Meridian Czernowitz 2022
Vom 2. bis 4. September finden im Rahmen der Internationalen Literaturveranstaltung Meridian Czernowitz Aufführungen, Lesungen und Gespräche unter dem Titel "Dialoge über den Krieg" statt.
An den Veranstaltungen dieses Sonderprogramms nehmen Andriy Lyubka, Irina Cilik, Igor Pomerantsev, Andriy Bondar und Kateryna Kalitko teil. Sie werden über den Krieg, dessen kulturelle Frontverlauf und kreativen Antworten in Kriegszeiten sprechen.
Die Veranstalter gehen davon aus, dass Meridian Czernowitz zum 13. Mal mit der Unterstützung nachgenannter Partner stattfinden wird: Klett-Cotta Verlag (Deutschland), Ukrainisch-Jüdische Vereinigung (Kanada), Bundesorden des Landes Kärnten (Österreich) und Georg Drozdovsky Partnerschaft (Österreich), Schweizerische Botschaft in der Ukraine, Kulturstiftung Pro Helvetia (Schweiz), Niederländisch-Jüdischer Humanitärer Fonds, Literarisches Zentrum in Czernowitz.
Claus Löser trug im Frühjahr dieses Jahres, kurz nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine, die Idee an mich heran, sollte das Festival stattfinden - gemeinsam nach Tscherniwizi zu fahren. Nach dem Claus Löser auch mich bei der Veranstaltung für das Passieren der Landesgrenze akkreditierte, erhielt ich die Einladung eigene Texte zu lesen.
Prag, 3.8.2022 Milena Findeis
Milena, Augnerin (Renate Findeis)
***
Kyjiw, "Die Sprache des Krieges" Anmerkungen zu einem Symposium der Heinrich Böll Stiftung, Juni 2015
Ein aus der Sprache gefallenes Wort
sich ausbreitetend wie ein Lauffeuer
in Worten
in Bildern
in Taten
Kämpfend hallt es wider
weckt verborgene Empfindungen
Verbote gelten nicht mehr
zerstören, vernichten, töten
ist jetzt erwünscht,
erlaubt
an der Zielscheibe Feind
Diesen Feind definieren
mit welcher Triebfeder
durch Projektion
auf Äußeres?
Symbole?
Die kriegerische Sprache
windet, schraubt sich
digital weiter
in- und auswendig
Dem inneren Kriegsvirus nachspüren
der versteckt und verdeckt
bei einem äußeren Impuls öffentlich wird
Aggression die durchbricht
gewalttätig, grausam
Respekt und Würde ausradierend
Wo und wie berühren
einander Ängste?
Wo bin ich Opfer?
Wo bin ich Täter?
Antworte sage ich
zu meinem Gewissen
hinterfragend wird
das Raunen zum Sturm
***
ZERsetzendes JAHRtausend
Mit von Verbrechen
gefütterte Versprechen
löscht das nach
rückwärts gewandte Imperium
Diversität
andere Kulturen aus
Diktatoren oftmals im Duett
mit Weltkonzernen
vereinnahmen
die Erde als Ganzes
fischen Meere leer
bauen für einige Wenige
Zufluchtsburgen im All
***
Wort-ARBEIT
Im Mund das Wort
schmecken
zerkauen
Es summt in den Ohren
wird von den Augen gerollt
von Grimassen zerschnitten
Mit Hashtags verbreitet
im Nachrichtenstrom verarbeitet
bis es abgehakt im Cache endet
***
BegriffsGRENZEN
Aus dem Inneren
heraus
scheiden Ideen
(un)bewußt
Nicht Wahrgenommenes
zeugt von der Macht
einer Finsternis
in die selten
ein Lichtstrahl fällt
Momentig schmerzt
die Erhellung
das Auge der Empfindung
Geblendet zerfällt
der Augapfel
wenn Licht konzentriert
einfällt in
das Äußere der
Regenbogenhaut
Von Achtung
entblößte Ahnung
zerfleischt
jedes Beginnen
Nichts das mehr verklärt
als die reine Logik
der widersprüchlichen Gefühle
die Hass erblühen lässt
***
Zersplittert
Inmitten all der Scherben
aus der Ohnmacht erwacht
Augenblick
einer überhöhten Tonfrequenz
und alles zerbirst
Lawinengedonner
bei Tauwetter
Der Druck von
geballten Eisbrocken
walzt den Abhang hinunter
ähnlich dem Grollen
eines ausbrechenden Vulkans
Dort das Eis
hier das Feuer
Gefühlsgewalt
lodernd, hinwegbrausend
Eruption
Liebe verwandelt in Haß
Funkensprühend
Infizierend
Ersteres ausgesprochen
Letzteres verborgen
Elendig nah beieinander
***
MückenKlang
Eingefangen von
den schmalen Armen
der felsigen Bucht
vibriert der Vögel
Abendklang
Dicht am Wasser
nah am Holz
des abgestorbenen Baumes
der Rattenschwanz
Auf warmen Kieseln
Schleimspuren von Schnecken
das Zirpen der Grillen
im Juni Dunst
Aus dick verwobenem
Algengrün
tauchen Plastikflaschen
und brüchige Erinnerungen
Über der abgeschürften Haut
des verlassenen Geliebten
tanzen Mückenschwärme
im Rhythmus der Rischok
***
Schwestern
Den Balken aus den Augen lösen
einen Punkt setzen - einen Strich ziehen
"Unwahr"-Nachfragen stellen
Vorwürfe in den brennenden Scheiterhaufen versenken
Wut, Schmerz, Trauer annehmen,
aschenfeurig
Frühjahrsluft einsaugen
Erinnerungen ausatmen: lang und tief
fragende Zeichen
in den Wolkenhimmel schicken
Von
allen
Vor- und Nachstellungen
entbunden:
LEBENdig
***
SeelensZug
Zug für Zug
mindert der alternde Körper
Funktionen
Schlägt erneut Kerben
in die Seele
erinnert sich der Kindertage
wo im sprachlosen Zustand
Seinsraum gewesen ist
der im Heranwachsen
von Wörtern und Tätigkeiten
mehr und mehr
eingenommen
festgeschrieben
wurde
***
Foto Prager Buchmesse 2022 vor dem Stand der Ukraine
Geborgenheit
Mitten im Gewühl der Prager Buchmesse
vor dem Stand der Ukraine
Bücher, Autorinnen, Menschen, Kinder
Es wird gelesen, gespielt, gesungen, gekocht
der Kopf - ob all der Eindrücke - will weg
da streift das Auge den Gang einer jungen Frau
sie trägt einen Karton voller Bücher
auf ihrem Rücken schläft friedlich ein Kind
Das sind die stillen Momente, die dem Herz
Mut, Vertrauen einflössen
Der “Wiederaufbau des Menschlichen”
niedergeschrieben von Rupert Riedl
kommt mir in den Sinn,
immer wieder zurückkehren
zu diesem Augenblick,
den sinngebenden
Im Frühjahr 2022 der mit Claus Löser
gesponne Plan, nach Tscherniwzi zu fahren
Ich zitiere aus seinem Gedicht “Nicht einfach”
Nein einfach ist es nicht
alldem zu entkommen
den wortbrüchigen Hinterlassenschaften
unter den Dielen hinter den Giebeln
in den Schatullen nur
eine Feder die Garbe aus Haar
und eine silberne Münze
bargeschliffenes Antlitz des Herrschers
ausgelöscht wie ein Volk.
Jede Kunst überdeckt Narben
legt Wunden offen
in Wort, Bild oder Ton
Ich hänge an der Lebendigkeit
des Augenblicks
mit Ihnen jetzt
Danke!