Heimkehr nach Tschernopol
Gregor von Rezorri
Der Beitrag erschien im Diners Club Magazin, Heft 6, Dezember 1990. Mit diesem Heft wurde die Zusammenarbeit von Diners Club Austria mit dem Verlag Orac, Herbert Völker beendet. Text: Gregor von Rezzori (* 13. Mai 1914 in Czernowitz; † 23. April 1998 in Donnini) Fotos Manfred Klimek. Seit 1991 gehört die Stadt Tscherniwzi wieder zur Ukraine.
Ich wurde geboren zu Czernowitz, der ehemaligen Hauptstadt des ehemaligen, zum cisleithanischen Teil der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie gehörigen Herzogtums der Bukowina, ein östlicher Landstrich längs der aus der Tatra auslaufenden Waldkarpaten, der 1775 als Entgelt für die Vermittlung im russisch-türkischen Krieg vom ehemaligen Reich der Ottomanen ans ehemalig kaiserlich-königliche Österreich-Ungarn abgetreten und zunächst dem ehemaligen Königreich Galizien zugeordnet gewesen, nach 1848 jedoch eines der selbständigen ehemaligen Kronländer des Hauses Habsburg geworden war. Bis auf die Stadt, deren Name im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung einige Veränderung erfahren hat – von Cernowitz über Cernăuți zum heutigen Czernowce – ist alles ehemalig, das heißt: nicht gegenwärtig, nicht eigentlich vorhanden, was meinem Geburtsort die Aura des Sagenhaften, also des Irrealen verleiht. Es erweist sich als müßig, dieses mythenhafte Zwielicht historisch aufzuhellen. Daß die ehemalige k. u. k. Monarchie seit 1918 nicht mehr besteht, dürfte sich herumgesprochen haben; gleichwohl tat man im ehemaligen Czernowitz, nun Cernăuți, als glaubte man nicht recht daran. Deutsch war immer noch die allgemeine Umgangssprache, Wien, die nächstliegende Metropole, der man den Rang der Hauptstadt nicht absprechen wollte. Zwar war die Realität so “shakespearescher” Königreiche wie Galizien und Lodomerien fragwürdig geworden; trotzdem sprach man davon, als gäbe es sie immer noch, obwohl sie seit 1940 nicht mehr besteht. Vom Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie bis damals hatte sie dem ehemaligen Königreich Rumänien zugehört, eine Zeitspanne, in welche mein Heranwachsen vom Kind zum Adoleszenten fiel. Das Heranreifen zum Mann vollzog sich anderswo.
Damals von 1919 bis 1940, herrschten die Rumänen mit einer Selbstgewißheit, die sich auf die Behauptung stützte, die Bukowina sei seit den Daciern rumänisches Urland, was angezweifelt werden kann. In Czernowitz, nunmehr auf rumänisch Cernăuți, nahm man sich nicht die Mühe, es in Frage zu stellen. Man sah im rumänischen Zwischenspiel kaum mehr als eine Umkostümierung der ohnehin operettenhaften Staffage. Die Uniformen österreichischer Ulanen waren von denen rumänischer Rosiori abgelöst, bei Infanteristen schaute man sowieso nicht genauer hin, der Unterschied war nicht gewichtiger als im Stadttheater der Szenenwechsel von der “Gräfin Mariza” zum “Zigeunerbaron” und schließlich zum “Bettelstudenten”. Es dauerte kaum mehr als zwei Jahrzehnte, bis der ehemalige schwarzgelbe Anstrich an Mautbalken und Türflügeln von Tabaktrafiken blau-gelb-rot überpinselt und der Doppeladler auf den Giebeln öffentlicher Gebäude durch das Staatswappen des Königreichs Rumänien ersetzt war; dann schon 1940, gilbte dort der Sowjetstern, Cernăuți wurde zu Czernowece, und die Bukowina war ehemalig geworden, es gab sie nominell nicht mehr. Durch einen Staatsvertrag zwischen dem ehemaligen Dritten Reich und Rußland, der sich souverän über die Legende vom rumänischen Dacierland hinwegsetzte, war sie zweigeteilt worden. Das Gebiet südlich des Sereth wurde mit der Moldau der heutigen rumänischen Volksrepublik vereint, der nördliche Teil mit Czernowitz der Sowjetrepublik Ukraine zugesprochen. Damit war das nunmehrige Czernowce auch keine Hauptstadt mehr, denn die Hauptstadt der Ukraine ist Kiew.
Immerhin steht fest, daß ich in Czernowitz, wenn auch im vor-rumänischen, im ehemaligen österreichischen, geboren bin, und auch das dürfte sich herumgesprochen haben. Es steht zu lesen in Kurzbiographien auf den Waschzetteln verschiedener Bücher aus meiner Feder und sogar – wenngleich nicht unbedingt löblich – in einigen Literaturgeschichten der Nachkriegszeit, sowie in Nachschlagewerken, welche die Aufnahme in die Namensliste prominenter Zeitgenossen nicht gerade abhängig machen vom Bezug mehrerer kostspieliger Exemplare, aber den Ankauf so dringlich nahelegen, daß man vermuten muß, sie werde bei Weigerung nicht erfolgen. Vor dieser Bekanntgabe meiner Herkunft, die ich nun leider nicht verleugnen kann, pflegte ich, wenn ich danach gefragt wurde, mit der Antwort zu zögern. Die Gründe dafür waren zweierlei: Erstens, weil die Angabe, aus Czernowitz zu stammen, ein kaum jemals unterdrücktes “Aha!” zur Folge hat. Das beschränkt sich nicht auf den Großraum der ehemaligen k. u. k. Monarchie, in dem der Name Czernowitz einen festen Begriff darstellt: auch in weniger epochenverschleppenden Regionen scheint man Czernowitz zu kennen, als den Schauplatz der meisten galizanischen Judenwitze und die Brutstätte eines Menschenschlags von unverwechselbarer Prägung. Meine Heimatstadt hat Weltruhm erworben als Schmelztiegel eines guten Dutzends von ethnischen Gruppen, Sprachen, Glaubensbekenntnissen, Temperamenten und Lebensgewohnheiten, wo sie zum Amalgam eines quintessentiellen Schlawinertums ausgebrodelt und sublimiert wurden. Wieweit die Zugehörigkeit als Vorzug aufgefaßt werden kann, steht dahin. Ich habe mich mein Leben lang bemüht, das Bestmögliche daraus zu machen. Dem Lyriker Celan, der gesagt hat, es sein ein Ort gewesen, an dem Menschen und Bücher lebten, ist Besseres gelungen.
Der zweite Grund für ein gewisses Zögern, wenn ich zugeben soll, daß ich ein Czernowitzer bin, ist wieder zweifach. Von den siebeneinhalb Jahrzehnten meines Erdendaseins war ich knapp das erste dort. Nach meinem neunten Lebensjahr bin ich nur noch sporadisch hingekommen – ich will gleich sagen: Leider, denn es gab viel zu lernen in Czernowitz. Das letztemal war ich dort mit zweiundzwanzig, 1936, also vor vierundfünfzig Jahren. In einer solchen Zeitspanne verwischt sich die ursprüngliche Prägung. Entscheidend aber hat zur Entfremdung das zunehmend Ehemalige und Irreale meiner Herkunft beigetragen. Es klingt, als hätte ich Czernowitz erfunden – und damit mich selbst.
Nun verhält es sich tatsächlich so, daß ich mein Czernowitz erfunden habe. Sieht man ab von den “Maghrebinischen Geschichten”, die ich nicht hätte schreiben können, wäre ich nicht dort geboren und – wenn auch nur zeitstreckenweise – dort aufgewachsen, so spielt die Stadt eine schicksalhafte Rolle in drei anderen meiner Bücher “Ein Hermelin in Tschernopol”, nebensächlich in den “Denkwürdigkeiten eines Antisemiten” und wieder schicksalsträchtig in einer weitgehend autobiographischen Darstellung der Protagonisten meiner Kindheit mit dem Titel “Blumen im Schnee”. Mit alledem habe natürlich nicht Reiseführer durchs konkrete Czernowitz-Cernăuți-Czernowce schreiben sollen, sondern Schilderungen eines mythenhaften Topos. Besonders im Roman, in dessen Titel ja der Name Tschernopol darauf hinweist, daß es sich um eine literarische Überhöhung handelt, diente mir die Erinnerung an die Stadt meiner Kindheit sozusagen als Knochengerüst für die Modellierung des mythischen Schauplatzes einer mythenhaften Handlung. Denn es ist der Roman einer Kindheit, und in der Kindheit ist alles mythenhaft. Das gilt auch für die Schilderung der Stadt in “Blumen im Schnee”, obwohl der deklariert autobiographische Charakter dieses Buches mich verpflichtet hat, das Tatsächliche – oder jedenfalls das Effektive – so wahrheitsgetreu zu beschreiben, wie ich es in Erinnerung hatte.
Bekanntlich aber ist die Erinnerung nicht unbedingt zuverlässig. Sie wählt willkürlich aus, was sie behalten will, schiebt weg, was ihr nicht behagt, rückt das Emotionelle in den Vordergrund, verklärt und verzerrt. Absichtlich sowohl wie unabsichtlich habe ich so zur Entwirklichung meines Herkunftsorts beigetragen und damit seiner – und wiederum damit meiner – ohnehin legendären Windigkeit auch noch den Nimbus des Unglaubwürdigen verliehen.
Das ficht mich wenig an, soweit es um die ethische Frage der Wahrheitstreue geht. Ich bin ein Schriftsteller und habe als solcher nicht nur das Recht, sondern geradezu die Verpflichtung, die Wirklichkeit bis hart ans Unglaubwürdige zu überhöhen. Wer aber wie ich, um das zu erreichen, beständig das Autobiographische heranholt, es paraphrasiert und variiert, fiktiv und hypothetisch einsetzt, der läuft Gefahr, sich selber auf den Leim zu gehen – das heißt: bald selbst nicht mehr zu wissen, was real und was irreal ist. Das geht übers Moralische hinaus. Es nähert sich bedenklich der Schizophrenie.
Weil ich ein gewissenhafter Mensch bin, habe ich mich auf das Abenteuer eingelassen, mein erfundenes Tschernopol mit dem in Czernowce tatsächlich weiterexistendieren Czernowitz zu konfrontieren. Ein um so kühneres Unternehmen, als ich ja nicht nur mir selbst, sondern auch meiner mythischen Heimatstadt mehr als ein halbes Jahrhundert Zeit gelassen hatte, sich ins Unvorhergesehene zu entwickeln. Natürlich mußte ich voraussetzen, daß das ukrainische Czernowce, vom Mischmasch aus Volksdeutschen, Rumänen, Polen, Russen, Juden, Ungarn, Slowaken und Armeniern reingefegt, nicht mehr das Czernowitz beziehungsweise Cernăuți sein konnte, das ich 1936 zum letztenmal betreten hatte. Desgleichen, daß das hybride Wachstum, das alle Siedlungen in aller Welt zum Auswuchern gebracht hatte, nicht auch Czernowce befallen haben sollte – dieses Chamäleon unter den Städten, das der Heimatdichter Karl Emil Franzos um 1890 als ein “Huzulendorf mit pseudo-byzantinischen, pseudo-gotischen und pseudo-maurischen Bauten”, wenig später als eine “Schwarzwald-Idylle” und schließlich als “Klein-Wien” beschrieben hatte: daß also mancherlei, was ich in Erinnerung behalten hatte, im Trend des pseudo-amerikanischen und pseudo-russischen Zukunftsgestaltungswillens niedergerissen, von Baggern ausgehoben und unter Tonnen von Eisenbeton verschwunden sein mochte. Solcherlei Entwicklung lief nicht dagegen, daß die Hauptstadt der nicht mehr existierenden ehemaligen Bukowina ein Provinznest der Sowjet-Union geworden war, in dem mir vermutlich an allen Winkeln die Verwahrlosung entgegentreten würde. Nichts von alledem war – zunächst – der Fall.
Ich fand mich vor in meinem Czernowitz, dem rumänischen Cernăuți zwischen zwei mörderischen Kriegen, als wäre ich nie weggewesen, ein Rip van Winkle, der sich den Schlaf aus den Augen reibt, ohne – zunächst! – wahrzunehmen daß es ein Schlaf von einem (für mich allerdings nur halben) Jahrhundert gewesen war. Um mich her stand alles an seinem Platz, genau so, wie ich es vor vierundfünfzig Jahren verlassen hatte. Nichts fehlte – auf den ersten Blick. Nur der zweite offenbarte winzige Veränderungen. Anders war, zum Beispiel, daß überall an beiden Straßenseiten Bäume gepflanzt waren. Sie prangten in jungem Grün, und das rückte die Stadt zusammen, machte die Straßen, Gassen und Gäßchen enger, gleichzeitig freundlicher, gewissermaßen kurorthaft. Es war ein Czernowitz, dem ich Abbitte tun mußte für meine skeptische Erwartung. Nichts war schmierig oder lotterig. Die Häuser waren frisch gestrichen, in einem kaiserlich-österreichischen Dottergelb, das abwechselte mit einem kaiserlich-russischen Erbsengrün. Das Pflaster war reingegefegt – dasselbe von Gummireifen der Fiaker blankpolierten Kopfsteinpflaster und dieselben Steinplatten der Gehsteige, über die meine Kinderschuhe hingetrippelt und die glatten Sohlen meiner ersten Tango-Versuche den Schönen auf dem Corso der Herrengasse nachgeglitten waren; und wohltätigerweise waren die Straßen auch heute noch frei von den blechernen Metastasen geparkter Autos. Der spärliche Verkehr rieselte ohne Stau und Stand und Getöse, beinah geräuschlos ab. So fehlten denn auch einige von damals her vertraute Geräusche. Es fehlte das rüde “Hoop!”, mit dem die jüdischen Fiakerkutscher achtlose Passanten vor ihren Gäulen weggescheucht, und es fehlte das schwirrende Gschilpe der Spatzenschwärme, die überall auf die reichlich niederfallenden, feucht dampfenden Roßäpfel gelauert hatten. Die Fiaker waren verschwunden, und es fehlte auch die elektrische Straßenbahn, deren eigenwillig funktionierende Bremsen der Anlaß zu mancher heillosen Verwirrung im Straßenverkehr gewesen waren. Wendige Trolleybusse schlängelten sich entlang der eingeebneten Schienen, in denen dereinst die vergilbt rot-weiß-roten, schmalfenstrigen, wie große Spielzeugschachteln auf den kleinen Eisenrädern schwankenden Wagen nach tapferer Überwindung des Steilhangs zum Pruth-Tal vor dem Rathaus auf dem Ringplatz aufgetaucht waren und starrsinnig bimmelnd und in den Biegungen kreischend die Stadt bis über den Volksgarten hinaus durchquert hatten. Es fehlte das Gezänk der Dohlen in den Akazien vor der Landesregierung und um die Zwiebeltürme der Metropoliten-Kathedrale und das Rattern der Leiterwagen, auf denen die Bauern aus den umliegenden Dörfern zum Markt gekommen waren, ihr Schnapsgeruch und das klirrende Trappeln ihrer schlecht beschlagenen ruppigen Panjepferdchen. Die Akazien waren auf italienische Weise gestutzt, und die Bauernkarren von den Lastkraftwagen der Kolchosen ersetzt, das machte das Stadtbild adretter und gleich auch ein wenig steril.
Ich kam nicht aus dem Staunen. Das war ganz unbzweifelbar, greifbar konkret und wirklich das Cernăuți meiner Kindheit – und war doch wieder nicht das Czernowitz, das ich ein halbes Jahrhundert visionär in mir getragen hatte: die Steppenstadt Tschernopol, der mythische Schauplatz mythenhafter Geschehnisse. Es war das Inbild einer provinziell behäbigen, hellen, sauber gehaltenen und immer noch unverleugbar kakanischen Provinzmetropole, phänotypisch eine ehemalige Landeshauptstadt aus dem östlichsten Bereich der ehemaligen Doppelmonarchie, umflort noch von einem Schimmer deren dereinstiger Glorie. Vernünftig angelegte Straßenzüge präsentierten baukünstlerisch wohlgemeinte, aber anspruchslose Fassaden von Bürgerhäusern aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts und dessen Wende ins zwanzigste, und auch stilistische Extravaganzen hielten sich in der Mittelmäßigkeit der Epoche. Die neo-gotischen Türme der katholischen, die pseudo-byzantinischen Kuppeln der orthodoxen, die pseudo-maurischen Zinnen der armenischen Gotteshäuser (einzig der prunkvoll neo-assyrische Tempel der Juden war, wie ich hören sollte, seit der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg zerstört) überragten urban die gleichmäßig hohen Dächer, und gleicherweise gemessen überbot die Neo-Renaissance von staatlichen Verwaltungsgebäuden und die Pseudo-Klassizistik der Garnisonskasernen die Übergänge der Gründerzeit-Architektur zum gezähmten Jugendstil. Alles das war eingebettet ins frische Grün der neubepflanzten Alleebäume.
Das war für mich ein Sturz ins Irreale. Ich durfte meinen Sinnen nicht mehr vertrauen. Die Stadt vor meinen Augen war Stein für Stein dem legendären Czernowitz nachgebaut, so wie ich es in meinem Tschernopol beschrieben hatte. Aber ihr überwältigendes Jetzt-und-Hier war seelenlos. Sie war gewissermaßen aus ihrer Weltzeit herausgenommen. Nicht in der Entwicklung stehen geblieben, sondern sozusagen darüber hinaus zurückdatiert. Dieses gegenwärtige Czernowce war eine Verleugnung des Cernăuți zwischen den beiden Weltkriegen und sogar des altösterreichischen Czernowitz vor dem Ersten. In seinem äußerlich unveränderten Bestand hattes es sich in eine provinziell idylles Belle-Epoque zurückversetzt, ein Gründerzeit-Traum von sich selbst, nur freilich ohne den Geist und das Leben der Epoche. Es war die Theaterdekoration für ein Schauspiel, das nie aufgeführt worden war, ein Widerspruch in sich: ein reingefegtes, gelecktes und gelacktes, keimfreies Tschernopol. Nichts war zu spüren von dessen Dämonie. Unerfindlich, was dem niedlichen Provinzhauptstadt-Modell, als das Czernowce im Jahre 1989 sich darstellte, die Wachheit, die helle Intelligenz, die scharfäugige Beobachtung, die Spottlust, den beißenden Witz von – ja, eben von Czernowitz gegeben haben sollte. Nichts war hier wahrzunehmen von dem quirlig lebendigen, zynisch unverfrorenen und melancholisch skeptischen Geist, der die Kinder dieser Stadt unverwechselbar als Czernowitzer kenntlich und weltweit berühmt gemacht hatte. Und dennoch war’s eine Realität, die ich nicht wegleugnen konnte, und sie war überzeugender als der Mythos, den ich behauptete.
Man hat den Geist von Czernowitz dem nirgendwo anderswo ähnlich anzutreffenden Neben- und Miteinander der Völkerschaften in der Bukowina und dessen gärender Komprimierung in deren Hauptstadt zugeschrieben, der gegenseitigen Befruchtung und Abschleifung, der beständigen Herausforderung dort, der Notwendigkeit, sich anzupassen, rasch aufzufassen, richtig zu reagieren, die vor allem für die Juden eine Lebensbedingung gewesen war. Alles das schien im Jetzt-und-Hier des gegenwärtigen Czernowce hinfällig geworden zu sein. Die ethnische Buntscheckigkeit von ehemals hatte einem durchwegs homogenen Menschenschlag Platz gemacht. Vom unseligen Wechselbalg völkischer Gesinnung, dem fatalen Nationalismus, der doch auch hier, von außen her geschürt, walpurgisnächtliche Urständ gefeiert hatte, waren kaum noch die allegorischen Spuren zu sehen. Verblaßt unter den Wettereinflüssen eines kontrastreichen Klimas, versinnbildlichten an den Fronten des ehemaligen “Deutschen Hauses”, des “Dom Polski” und des ukrainischen “Narodny Dim” die Fresken hehrer Frauengestalten mit entblößten Brüsten und allerlei symbolischen Zubehör wie Schwert, Buch, Leier, Weizengarben, Adlern und erdrosselten Schlangen jugendstilistisch den Geist der jeweiligen Nationalität – jeweils nur eines der Ingredienzien, aus denen der Czernowitz spiritus loci die Grundstimmung einer zynischen Unbekümmertheit um hohe Gesinnungen jeglicher Art zusammengebraut hatte. Ein echter Czernowitzer schaute auch dem Spektakel überschäumender Nationalgefühle mit nicht mehr persönlicher Anteilnahme zu als zu Purim der Maskerade von Gassenbuben.
Aber es war nicht dieser achselzuckende Gleichmut, der zugelassen hatte, daß die Hochburgen chauvinistisch abgebeizter Kleineleutedünkelei so stehen geblieben waren wie man sie vor einem vollen Jahrhundert, in der Blütezeit des völkischen Romantizismus, erbaut und sinnbildträchtig hergerichtet hatte. Neben allen andern, ebenfalls gespensterhaft seelenlos erhaltenen Zeugnissen einer historisch lebhaft bewegten Vergangenheit wirkten sie als einzige vernachlässigt. Ich hatte den Eindruck, sie stünden leer, hinter ihren verschäbigten Fassaden, wie Häuser nach einem rücksichtslos gelöschten Brand, bei dem die Feuerwehr mehr Schaden angerichtet hat als die Flammen. Die Agression, die sie beherbergt hatten, war igendwann einmal zu heftig aufgelodert, und wer sie ausgerottet hatte, war so rigoros verfahren, daß damit auch alle fruchtbare Gegensätzlichkeit, alle Farbigkeit und Spannung des Neben- und Miteinanders von einem Dutzend Nationalitäten vernichtet war.
Ich versuchte, mir eine Szene aus meinem legendären Tschernopol zu rekonstruieren: Aus der “Casa Poporului” tritt ein Jüngling der rumänischen “Junimea” im ärmellosen, bunt bestickten Schafsfelljäckchen, das grobleinene Hemd über den leinenen Hosenröhren straff blau-gelb-rot gegürtet,den Fichtennadelduft der Waldkarpaten in den Locken und im Blick den Stolz des Daciers, den die Kohorten Trajans zwar zu besiegen, nicht aber zu bezwingen vermocht hatten. Zufällig kommt ein farbentragender Bursch der volksdeutschen “Arminia” vorbei, mit steifem Kragen und flotten Stürmer, das Band quer über der Teutonenbrust. Beim Anblick des Rumänen schnaubt er verächtlich durchs Pflaster über seinem frischen Schmiß – womit unmißverständlich bekundet ist, daß er in dem Rumänen einen “prosten Bauern” und potentiellen Widersacher sieht, obwohl sie beide auf der Universität im selben Hörsaal sitzen. Damit ist der Anlaß zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung gegeben. Aber sie werden voneinander abgelenkt durch den Anblick eines chassidischen Rabbiners in schwarzem Kaftan, bleicher Gelehrtenhaut und langen korkzieherhaft geringelten Schläfenlocken unter der Fuchspelzkappe; und unverzüglich sind sie sich einig, daß ihre Angriffslust in ihm ihr eigentliches Ziel gefunden hat. Vorderhand freilich begnügen sie sich mit Spötteleien, obszönen Gesten und nachgerufenen Schmähworten. Vorderhand –: Wir schreiben erst 1930. Das große Signal ist noch nicht gegeben.Es soll bald erfolgen und seine Folgen zeitigen. Heute, im Czernowce von 1990, ist eine Szene jener Art nicht vorstellbar. Sie spukt nur noch in meinem Hirn, nicht mehr in diesen ordentlich gehaltenen Gassen.
Was sich darin vor meinen verwirrt-verwunderten Blicken bewegte, war so durchgehend einheitlich von einem und demselben Schlag, daß gänzlich offensichtlich nichts vorhanden war, was das völkische Eigenwertgefühl hätte provozieren können. Es wanderte zu jeder Tageszeit dahin wie Arbeitervolk, das nach dem Ende der Werkstunden aus Fabriken strömt. Selbst bei gelegentlicher farbiger Ausstaffierung wirkte die Konfektionskleidung im Grundton grau. Auch die Physiognomien waren, wie man so sagt, aus einem Guß: slawisch breitkantig, mit derber Haut und hellem Haar. Es waren Ukrainer – früher nannten wir sie Ruthenen, eine der vielen Minderheiten, wo es gar keine Majorität gab. Im ganzen Bereich der ehemaligen Bukowina hatten sie wenig mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausgemacht, in der Stadt Czernowitz zu altösterreichischer Zeit einen viel geringeren Anteil, noch weniger im rumänischen Cernăuți. Jetzt gab es nur noch sie, die Genossen Volksgenossen der Sowjetrepublik Ukraine, die als das ehemalige Klein-Rußland, vermehrt um das ehemalige Galizien und die nördliche Bukowina, mehr als die Hälfte der europäischen Sowjetunion einnimmt.
Sie unterscheiden sich auch nicht von anderen Russen. Die Frauen waren fast ausnahmslos plump, die Männer untersetzt und schwammig. Ein Volk der Kohlesser, nicht darbend, nicht unzufrieden, zur Gottergebenheit veranlagt, ernst und sittsam. Sehr sittsam, offenbar. Weiblichkeit drückte sich ostentativ in kleinbürgerlicher Mütterlichkeit aus, allerdings auch in einer fatalen Vorliebe für feuerrot gefärbtes Haar. Nur sehr junge Mädchen gingen in Hosen, Halbwüchsige zeigten in der Haartracht Ansätze zur Elvis-Presley-Imitation. Aber das war eher modisch als weltanschaulich. Alles in allem war das keine Wohlstandswelt, es hatte nichts vom Wahnsinn der Verschwendung und Vergeudung unserer spätabendländischen Konsumparadiese. Nichts wurde einem hier aufgeschwätzt; nichts ärgerte durch seinen schundigen Überfluß. Diese Bescheidung wirkte wohltätig, gleichviel, ob sie unfreiwillig war. Ich fühlte mich verschont von Kaufzwang und Verbrauchsnötigung, und vielleicht bewirkte das den trügerischen Eindruck, die Menschen dieser Welt bewegten sich mit der Würde von absichtlich Verzichtenden. Ich mußte unwillkürlich denken, Adolf Hitler hätte Wohlgefallen an ihnen gefunden.
Es war auch nicht, wie’s auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte, eine Welt gänzlich ohne Farben. Vom ehemaligen Austriaplatz kam Militärmusik. Das war dereinst der große Marktplatz der Innenstadt gewesen, dorthin waren die ratternden Bauernkarren montags zum Wochenmarkt gestrebt, wo unter einer Wolke vom Knoblauch, frischgegerbtem Schafsfell, scharfem Käse, Machorka-Tabakrauch und Fusel, Bratöl und Kuhfladendunst Handel mit allem Erdenklichen getrieben wurde, von Ochsenhäuten über Kattunkopftücher zu rostigen Vorhängeschlössern, Fuhrmannspeitschen, gestickten Leinenhemden, Mundharmonikas, bündelweise an den Füßen zusammengebundenen Hühnern, Butter auf Huflattichblättern, Eiern in Körben, aus Autoreifen zusammengeschnittenen Opanken, Taschenmessern, Lammfellmützen und unaufzählbar ähnlich vielfältigem Zeug. Unter dem Blau des freien Himmels hatte das die Buntheit eines Tropfbilds von Pollok gehabt, das Durcheinanderschwärmen eines Ameisenhaufens. Dort hatten Juden um abgetragene Kleidungsstücke geschachert, Armenier Leinenballen, Wollestränge und Wagenladungen Kukuruz aufgekauft, Lipowaner ihr schönes Obst angeboten, Flickschuster ihre Dienste an Ort und Stelle. Huzulenweiber war mit Roscher Schwäbinnen in Streit geraten, Betrunkene in Prügeleien, Blinde, Lahme, Aussätzige hatten gebettelt, Zigeuner gefiedelt, die Kümmelblättchenspieler mit verwirrend geschwind hin und her geworfenen zwei schwarzen und einem roten As den stumpfsinnig gaffenden Hinterweltlern die sauer ergatterten Groschen so gründlich abgeknöpft wie die überall emsig arbeitenden Taschendiebe, immer wieder ängstlich nach den Polizisten ausschielend, die sie verhaften oder zu horrendem Bakschisch erpressen konnten. Es war ein Platz des Lebens gewesen, wimmelnd und gärend, Nabel der Kosmopolis, die Czernowitz in wörtlicherem Sinn gewesen war als manche Weltstadt.
Jetzt war der Platz eine auszementierte Aufmarschfläche, weit, leer, peinlich reingefegt. Aber doch nicht gänzlich steingrau. Eine der Schmalseiten, dort, wo der Hang zur Vorstadt Klokuczka abfällt, war von einer riesigen, knallroten Plakatwand eingenommen. Sattes Goldgelb schnitt daraus in streng stilisierter Schablone das Bildnis Lenins und ließ die vier- und fünfstöckigen Häuser an den Längsseiten des Platzes zwergenhaft erscheinen. Einige Dutzend Marschschritte davor saß jetzt an einem langen Tisch eine Handvoll Honoratioren, die Hälfte davon in Uniform. Achselstücke glitzerten reichbestirnt; weibliches Blondhaar wallte filmreif dauergewellt. Wiederum zwei Dutzend Marschschritte davor waren in drei Gruppen Militärkapellen aufmarschiert, jede kommandiert von einem knollenförmigen Major. Jeweils eine nach der anderen produzierte sich in flotten Märschen, heiteren sowohl wie getragenen Musikstücken.
Es handelte sich, wie man mir sagte, um einen Wettbewerb der Garnisonskapellen. Der Regimenter waren viele, sämtliche Waffengattungen waren in Paradeuniform vertreten, auch das gab ein buntes Bild, und jede einzelne der Kapellen tat sich nach der Pflichtübung, die mit der Staatshymne der Sowjetunion endete, mit der Kür einer Sondernummer hervor, vom Radetzkymarsch über das Andreas-Hofer-Lied bis zur Ouvertüre des “Freischütz” – russische Volksmusik mit einem Wort. Das dauerte nun schon den ganzen Vormittag, und weil es dazu noch ein Sonntagsvormittag war, hätte ich meinen sollen, daß das Spektakel eine schaulustige Menge anziehen müßte. Aber nur eine spärliche Anzahl von Vorübergehenden ergötzte sich kurz verweilend daran, selbst als am Ende Bataillone in historischem Kostüm auftraten, Soldaten des kaiserlichen Heeres, das über Napoleon gesiegt hatte, und weniger farbig, dafür unheimlicher in erdferkelhaften Tarnanzügen – die Überwinder der Armeen Hitlers. Beschlossen wurde die Vorführung von tanzenden Trachtengruppen. Aber deren folkloristischer Aufputz kam so offensichtlich aus dem Theaterfundus, daß sie hier, wo noch vor wenigen Jahrzehnten Volkstrachten zum alltäglichen Anblick gehört hatten, niemandem ein sonderliches Interesse abzulocken vermochten.
Auch ich, der Fremde, deutlich als ein solcher an Anzug und Gehabe zu erkennen, erweckte keins. Kein neugieriger Blick streifte mich, kein Zeichen gab mir zu verstehen, daß ich auffällig sein konnte. Es war, als wäre ich durchsichtig oder nicht vorhanden, und das Gefühl, hier zwar zu Hause, aber doch ein halbes Jahrhundert und eine ganze Welt fern zu sein, verstärkte sich zur irrealen Wirklichkeitsdichte des Traumzustands. Ich war da und doch nicht da. Ich träumte bei voller Wachheit – nicht allein diese handgreiflich reale Stadt, sondern mich selbst in ihr. Derart meinem Stand in Raum und Zeit enthoben, machte ich mich auf zum Haus meiner Kindheit. Um es vorwegzunehmen: Von allen Häusern dieser Stadt, an denen kein Stein verrückt zu sein schien, war es als das einzige nicht mehr da.
Das Haus einer Kindheit, die über ein halbes Jahrhundert zurückliegt, ist ohnehin ein luftiges Gebäudes. Es besteht aus Ein- und Ausblicken mehr als aus festen Wänden; aus Teilansichten, Winkeln, Ecken, einzelnen Möbelstücken, Vorder- und Hintergründen – kurz: aus Fragmentarischem, wie im Filmatelier die zusammengestückten Kulissen, für einen Film, der aus der Sicht eines Dreikäsehochs aufgenommen wird. Immerhin wußte – und weiß – ich, daß es ein Stück weit außerhalb des damaligen äußersten Randgebiets der Stadt in einem großen Garten gelegen war, an drei Seiten noch offen zum freien Land. Ich wußte – und weiß – , daß es wie ungezählte neoklassizistische Villen seiner Art eine säulengetragene Vorderfront mit einer schmalen Terrasse und einen tympanonartigen Giebel darüber hatte und an der Rückseite zur Gartentiefe eine glasverkleidete Veranda. Es war zu erreichen gewesen durch eine lange, gartenreiche Straße des Villenviertels, die Gartengasse. Ich fand sie ohne Schwierigkeit. Auch sie war gänzlich – oder jedenfalls zum größten Teil – unverändert. Traumwirklich so, wie ich sie vor vierundfünfzig Jahren verlassen hatte, lief sie durch dieselben zwei Zeilen gutbürgerlicher Einfamilienhäuser, die Karl Emil Franzos zum Vergleich mit Schwarzwaldhäuschen verführt hatten. Einzelne davon grüßten mich vertraut. Andere wieder, an der Straßenseite, die zu meiner Zeit noch halbwegs unbebaut gewesen war, verstörten mich: Ich wußte, daß sie nicht dagewesen waren, konnte es ihnen aber nicht absprechen. Sie wiesen keinerlei stilistisches Merkmal, keinerlei Neuigkeit, geringere Abgewohntheit auf, die sie hätten von ihren Nachbarn unterscheiden können. Nicht historisch Kennzeichnendes war ihnen abzulesen, weder die auch architektonisch nationalbewußte Rumänenherrschaft noch beinah fünfzig Jahre kommunistischer Wohnungsbau-Ideen. Hinter den Fliederbüschen und Königskerzen ihrer Vorgärten und efeuüberklettert bis an die Giebel, Erker, Türmchen ihrer von Franzos besungenen Idyllik sprachen sie der Behauptung hohn, daß sie nicht aus derselben irrealen Weltzeit stammten wie das übrige Czernowce. Ich verlor die Sicherheit, mit der ich meinem Ziel zugestrebt war. Diese Gartengasse war um beinah ein Drittel ihrer dereinstigen Länge länger geworden, eben wie in Träumen ein vertrauter Weg sich endlos hinzieht: und als ich schließlich doch ihr Ende erreichte, stiegen vor mir eng hintereinandergestaffelte Reihen von zehn-, zwölf-, vierzehn- und sechszehnstöckigen Hochhäusern auf und verstellten den Blick, wo er einstmals weit ins freie Land hinausgegangen war.
Ich hätte es erwarten müssen. Es war logisch und konsequent: Mit dem steil abfallenden Hang zum Pruth-Tal, das die Stadt umarmte, war diese die natürliche, die einzige Richtung, in die sie sich hatte entwickeln können – und daß sie sich in vierundfünfzig Jahren entwickelt haben würde, hatte ich ja im voraus angenommen. Sie hatte es ohnehin unter erstaunlicher Schonung des Vorhandenen getan – so konservatorisch, daß es mich in ein Niemandsland der Zeit und einen Zustand zwischen Traum und grellstem Wachsein versetzt hatte. Nicht nur war alles aus meiner Zeit unangetastet geblieben, es war auch noch Vergangenheitsträchtigeres dazugekommen. Daß einzig das Haus meiner Kindheit aussgenommen sein sollte von dieser denkmalschützerischen Pietät, wollte mir nicht einleuchten. In meiner Erinnerung stand fest, daß wir aus den Fenstern de Südostseite die Pappelreihen einer der großen Ausfallstraßen ins Land hinaus, der Siebenbürgenstraße, sehen konnten, weiterhin bis zum luftblauen Horizont: ein Sehnsuchtsweg meiner kindlichen Phantasie. In der Tat, auch jene Straße existierte noch; nur war sie nicht mehr einzusehen. Sie war nicht mehr flankiert von Pappeln, in deren Laub die Vögel ein und ausgeflogen waren, sondern von Wohnblocks und Kaufhäusern, in denen es nur sehr Dürftiges zu kaufen gab. Zwischen ihnen und dem Hochhausgeschwader lag unordentliches, teils unbebautes, teils auf Geratewohl bebautes Gelände, eine Studentensiedlung, ein nun doch rumänisch anmutendes Waisenhaus, eine Blindenanstalt in den Resten ehemaliger Baumbestände, eingestreut darein laubenkoloniale Einfamilienhäuschen. Dort dazwischen, daneben oder dahinter mußte das Haus gelegen sein. Aber es war nicht mehr dort. Es war spurlos verschwunden. Es half nichts, danach zu fragen. So entgegenkommend jedermann auch war, niemand wußte etwas davon, war entweder zu jung, zu spät hierhergesiedelt oder konnte sich nicht so weit zurückentsinnen. Je intensiver ich suchte, um so hoffnungsloser verlor ich mich im Unbekannten. Nach zwei Tagen ergebnisloser Suche war das Haus meiner Kindheit ein Gespenst, das allein in meinem Schädel spukte.
Um zu überprüfen, ob ich nicht das Opfer schizophrener Einbildungen sei, setzte ich noch einmal mit der Suche – nun nach mir selber – an, diesmal im Stadtkern. Meine Mutter hatte dort, nach der Trennung von meinem Vater, durch zwei Jahrzehnte ein Haus bewohnt, das gleichfalls in einem großen Garten gelegen war, einzig in seiner Art als Überbleibsel der kleinstädtischen, noch recht ländlichen Vergangenheit von Czernowitz. Es war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erbaut worden und verschont geblieben von der stürmischen Entwicklung der Stadt in den Gründerjahren. Dieses Haus war noch vorhanden. Es stand immer noch in seiner Lücke zwischen links und rechts und gegenüber liegenden respektablen Mietshäusern, und leider lag, was dereinst Garten gewesen war, unter einer Decke von Zement. Überdies schien mir das Haus unglaubwürdig gegen die Straße gerückt zu sein. Anstelle seines Schindeldachs war’s mit rostigem Blech bedeckt, und seine ehemals von Jasmin umwachsenen Wände waren nackt und kaffeebraun gestrichen. Auch fehlte die Veranda, die ich freundlich in Erinnerung behalten hatte. Aber das allein war’s nicht, was mich verstörte. Auch hier war einiges darum her gewachsen, was meinerzeit nicht dagewesen war, allerlei kleinstädtische und augenfällig von kleinen Leuten gemütlich bewohnte Häuschen, auch eine inzwischen verfallene Fabrikhalle in gelbem Klinkerziegel und eine Flucht von Wohnhöhlen bis in den tiefsten Hintergrund des ehemaligen Gartens. Und nichts, aber auch gar nichts wies darauf hin, daß das alles nicht schon immer darum her gestanden war. Es war von gleicher Bauart, schien aus derselben kleinstädtischen Vorzeit der Stadt zu stammen, war gleicherweise schäbig abgewohnt.
Ich glaubte, mein letztes Restchen Verstand zu verlieren. Wenn schon seit meiner Zeit hier etwas gebaut worden war, dann doch nicht diese Periökensiedlung. Schon in der Zwanzigerjahren war das Grundstück, wenige hundert Schritte vom Ringplatz gelegen, ein schieres Lustobjekt für Bauvorhaben gewesen, denen meine Mutter heroisch widerstanden hatte.
Seit der Aussiedlung meiner Mutter, 1940, war es herrenlos. Hier hätte ein imposanter Wohnblock hingestellt werden können. Was hatte das verhindert? Doch nicht denkmalschützerische Pietät für diese Krattlerhütten hier, die das Stadtbild verschandelten. Ich konnte schwöre, daß sie 1936 noch nicht dagestanden waren. Aber allen Augenschein sprach gegen meinen Eid. Auch hier vermochte ich nichts anderen, als etwas Unglaubwürdiges zu behaupten.
Zu meiner Rettung kam ein Engel in Gestalt einer der Bewohnerinnen. Nein, nein, sie waren tatsächlich nicht dagewesen, diese Nebenhäuser, nur das ganz alte in der Mitte stammte von früher, alles andere darum her war in den Fünfzigern dazugekommen, eine ärmliche Zeit, in der man nicht an große Bauten denken konnte. Nein, auch die abscheuliche Fabrikanlage war erst damals Hals über Kopf errichtet worden, und ja, gewiß war einmal auch eine Veranda am Haus gewesen, und dort, wo jetzt die Reihenwohnungen lagen, waren die ehemaligen Stallungen gelegen, die Böden ware dort immer noch feucht. Jawohl, da drüben waren große Kirschbäume gestanden – und ob ich nichts ins Haus kommen wollte, um zu sehen, daß die Räumlichkeiten die gleichen geblieben waren, es wohnten jetzt allerdings drei Familien darin.
Stein, der mir vom Herzen fiel, sank schwer in mein Gemüt. Es war also doch nicht alles schiere Phantasmagorie, die pure Einbildung, was ich von meiner Frühzeit in Erinnerung behalten hatte – das zu wissen tat wohl. Allerdings zahlte ich meinen Preis dafür. Niemals wieder würde ich ans Haus meiner Mutter denken können, ohne daß sich nicht darüber die häßliche Realität seines gegenwärtigen Zustands schob. Das eigentliche Haus meiner Kindheit war davon verschont geblieben, dafür aber nun gänzlich irreal geworden, umwittert von einer Sagenhaftigkeit, die mich fürchten ließ, ich selbst könnte niemals mehr recht an seine Wirklichkeit glauben. Wohlan! Im Bereich der Unglaubwürdigen, im Fabelreich phantastischer Einbilderungen war mein Tschernopol gelegen, das irreale Bild der Realität von Czernowitz. Die Realität, die ich in Czernowcze angetroffen hatte, drohte mir auch die zu zerstören. Ich mußte sie schleunigst wieder verlassen. Man soll die Suche nach der verlorenen Zeit nicht im Geist des nostalgischen Tourismus unternehmen.
Grüße aus der Bukowina - Erinnerungen an eine Welt von Gestern
ZDF Dokumentation, 1995, Videoabschnitt: ab 7,22 ein Interview mit Gregor von Rezorri
" Der deutsch-jüdische Topos von „Bukowina/Czernowitz“ umfasst neben dem Naturreichtum einen markanten urbanen Aspekt, die Stadt wird dabei als zivilisatorisches Modell, als "gesegneter Bereich des deutschen Geistes" begrüßt. Demgegenüber tut sich die Topographie der analysierten Autobiographie weniger in ihrer urbanen Ausprägung auf, vielmehr durch den Prisma des Kindes im Profil einer erinnerungshaft verschleierten, grandiosen Provinz, als eine verklärte Naturlandschaft, als Heimatsort mit mythischen Kenndaten." Brigitta Finta: Mitteleuropäische erinnerte, erzählte und imaginäre Topographien. Geschichts- und Identitätskonstruktionen des Grenzgängers Gregor von Rezzori, November 2012