Mensch geradezu >gezwungen<, sich mit philosophischen, politischen, literarischen und Kunstproblemen auseinanderzusetzen oder sich auf einem dieser Gebiete selbst zu betätigen". (ROSE AUSLÄNDER: Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. von H. Braun. Frankfurt am Main 1991, S. 8-10)

Mißt man also die erschienene Anthologie an solch einem Maßstab, so erwartete man von ihr eine geistige Raffinesse und einen ästhetischen Genuß von höchster künstlerischer Prägnanz. Befriedigt sie nun diese Erwartungen? Die Idee einer beliebigen Anthologie besteht darin, charakterische Beispiele einer literarischen Entwicklungsperiode oder einer bestimmten geographischen Region, typische Exempel von nationalen oder sprachlichen Eigenschaften, Formen, poetischen Gattungen usw. zu sammeln, was auch der Etymologie dieser griechischen Bezeichnung entspricht (Anthologie: Blumen-, Blütenlese). Wenn aber in den meisten Fällen eine Anthologie vorwiegend die Schnittfunktion erfüllt, d.h. eine Vorstellung von den Meisterleistungen auf einem bestimmten Gebiet der literarischen Szene wiedergibt, so bekommt eine Anthologie der relativ leicht übersehbaren Dichtung der Bukowina noch eine zusätzliche Funktion, die hier beinahe die wichtigste ist: sie soll diese Lyrik für die Nachkommenden aufbewahren, sie dem Vergessen entreißen. Angesichts des Zustandes, dass diese Dichtung für ihre Entfaltung nur über wenige Möglichkeiten verfügte, da sie weder ein entwickeltes Verlagswesen noch eine breitere Leserschaft hatte, bleibt das anthologische Prinzip beinahe >ontologisch< — als einzige Chance, dass die in Manuskripten oder in verschiedenen Tageszeitungen verstreuten Gedichte ihre Schöpfungszeit überleben. Das erklärt auch den ständigen Hang der Bukowiner Dichtung zur Anthologisierung, und so ist auch die vorliegende Sammlung bei weitem nicht der einzige Versuch solcher Art.

 >Habent sua fata libelli< — pflegten die alten Römer zu sagen, und das trifft auf das rezensierte Buch ganz und gar zu. Schon 1864 erschien in Czernowitz die erste Kostprobe deutscher Lyrik unter dem Titel Buchenblätter: Dichtungen aus der Bukowina, herausgegeben von Wilhelm Capilleri, einem Schauspieler und Dichter aus Salzburg, der einige Jahre in der Bukowina wirkte. Sie enthielt 118 Gedichte von 15 Dichtern. Ihr schlossen sich dann weitere Folgen von Buchenblättern an, gedacht als Jahrbücher für deutsche Literaturbestrebungen in der Bukowina (1870, 1871, 1932), deren Inspiratoren Karl Emil Franzos, Johann Georg Obrist, Alfred Klug und Franz Lang waren. Zwar trugen diese Ausgaben den Stempel eines unüberbrückbaren Provinzialismus und konnten nur mit einem lokalen Erfolg rechnen. Der binnendeutsche Leser konnte von dieser Landschaft erst nach dem Erscheinen des von Erich Singer im Leipziger Xenien Verlag herausgebrachten schmalen Bändchens Bukowiner Musenalmanach (1913) ein wenig Notiz nehmen, obwohl seine Bedeutung als Anthologie ziemlich gering war, da es nur fünf Autoren enthielt.

Profundere anthologische Projekte entstanden erst in der Zwischenkriegszeit seit der Mitte der dreißiger Jahre und können als Vorstufen zu dem vorliegenden Band betrachtet werden. Gemeint sind die Bemühungen des unermüdlichen geistigen Anregers und Förderers des Bukowiner Schrifttums Alfred Margul-Sperber und seines Freundes Alfred Kittner. Ihnen ist die Idee einer großangelegten Anthologie deutschsprachiger jüdischer Dichtung aus der Bukowina zu verdanken, die den Titel Die Buche tragen sollte. Der Versuch, solch eine Anthologie 1937/38 im Schocken Verlag Berlin herauszugeben, scheiterte, da in Deutschland die Nationalsozialisten an der Macht waren. Die Herausgeber versuchten es weiter, es entstanden noch zwei weitere Fassungen der Buche-Gedichtsammlung, die letzte offensichtlich bereits in Bukarest nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das Buch erblickte aber nicht das Licht der Welt, trotz der beispiellosen Beharrlichkeit beider Enthusiasten. — Hingegen erschien 1939 im Stuttgarter Eugen Wahl Verlag das von Alfred Klug herausgegebene >völkische< Bukowiner Deutsche Dichterbuch, in dem bereits kein jüdischer Autor vertreten war, obwohl der Band etwa 300 Seiten zählte.

Alfred Margul-Sperber war es nicht mehr beschieden, seine Idee auszuführen. Alfred Kittner, der nach dem Tode Sperbers die wichtigste Integrationsfigur der Bukowiner Dichtung blieb, veröffentlichte 1971 in der deutschsprachigen Bukarester Zeitschrift Neue Literatur (Nr. 11/12) eine größere Auswahl der Bukowiner Lyrik unter dem Titel Verhallter Stimmen Chor. Gedichte aus der Bukowina, worin er 37 Dichter aufnahm (die meisten sind nur mit einem oder zwei Gedichten vertreten). Mit dem großen Anthologieprojekt musste er auf günstigere Zeiten warten. Inzwischen erschien 1991 in der Reihe "Insel-Bücherei" ein schön ausgestatteter Band mit dem Titel Fäden ins Nichts gespannt. Deutschsprachige Dichtung aus der Bukowina, herausgegeben vom Leipziger Germanisten Klaus Werner (siehe dazu: Mnemosyne, 1992, H. 12, S. 47-49). Der Herausgeber stellt 22 Dichter aus der Blütezeit der Bukowiner Lyrik vor, die zumindest einen veröffentlichten Gedichtband (in vielen Fällen doch aber mehrere) nachweisen konnten. Dieses Kriterium ist zwar nicht einwandfrei, weil nicht unbedingt die Publikation der Gedichte ihren künstlerischen Wert bestimmt. Zum erstenmal aber seit 1939 hat man hier die deutschsprachige Lyrik der Bukowina im gesamtdeutschen Raum zugänglich gemacht. Man kann vermuten, dass das Erscheinen dieses Buches dem Dichter Alfred Kittner wiederum Zuversicht und neue Impulse gab, um sein lang ausgetragenes Anthologieprojekt schließlich zu verwirklichen. Leider konnte er sich desselben nicht mehr erfreuen: der Anthologieband erschien posthum und wurde von Amy Colin redigiert, eingeleitet und mit einem aufschlussreichen Apparat versehen.

Die Versunkene Dichtung der Bukowina. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik ist in vieler Hinsicht eine besondere Leistung. Sie ist die umfangreichste Auswahl deutscher Dichtung des Buchenlandes von ihrer Entstehungszeit bis 1990. Der Band umfasst über 400 Gedichte von 78 Autoren. Das Werk war nicht die Sache einiger Monate oder Jahre — mehr als ein halbes Jahrhundert dauerte diese zeitraubende, Anstrengung und Geduld fordernde Anhäufungs- und Sortierungsarbeit, die Alfred Kittner als Andenken an Margul-Sperber und als seine eigene Pflicht verstand. Tausende von Gedichten wurden im Laufe dieser Zeit durchsiebt, in aller Welt verstreute Texte sorgsam gesammelt und klassifiziert. Nicht nur Dichter vom Format eines Isaac Schreyer, Heinrich Schaffer, Viktor Wittner, Alfred Margul-Sperber, Georg Drozdowski, Rose Ausländer Alfred Kittner, Alfred Gong, Immanuel Weißglas oder Paul Celan, deren Gedichte weit bekannt sind, kommen in diesem Buch zu Wort, sondern viele Dichternamen, die kaum je ins Blickfeld der Bukowina-Forschung gelangten, wie z.B. Verse von Moritz Paschkis, Eleazar Ladier, Adalbert Paul, Josefine Kanel, Gerty Rath, Louis Hafner u.a.

Noch breitere quantitative Horizonte legt der von Amy Colin zusammengestellte biographisch-bibliographische Teil dieser Gedichtsammlung, in dem über 100 Lebensläufe der Bukowiner Dichtung samt ausführlichen Werkbibliographien, Sekundärliteratur und Gedichtnachweisen enthalten sind. Eigentlich kann dieser Teil als kleines Dichterlexikon der Bukowiner Literatur für alle Interessierte dienen. Solch ausführliche Quellenangaben sind sonst nirgends mehr zu finden, abgesehen von den bibliographischen Arbeiten Erich Becks (Bibliographie zur Landeskunde der Bukowina. München 1966, und Bibliographie zur Kultur und Landeskunde der Bukowina. Dortmund 1985). Auch der chronologische Bogen dieser Anthologie ist weit gespannt. Das Buch wird von dem ersten in der Bukowina auf Deutsch geschriebenen Dichterzeugnis, einem Kirchenlied des pfälzischen Pfarrers Stefan Daniel Wilhelm Hubel eröffnet, der 1791 vor den Kriegswirren in den deutschen Landen in die Bukowina flüchtete. Das Kirchenlied ist mit Im kriegerischen Klageton betitelt und wurde am 11. Oktober 1792 bei der Einweihung der neugebauten evangelischen Kirche gesungen. Für die deutschsprachige Literatur der Bukowina ist es der Anfang aller Anfänge, so ungefähr wie die Meresburger Zaubersprüche oder das Wessobrunner Gebet für die gesamtdeutsche Literatur. Einer der letzten Texte der Anthologie, das Gedicht des in Jerusalem lebenden Manfred Winkler Mitten im hymnisch-roten Gebet stammt aus dem Jahre 1990. Also rund zwei Jahrhunderte Bukowiner deutschsprachige Dichtung umfasst die vorliegende Anthologie, und man verfolgt auch in der historisch aufgebauten Architektonik des Bandes die wichtigsten geschichtlichen Tendenzen der Zeit: von den romantischen Landschafts-, Liebes- und Heimwehgedichten in klassischer Strophenform zu den modernistischen Gefügen in freien Rhythmen mit den elliptischen, suggestiven Bildstrukturen. Für ein winziges Land, in dem mehrere nationale literarische Bewegungen und Strömungen zuhause waren, und in dem auch Deutsch nicht immer die dominierende Stellung einnahm, war diese Ununterbrochenheit der Entwicklung nicht leicht zu erreichen. Beim Aussieben der Texte scheinen die Herausgeber den Brief von Rose Ausländer an Alfred Margul-Sperber aus dem Jahre 1932 vor ihren Augen gehabt zu haben, in dem die damals noch junge Dichterin, auf eines der früheren Anthologieprojekte eingehend, schrieb: "Aber mit dieser Anthologie wird mehr geplant, sie soll eine ganz andere literarische Physiognomie haben - alles Durchschnittliche und Kitschige soll möglichst ausgeschaltet werden, nur Sachen von echtem dichterischen Wert sollen Eingang finden." (zit. nach In der Sprache der Mörder. Eine Literatur aus Czernowitz, Bukowina. Ausstellungsbuch. Hrsg. von Ernest Wichner und Herbert Wiesner, Berlin 1993, S. 186).

Dass die >Physiognomie< der vorliegenden Ausgabe unverwechselbar ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass hier zum erstenmal die ganze multinationale Bukowina zu Worte kommt — nicht nur Deutsche und deutschsprachige Juden, sondern auch der Ukrainer Jurij Osyp Fedkowicz, die Rumänen Janko und Theodor Lupul oder Ionel Kalinczuk. Eben darin zeigt sich der echte Geist der Bukowina, und in diesem Sinne sprach im Bukowiner Landtag der erste Rektor der Czernowitzer Universität, Dr. Constantin Tomasczuk, als er betonte: >Wehe der Nation, die sich fürchten musste vor dem Einfluss fremder Kultur. Diese hat sich selbst das Todesurteil gesprochen<. Diese Worte könnten als Wappenschild über der kulturellen Bühne der Bukowina von jeher hängen. Darum nimmt es uns nicht wunder, wenn wir im brilliant geschriebenen Nachwort Alfred Kittners lesen, dass in dem Elternhause eines seiner Jugendfreunde vier Gipsköpfe der Nationaldichter der vier wichtigsten die Bukowina bewohnenden Volksgruppen >thronten<: des Deutschen Friedrich Schiller, des Ukrainers Taras Schewtschenko, des Polen Adam Mickiewicz und des Rumänen Mihai Eminescu.

Natürlich stößt man auch in der vorliegenden Anthologie auf stärkere und schwächere Texte — in einer Sammlung von solch einem Umfang ist dies fast unvermeidlich — keiner davon steht aber unter dem Niveau der ästhetischen Kritik, obwohl sehr viele Gedichte auf Manuskripten und Typoskripten fußen und Erstdrucke sind. Manchen Leser wird es wundern, dass einer der 'bodenständigsten' Vertreter dieser Dichtung, der letzte seiner Generation, Moses Rosenkranz, merkwürdigerweise 'herausgefallen' ist. Dass es nicht die Schuld der Herausgeber ist, zeigt das "Verzeichnis der Dichter und Gedichte" (S. 32), woraus ersichtlich ist, dass Rosenkranz mit 21 Gedichten vertreten sein sollte, aus irgendeinem Grund wurden aber diese Gedichte in die Anthologie nicht aufgenommen, wahrscheinlich entzog der Dichter im letzten Moment seine Autorenrechte. Zweifelsohne ist das ein spürbarer Nachteil der Anthologie. Anstatt der Gedichte von Moses Rosenkranz finden wir Verse von Norbert Feuerstein, Jakob Schulsinger und Erwin Chargaff, die die Qualität dieser Sammlung nicht verringern.

Die Auswahl der Gedichte, die hauptsächlich von Alfred Kittner getroffen wurde, ging nicht nur von der Bedeutung der Dichter im Bukowiner literarischen Prozess aus, sondern auch davon, ich welchem Maße dieser oder jener Lyriker mit seinem Werk schon vorher dem Lesepublikum vorgestellt wurde. Daher sind manche Dichter, die bereits in früheren Anthologien figurierten, weniger berücksichtigt als jene, deren Gedichte erst in dieser Ausgabe repräsentiert sind. Das bezieht sich z.B. auf Silvius Hermann, Lotte Jaslowitz, Johann Kaufmann, Alfred Klug, Josef Kunz, Tina Marbach, Gustav Adolf Nadler, Johann Georg Obrist, Friedrich Sauerquell u.a., über die wir zwar bio-bibliographische Angaben finden, aber keine Gedichte von ihnen lesen können. Einerseits scheint solch ein Verfahren berechtigt zu sein, andererseits aber bleibt ein recht großer Teil der in der Bukowina entstandenen Dichtung außerhalb der Anthologie.

Leider ist auch der wissenschaftliche Apparat, insbesondere in seinem bio-bibliographischen Teil, trotz aller Bemühungen Amy Colins, sich nur auf >mehrfach überprüfte Informationen< zu stützen, nicht einwandfrei. Da sind manche Fehler faktischer Art sowie Verballhornungen einzelner Namen und Begriffe unterlaufen. So irrt sich z.B. die Verfasserin, wenn sie im Zusammenhang mit Klara Blum Lion Feuchtwanger und Brecht als Herausgeber der in Moskau erschienenen antifaschistischen Zeitschrift Internationale Literatur nennt, da diese Zeitschrift unter der Leitung von Johannes R. Becher stand. Was die Zeitschrift Das Wort betrifft, so müsste hier zu den beiden vorhin genannten noch der Name Willi Bredels hinzugefügt werden. Es gibt noch immer keinen Gedichtband von Klara Blum in russischer Übersetzung, die Rede kann hier nur von einzelnen Gedichten aus dem in Moskau 1955 in russischer Sprache herausgebrachten Buch Deutsche demokratische Dichtung 1914-1954 sein (S.352). Der Band von Johanna Brucker ... schaut dir ein Geheimnis Gottes entgegen ist keine Prosa, sondern Lyrik (S. 353) und Georg Drozdowskis Buch Odyssee XXX. Gesang dagegen keine Lyrik, sondern ein Hörspiel (S. 359). Der deutsche Maler und Schriftsteller, ein Freund des jungen Jurij Osyp Fedkowicz, hieß nicht Rotkegel, sondern Rudolf Rotkähl (S. 361). Fedkowicz selbst war nie Leiter des ukrainischen Theaters in Lemberg, als Schulinspektor gab er keine Grammatik der ukrainischen Sprache, sondern eine Fibel und ein Lesebuch für ukrainische Kinder heraus. Sein Theaterstück ist nicht Jurko Dowbusch, sondern Dowbusch, oder Donneraxt und Kurpfuscherkreuz betitelt (gemeint ist der berühmte huzulische Räuberhauptmann des 18. Jahrhunderts Olexa Dowbusch). Die Versdichtung Alexander Dobosch von Ludwig Adolf Simigionwicz-Staufe, die dieselbe historische Persönlichkeit aufgreift, verarbeitet nicht Motive aus rumänischen, sondern aus ruthenischen (ukrainischen) Volkssagen (S. 399). Seine erste Gedichtsammlung war Die Hymnen (1850) und nicht Heimatgrüße aus Niederösterreich (1856), wie es auf S. 399 behauptet wird, und in der Tradition der 'Neuen Sachlichkeit' steht neben Erich Kästner natürlich nicht Franz, sondern Walter Mehring (S. 400). Große Verwirrung herrscht manchmal auch in der Datierung der Entstehungs- und Erscheinungsjahre vieler Werke, wobei es kein einheitliches System gibt. Auch auch einfache Druckfehler entstellen zuweilen den Sinn bis zur Unkenntlichkeit, was zu logischen Verdrehungen führen kann (z.B. beim Titel des Gedichtbandes von Ernst Rudolf Neubauer — Schiff und Weide anstatt Schilf und Weide, S. 391).

Auf keinen Fall verfolgen diese kritischen Bemerkungen den Zweck, den Wert dieser langerwarteten Ausgabe zu verringern, da es jedem, der ein wenig Einblick in die Geschichte der Bukowiner Literatur gewinnen konnte, klar ist, welch enorme und fachkundige Arbeit der Herausgeber dahintersteckt, so dass jeder echte Literaturfreund für diese beispiellose Sammlung zutiefst dankbar sein soll. Die oben angeführten Einwände, die sich nicht auf das allgemeine Konzept des Buches, sondern auf einzelne Versehen beziehen, mögen bei einer zweiten Auflage des Bandes berücksichtigt werden.

Vom heutigen Standpunkt aus ist die deutschsprachige Literatur der Bukowina historisch ein völlig abgeschlossenes Kapitel, wie z.B. die Literatur des alten Griechenlands oder Roms. Man dichtet jetzt in Czernowitz auf ukrainisch, auf russisch, auf rumänisch, sogar Jiddisch hat in der Gestalt seines letzten Statthalters, Josef Burg, ein Stück geistigen Bodens untern den Füßen behalten. Deutsch wird in der Bukowina, abgesehen von ein paar alten Czernowitzern, nicht mehr gesprochen, geschweige denn geschrieben, weil fast alle Bukowiner Deutschen noch 1940 nach dem Ribbentrop-Molotow-Pakt >heim ins Reich< zwangsweise übersiedelt, und die deutschsprachigen Juden, auf deren intellektuelles Potential sich diese Literatur hauptsächlich stütze, im Holocaust vernichtet worden waren. Die Überlebenden wanderten dann nach 1945 aus, so dass ihre Wohnsitze von Bukarest bis New York und von Düsseldorf bis nach Jerusalem reichen, aber auch die meisten von ihnen sind nicht mehr am Leben. Wir, die wir heute dieses merkwürdige Buch zur Hand nehmen und >verhallter Stimmen Chor< wieder lauschen, müssen diese traurige Tatsache stets im Auge behalten, denn erst im Bewusstsein des unvergänglichen Verlustes kann man diese von ständiger Bedrohung überschattete, vom dunklen, wehmütigen, östlich gefärbten Tonfall durchdrungene Lyrik lesen, deren Dichter von sich mit den Versen Rose Ausländers sagen könnten:

Das Erbe

Wo in der österreichlosen Zeit
wächst mein Wort
in die Wurzeln

Ans Buchenland
denk ich
        entwurzeltes Wort
        verschollene Vögel

"Verschollene Vögel" kehren noch manchmal zu ihren alten Nestern zurück. Ein entwurzeltes Wort wird nie mehr Keime schlagen.