Meridian Czernowitz XIII - 2022

 

Meridian Czernowitz XIII
Meridian Czernowitz XIII

Vom 2. bis 4. September 2022 fanden im Rahmen der Internationalen Literaturveranstaltung Meridian Czernowitz XIII Aufführungen, Lesungen und Gespräche betreffend "Dialoge über den Krieg" statt.

An den Veranstaltungen dieses Sonderprogramms nahmen u.a. Andriy Lyubka, Iryna Tsilyk, Josef Zissels, Igor Pomerantsev, Andriy Bondar und Kateryna Kalitko teil. Sie sprachen über den Krieg, dessen kulturellen Frontverlauf und kreativen Antworten in Kriegszeiten. 

Claus Löser trug im Frühjahr dieses Jahres, kurz nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine, die Idee an mich heran, sollte das Festival stattfinden - gemeinsam auf eigene Faust nach Tscherniwzi zu fahren. 

 

Die Hinreise mit dem PKW über Tschechien, Slowakei, Ungarn und Rumänien dauerte drei Tage - genau so lange wie Meridian Czernowitz XIII.  Als  Evgenia Lopata von Meridian Czernowitz erfuhr, dass ich auf eigene Kosten nach Tscherniwzi kommen werde, wurde ich kurzfristig um einen aktuellen Text gebeten. Ich übermittelte den weiter unten angeführten Text, der von Petro Rychlo ins Ukrainische übersetzt wurde. Die Lesung  moderiert und übersetzt von Petro Rychlo fand am 3.9. im Paul Celan Zentrum statt.
Ich war überrascht, wie viele junge Besucherinnen aufmerksam zuhörten. Inmitten des Lesens, traf mich der eine oder andere Blick so fragend, dass mir während des Lesens die Augen tränten. Sie, die Zuhörenden aus der Ukraine werden bleiben, die eine oder ein anderer in den Krieg ziehen. Ich hingegen wieder zurück nach Prag fahren, den Sohn wiedersehen, der wie gewohnt einen Zug lenken wird, sein altes Haus weiter renovieren wird. So anders die Zukunftsaussichten für die Menschen, die für die Freiheit ihres Landes kämpfen. Am Ende der Lesung bedankte sich eine der Zuhörerinnen mit den Worten "Danke für ihre Tränen".*

Es war 2022 eine ganz andere Stimmung als bei dem ersten Festival im Jahre 2010. Sviatoslav Pomerantsev, den ich seit 2008 als "Slava" kenne umarmt mich mit den Worten "you are my hero". Er arbeitete seit 2008 unterstützt von seinem Onkel Igor Pomerantsev und  Iryna Vikyrchak an der Idee, die internationale Literatur zurück nach Czernowitz zu bringen -  das wurde durch die Gründung von MERIDIAN CZERNOWITZ in die Tat umgesetzt. Die einstige Aufbruchsstimmung war durch den Krieg seit 2014 aufgesogen worden. Zu spüren war aufbegehrender Widerstand, der Mut und der Wille – weiterzumachen. Die herzhafte Leichtigkeit von einst ward zwölf Jahre später durch ehrgeizige Professionalität ersetzt worden: eine aus Kyiv angereiste Modefotografin fotografierte die TeilnehmerINNen, offiziell war das Wort "Festival" gestrichen worden und die Direktorin Evgenia Lopata durch ihre Aktivitäten allerortens präsent.  

Was sich nicht geändert hat: an den Straßenrändern wird noch immer frisches Obst, eingelegtes Gemüse, Marmeladen von RetnerINNEn angeboten. Ich kaufte Äpfel und Blumen ein. Vor der Ausgangssperre um 23 Uhr hörte ich den Straßenmusikanten zu. Neu hingegen die kilometerlangen Schlangen von LKWs, deren Fahrer bis zu 14 Tage auf die Ein- bzw. Ausreise an der rumänisch-ukrainischen Grenze warten. Die Wand hinter dem Denkmal von Taras Schewtschenko ist von einer ukrainischen Fahne bedeckt, davor eine Fotogalerie mit den seit 2013 auf dem Maidan, während des Kriegs gefallenen Soldaten aus Tscherniwzi. Dort werden Tag für Tag frische Blumen niedergelegt, Kerzen angezündet. Aus den Kirchen waren die Chöre, die Fürbitten zu hören. Anstelle der Menschen, die Hochzeiten entlang der Olha Kobylanska Straße - der einstigen Herrengasse während der K&K Monarchie - feierten, waren Soldaten in Uniform zu sehen.

Das mir angebotene Honorar bat ich als Spende zu verwenden. Vor der Anreise war Udo Puschnig vom Amt der Kärntner Landesregierung mit der Bitte an mich herangetreten, den Sponsorbeitrag der Georg Drozdowski Gesellschaft in bar an die Veranstalter des Meridian Czernowitz zu übergeben. Dieser Bitte kam ich gerne nach.

Milena Findeis
Foto: Maxym Kozmenko, Meridian Czernowitz XIII
Maxym Kozmenko
Maxym Kozmenko, Fotojournalist

Lesungen in deutscher Sprache, die ins Ukrainische übersetzt, waren Gedichte von Andra Schwarz und Jan Snela, ein Briefwechsel von Jurko Prochasko mit Helmut Böttiger, Gedichte von Nora Gomringer und Judith Schifferle, die an der Volkshochschule Beider Basel einen Kurs "Der ukrainische Sonderfall: Lyrik aus dem Krieg" anbietet. Ich besuchte beinahe alle Gespräche der ukrainischen TeilnehmerINNen – da ich dank meiner Tschechisch Kenntnisse gesprochenes Ukrainisch verstehe. Der aus Israel angereiste Eran Tzelgov mailte mir nach den LesungenTexte, einige davon hat er auf Hebräisch gelesen, die ins Ukrainische übersetzt wurden. 

Während des Vortrags von Josef Zissels, einen der Teilnehmer die ich vom ersten Meridian Czernowitz 2010 kenne, über Identität, einem Geflecht von Sprache, Raum, Abstammung, Gewohnheit, Bräuchen beobachtete ich den aus Tscherniwizi stammenden Fotojournalisten Maxym Kozmenko, der über das Geschehen aus der Ukraine berichtet.

Wie mir Petro Rychlo und Christian Weise erzählen, gibt es nach wie vor reguläre Busverbindungen in die Ukraine. Juri Andruchowytsch hat eine solche Reise vor zwanzig Jahren in dem Essay "Germaschka" beschrieben. So eine Reise anzutreten, das nehme ich mir vor.

 

Prag, 10. September 2022, Milena Findeis

 


Zum Auftakt der Lesungen, Gespräche

Svyatoslav Pomerantsev, 2.9.2022

Ich möchte hier einige Worte über das Hinterland sagen, da wir uns infolge geographischer Lage im Rücken eines Landes befinden, das einen Krieg zu führen gezwungen ist. Kriegstheoretiker betrachten das Hinterland vor allem als eine menschliche und wirtschaftliche Armeeressource. Dichter, die zu uns während des Kriegs gekommen sind, um ihre Gedichte hier vorzutragen, und Poesiefreunde, die bereit sind, während des Krieges den Gedichten zuzuhören, – das ist ebenfalls eine Ressource, obschon von einer anderen Art. Das ist eine Ressource der Lebensstandhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung. Natürlich ist es eine sehr bescheidene Ressource, doch ohne sie wäre es viel schwieriger zu leben. Im Gedicht von Rose Ausländer „Hoffnung“ finden sich solche Zeilen:

Wer könnte atmen
ohne Hoffnung
dass auch in Zukunft
Rosen sich öffnen

Atmen bedeutet Hoffnung zu haben. Wir leben in einem Land, in dem unser Feind tausende von Häusern zusammen mit ihren Einwohnern total ausgelöscht hat. Anstelle der Häuser sind nur Löcher und Lücken geblieben. Poesie kann nicht die Ermordeten auferstehen lassen. Aber solange Gedichte erklingen, wird die Hoffnungsressource nicht versiegen.

Igor Pomerantsev, 2.9.2022: 

Der Krieg gibt den halb vergessenen Wörtern, deren Stelle nur in den militärischen Wörterbüchern und alten Gedichten aufscheinen, einen neuen Sinn. Eines dieser Wörter heißt „Frontgebiet“. So nennt man ein Territorium nahe der Front. Aber es gibt auch eine andere Definition dieses Wortes. Alle Menschen, von Charkiw bis New York, die einschlafend an die Ukraine denken und aufwachen, um den neuen Tag mit dem Lesen der Kriegsnachrichte zu beginnen, sind Frontgebietsmenschen.
Gedichte, die  hier vortragen werden, klingen wie Texte aus dem Frontgebiet – ob wir es wollen oder nicht. Die ganze klassische Poesie, sogar solche lyrische Zeilen wie Taras Schewtschenkos „Ein Kirschengarten vor dem Haus“ oder „grenzenlose Felder / Und den Dnipr und seine Schnellen“ sind heute Frontgebietspoesie.
Wieso? Weil die Poesie dem Tode gegenübersteht, und der Krieg bedeutet Tod. Ich glaube an den Sieg der Poesie. Sicher, sie besitzt keine Haubitzen, keine geflügelte und flügellose Raketen, keine Bomben, aber sie besitzt hochpräzise Wörter, gegen die sogar die Kanonen machtlos sind.
Wir leben heute in solchen Zeiten – in den Zeiten der Frontgebietsgedichte, der Frontgebietsdichter, der Frontgebietsleser und -zuhörer.


 

 

Lesung Milena Findeis

Moderiert und ins Ukrainische übersetzt von Prof. Petro Rychlo, Перекладач Петро Рихло: «У найжорстокіші часи з’являється найніжніша лірична поезія»

 

Ein aus der Sprache gefallenes Wort

sich ausbreitetend wie ein Lauffeuer
in Worten
in Bildern
in Taten

Kämpfend hallt es wider
weckt verborgene Empfindungen
Verbote gelten nicht mehr
zerstören, vernichten, töten
ist jetzt erwünscht,
erlaubt
an der Zielscheibe Feind

Diesen Feind definieren
mit welcher Triebfeder
durch Projektion
auf Äußeres?
Symbole?
Die kriegerische Sprache
windet, schraubt sich
digital weiter
in- und auswendig

Dem inneren Kriegsvirus nachspüren
der versteckt und verdeckt
bei einem äußeren Impuls öffentlich wird
Aggression die durchbricht
gewalttätig, grausam
Respekt und Würde ausradierend
Wo und wie berühren
einander Ängste?

 Wo bin ich Opfer?
Wo bin ich Täter?
Antworte sage ich
zu meinem Gewissen
hinterfragend wird
das Raunen zum Sturm

***

 

ZERsetzendes JAHRtausend

Mit von Verbrechen
gefütterte Versprechen
löscht das nach
rückwärts gewandte Imperium
Diversität
andere Kulturen aus

 Diktatoren oftmals im Duett
mit Weltkonzernen
vereinnahmen
die Erde als Ganzes
fischen Meere leer
bauen für einige Wenige
Zufluchtsburgen im All

***

Wort-ARBEIT

Im Mund das Wort
schmecken
zerkauen

Es summt in den Ohren
wird von den Augen gerollt
von Grimassen zerschnitten

Mit Hashtags verbreitet
im Nachrichtenstrom verarbeitet
bis es abgehakt im Cache endet

***

Zersplittert

Inmitten all der Scherben
aus der Ohnmacht erwacht
Augenblick
einer überhöhten Tonfrequenz
und alles zerbirst
Lawinengedonner
bei Tauwetter

Der Druck von
geballten Eisbrocken
walzt den Abhang hinunter
ähnlich dem Grollen
eines ausbrechenden Vulkans

Dort das Eis
hier das Feuer
Gefühlsgewalt
lodernd, hinwegbrausend

Eruption
Liebe verwandelt in Haß
Funkensprühend
Infizierend

Ersteres ausgesprochen
Letzteres verborgen
Elendig nah beieinander

***

 

MückenKlang

Eingefangen von
den schmalen Armen
der felsigen Bucht
vibriert der Vögel
Abendklang

Dicht am Wasser
nah am Holz
des abgestorbenen Baumes
der Rattenschwanz

Auf warmen Kieseln
Schleimspuren von Schnecken
das Zirpen der Grillen
im Juni Dunst

Aus dick verwobenem
Algengrün
tauchen Plastikflaschen
und brüchige Erinnerungen

Über der abgeschürften Haut
des verlassenen Geliebten
tanzen Mückenschwärme
im Rhythmus der Rischok

***

Schwestern

​Den Balken aus den Augen lösen
einen Punkt setzen - einen Strich ziehen
"Unwahr"-Nachfragen stellen

Vorwürfe in den brennenden Scheiterhaufen versenken
Wut, Schmerz, Trauer annehmen,
aschenfeurig
Frühjahrsluft einsaugen

Erinnerungen ausatmen: lang und tief
fragende Zeichen
in den Wolkenhimmel schicken

Von
allen
Vor- und Nachstellungen
entbunden:
LEBENdig

***

SeelensZug

Zug für Zug
mindert der alternde Körper
Funktionen
Schlägt erneut Kerben
in die Seele
erinnert sich der Kindertage
wo im sprachlosen Zustand
Seinsraum gewesen ist
der im Heranwachsen
von Wörtern und Tätigkeiten
mehr und mehr
eingenommen
festgeschrieben
wurde

***

Слово що випало з мови

що шириться мовби пожежа у лісі
у звуках
в образах
в діях


Воно відлунює у борінні
будить приховані почуття
Заборони більше недійсні
тепер вимагається
руйнувати нищити убивати
все дозволено
мішенню є ворог


Якою рушійною силою
означити цього ворога
як проекцію
вивести на екран?
Символи?
Мова війни
діґітально петляє, звивається,
далі й далі
всередину і назовні.

Знову відчути внутрішній вірус війни
який ховається й прикривається
стає публічним при зовнішнім імпульсі
сіє агресію що проривається
брутально жорстоко
стираючи в порох повагу й гідність
Де і як доторкається тут
страх до страху?

Де я жертва?
Де я злочинець?
Відповідаю
своєму сумлінню
у цих сумнівах
шепіт перетворюється на бурю.

***

ДЕструктивне ТисячоЛІТТЯ


Із обіцянкою
що годована злодіяннями
стирає ущент
звернена у минуле імперія
розмаїття
інших культур

Диктатори часто виступають в дуеті
зі світовими концернами
привласнюють
землю як цілість
вичерпують океани
будують для вибраних
безпечні сховки у всесвіті

***

Словесна РОБОТА

Смакувати
жувати
слово у роті

Воно бринить у вухах
кружляє перед очима
розітнене у гримасах

Поширене у гаштеґах
перероблене у потоці новин
аж поки не буде відрізане в кеші

***

Розбита на скалки

поміж усіх цих уламків
прокидається з немочі
мить
вищої частоти звуку
і все розпадається
лавиною грому
під час відлиги

Натиск
багатьох спресованих крижаних брил
зносить пагорб донизу
подібно до гримотіння
під час виверження вулкану

Там – крига
тут – вогонь
Насилля над почуттями
пломеніючи і бушуючи
викид
любові перетворюється в ненависть
сиплючи іскри
інфікуючи все
вимовляючи перше
сховавши останнє
злиденно близько одне від одного


***


Комашиний спів

В обіймах
тоненьких рук
скелястої бухти
вібрує вечірній
пташиний спів

У воді
біля
відмерлого дерева
пацючий хвіст
На теплій гальці
слизисті сліди слимаків
сюрчання цикад
червневий серпанок

Із густо тканої
зелені жабуриння
виринають пластикові пляшки
й розірвані спогади
Над облущеною шкірою
покинутої коханки
танцюють зграї комах
у ріжковому ритмі

***

Сестри

Вийняти скалку з ока
поставити крапку – підвести риску

Докори вкинути у палаючу ватру
Прийняти цей гнів, цей біль і сум,
попелясто-вогнисто
втягнути в себе весняне повітря

Видихати спогади: довго й глибоко
знаки питання
відправити у захмарене небо

Звільнитися
від
усіх цих
уявлень гонінь
бути ЖИВОЮ

***

Душевні кроки

Крок за кроком
обмежує старіюче тіло
свої функції
Різьбить у душу
нові рубці
згадує про дитячі дні
коли в безмовному стані
був простір буття
який у процесі зростання
все більше й більше
окупувався
словами й діями
що твердо вписувалися
до нього

***

Foto von der Prager Buchmesse 2022 vor dem Stand der Ukraine

Geborgenheit

Mitten im Gewühl der Prager Buchmesse
vor dem Stand der Ukraine

Bücher, Autorinnen, Menschen, Kinder

Es wird gelesen, gespielt, gesungen, gekocht
der Kopf - ob all der Eindrücke - will weg
da streift das Auge den Gang einer jungen Frau
sie trägt einen Karton voller Bücher
auf ihrem Rücken schläft friedlich ein Kind

Das sind die stillen Momente, die dem Herz
Mut, Vertrauen einflössen

Der  “Wiederaufbau des Menschlichen”
niedergeschrieben von Rupert Riedl
kommt mir in den Sinn,

immer wieder zurückkehren
zu diesem Augenblick,
den sinngebenden

***

Захищеність


У рейваху празького книжкового ярмарку
перед стендом України
книги, автори, гості, діти
тут читають, співають, граються, куховарять
голова повна вражень воліла б уже піти
аж тут моє око зачіпається за ходу молодої жінки

яка несе картонну коробку книжок
за спиною у неї мирно дрімає маля
Це саме ті негучні моменти,
що сповнюють серце мужністю і довір ям.
«Відбудова людського»
книга написана Рупрехтом Рідлем
приходить мені на думку,
завжди хочеться повертатись
до цієї прекрасної миті
сенсотворення.

***

 

Im Frühjahr 2022 der mit Claus Löser
gesponne Plan, nach Tscherniwzi zu fahren

Ich zitiere aus seinem Gedicht “Nicht einfach”

Nein einfach ist es nicht
alldem zu entkommen
den wortbrüchigen Hinterlassenschaften
unter den Dielen hinter den Giebeln
in den Schatullen nur
eine Feder die Garbe aus Haar
und eine silberne Münze
bargeschliffenes Antlitz des Herrschers
ausgelöscht wie ein Volk.

 

 

Jede Kunst überdeckt Narben
legt Wunden offen
in Wort, Bild oder Ton

Ich hänge an der Lebendigkeit
des Augenblicks
mit Ihnen jetzt
Danke!


Milena Findeis, Ins Ukrainische übersetzt von Petro Rychlo

Навесні 2022 року в нас із Клаусом Льозером
народився план приїхати в Чернівці

Я цитую з його вірша:

«Непросто»
Ні, це зовсім непросто
втекти від усього цього
віроломних спадків
під долівками
за фронтонами
у шкатулках лише
перо сніп волосся
і срібна монета
відшліфований лик
правителя
стертий як і його народ

Кожне мистецтво покриває рубці
роз’ятрює рани
у слові, барві чи звуці

Я дорожу щиросердям
цієї миті
разом з Вами.
Дякую.


Мілена Фіндайз, З німецької переклав Петро Рихло


 

Mitten im Ukrainekrieg: Ein Lyrikfestival: Das gute Leben nicht vergessen

6. September 2022, Süddeutsche Zeitung

Jurko Prochasko, Helmut Böttiger, Czernowitz 2022

Diskutierten  beim "Meridian"-Dichtertreffen in Czernowitz im September 2022: "FRAGILE: Ein Briefwechsel zwischen Jurko Prochasko und Helmut Böttiger, Übersetzung – Juri Silwestrow.
Ein Herantasten, ein Austausch die Begegnungen in Tscherniwzi im Rahmen von Meridian Czernowitz XIII

Foto: von links nach rechts Juri Silwestrow, Jurko Prochasko, Helmut Böttiger

Im Berenberg Verlag erschien im August 2023, Czernowitz, Stadt der Zeitenwenden von Helmut Böttiger. 88 Seiten · Halbleinen · fadengeheftet · 134 × 200 mm, ISBN 978-3-949203-71-8

Seite 55 III. September 2022 

"Pomeranzews Kleinbus kann acht Personen aufnehmen und reicht gerade für uns aus, als Gäste seines Festivals. Er hat uns am Flughafen im rumänischen Iași abgeholt. Das liegt immerhin zweihundert Kilometer von Czernowitz entfernt, aber die Flugverbindungen nach Iași sind vom Westen aus am günstigsten. Wir kommen schon gegen 14 Uhr in Iași an. Dennoch sind die Organisatoren wegen der Zeit ein bisschen nervös: Ab 22 Uhr gilt in Czernowitz absolutes Ausgeh- und Fahrverbot. Wir müssen spätestens dann im Hotel sein - das ist eine der Begleiterscheinungen des Krieges.
Dass das Meridian-Treffen in diesem Jahr überhaupt stattfindet, ist schon an sich eine Nachricht. Seit der sowjetischen Invasion am 24. Februar hat sich in der Ukraine alles verändert. Unter diesen Umständen das seit 2010 bestehende Lyriktreffen fortzusetzen geschieht aus Trotz, aus Stolz, aus Selbstbehauptungswillen. Gerade in dieser äußerst bedrohlichen Situation will man auch an ein kulturelles Selbstverständnis erinnern.”


 

Wie kann man im Krieg über Gedichte reden? Das Festival "Meridian" in Czernowitz zeigt eine Ukraine, die sich ihrer mehrsprachigen Identität versichert.

Von Helmut Böttiger

Dass das "Meridian"-Lyrikfestival in Czernowitz in diesem Jahr stattfand, ist schon selbst eine Nachricht. "Für die ukrainischen Streitkräfte" stand groß auf dem Programmplakat. Alles stand im Zeichen des Krieges. Jurko Prochasko, der bekannte Lemberger Intellektuelle, der an die galizische Tradition der Multikulturalität anknüpft, sagte: "Keinen Augenblick lang verlässt mich das Bewusstsein dieses Krieges und seiner erbarmungslosen Wirklichkeit", und so war es bei allen Beteiligten. Alle Gedanken und Gefühle werden vom Krieg aufgesogen und durchdrungen, man kann sich als ukrainischer Schriftsteller auf nichts anderes mehr konzentrieren, die üblichen Arbeiten - literarische Essays, Übersetzungen, Gedichte - bleiben liegen.

Die meisten haben in der ersten Zeit nach der russischen Invasion nichts mehr geschrieben. Langsam aber wurden die neuen Erfahrungen zum Thema, und das war bei diesem Treffen deutlich zu spüren. Es beginnt etwas kategorial Neues: Irena Karpa sprach von ihrer "Lähmung" und der Erkenntnis, sich jetzt auf den Krieg "einlassen" zu müssen, Kateryna Kalytko nahm die militärische Bedrohung direkt in ihre Metaphern auf, in denen die Panzerketten das Körpergefühl förmlich zu durchdringen scheinen. Dabei war es sehr berührend, dass Iryna Tsilyk bei alldem davon sprach, gerade jetzt die Sehnsucht nach einem "guten Leben" nicht zu vergessen. Ihr Mann Artem Tschech ist im Krieg und hatte gerade zwei Tage Fronturlaub. Als Jurko Prochasko sagte: "Er hat sehr traurige Augen" war das einer der Momente, die man so schnell nicht mehr vergisst.

Auf der dreitägigen Veranstaltung drängten sich die Programmpunkte, und es fiel auf, wie jung das Publikum war. Czernowitz ist eine Universitätsstadt, die alte habsburgische Grenzregion ist bisher vom Krieg verschont geblieben, aber die Literatur sieht sich hineingezogen in die barbarische Aktualität. Sviatoslav Pomeranzew, der Gründer des Festivals, sprach über den militärischen Begriff des "Hinterlands" als einer menschlichen und wirtschaftlichen Ressource für die Armee. Die Poesie aber sei ebenfalls "eine Ressource der Standhaftigkeit, der Lebensfreude und der Hoffnung."

 

"Mit welchen Katastrophen setzen sich Ihre Helden auseinander?"

Man konnte das in Czernowitz auf vielfältige und zunächst auch irritierende Weise erleben. Der aus den Befreiungsbewegungen stammende Ausruf "Slawa Ukrajini" am Ende der offiziellen Reden ("Ruhm der Ukraine") und die Antwort aus dem Publikum "Slawa Herojam" ("Ruhm den Helden") gehörten dazu, und so militärisch befremdend sich das für westliche Zugereiste ausnehmen mag: Das ist mittlerweile ein Akt der Selbstverständigung, die Versicherung einer neuen ukrainischen Identität. Und diese versteht sich vor allem als ein Gegenentwurf zum russischen Imperialismus. Der "ukrainische Nationalismus", das lernte man hier, ist ein Begriff, der vor allem von der russischen Propaganda lanciert wird und den man äußerst differenziert betrachten sollte.

Es gibt in der Ukraine zwar eindeutig nationalistische Strömungen, aber vorherrschend ist gerade im Kulturbereich etwas Anderes: eine Rückbesinnung auf die Tradition der Mehrsprachigkeit und des Zusammenlebens verschiedener Sprachgemeinschaften in demselben Raum. So wurden zu "Meridian" in den letzten Jahren immer auch bewusst Autoren aus Israel eingeladen, als Anknüpfung an die jüdische Geschichte von Czernowitz, so auch in diesem Jahr. Und es ist, angesichts der antisemitischen Haltungen in der ukrainischen Vergangenheit, nicht zu unterschätzen, wie Czernowitz sich in offiziellen Broschüren selbst darstellt: als eine Stadt, die "immer tolerant und offenherzig zu allen Nationen und Konfessionen" sein wollte. Man sollte das Bestreben der Ukraine, dem russischen Imperialismus inhaltlich etwas entgegenzusetzen, ernstnehmen. Wenn der deutsche Literaturhistoriker von einer Journalistin aus Kiew gefragt wird: "Mit welchen Katastrophen setzen sich Ihre Helden auseinander?" - dann ist das, trotz aller Verwirrung, vor allem als ein Versuch der Annäherung zu begreifen, eines gegenseitigen Verständnisses. Aber natürlich merkt man an solchen Formulierungen auch, welche Hürden dabei zu überwinden sind.

Der Krieg hat etwas ausgelöst, das Putins Intentionen gänzlich widerspricht

Die ukrainische Literatur sieht sich der Anforderung ausgesetzt, sich aus dem Schatten der russischen Sprache und Kultur zu befreien. Diese über Jahrhunderte aufgebauten Strukturen aufzubrechen, das ist das seit dem russischen Überfall alles beherrschende Thema, und jedes Gespräch in Czernowitz berührte zwangsläufig diesen Punkt. Das Ukrainische als Sprache der "Tölpel" und "Bauern", die Ukrainer als "Kleinrussen" - auch bei den großen russischen Schriftstellern wie Tolstoi und Puschkin wird dieser imperialistische Anspruch Russlands ganz selbstverständlich mit transportiert. Die Auseinandersetzung mit der russischen Kultur zu vermitteln, ist für die Ukrainer momentan im Gespräch mit westlichen Autoren das sensibelste Thema: Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Ukraine politisch und kulturell nicht als eine Art russischer Filiale wahrgenommen werden darf. Die ukrainische Sprache hat beispielsweise mehr Berührungspunkte mit dem Slowakischen und Polnischen als mit dem Russischen.


Berichterstattung über Meridian Czernowitz XIII

Claus Löser, Berliner Zeitung, Wochenendausgabe 17., 18. September 2022, Berichte über das Festival 2015, 2020
Helmut Böttiger, Deutschlandfunk Literaturfestival unter besonderen Bedingungen, Czernowitz, 6.9.2022
Jan Snela, Rose der Hoffnung in der Ukraine: Jan Snela über das Lyriktreffen in Czernowitz, SWR 2.9.2022

 

BILDERBOGEN MERIDIAN CZERNOWITZ  2022

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