MERIDIAN CZERNOWITZ
Claus Löser hatte als Journalist die Festivals im Jahre 2015 und 2020 besucht.
Im Frühjahr 2022 erhielt ich von ihm ein Mail, mit dem Vorschlag, Ende August 2022 - per PKW - gemeinsam nach Tscherniwzi - zum Meridian Czernowitz XIII - zu fahren. Diesen Vorschlag nahm ich gerne an, da mich Tscherniwzi nach den Besuchen in den Jahren 2010, 2011 und 2013 nicht mehr losgelassen hatte. Am 1.9. kamen wir nach dreitägiger Anreise über Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien - zu dritt - in der Universitätsstadt an. Am Abend vom 2. September kam es zu einem persönlichen Treffen zwischen Claus Löser, Jakobine Motz mit Igor Pomerantsev, der gemeinsam mit seinem Neffen Svyatoslav Pomerantsev und Iryna Vikyrchak den Grundstein für Meridian Czernowitz legten.
Milena Findeis, September 2022
Krieg und Poesie: Von der Reise zum Lyrikfestival „Meridian“ in der Ukraine
Ist es voyeuristisch, in den Krieg zu reisen? Zwischen Militärpatrouillen und Sandsäcken treffen sich in Czernowitz Dichter aus aller Welt.
Claus Löser 16.09.2022
Sandsäcke in der Stadt der Dichter. In Czernowitz sind bisher keine Bomben eingschlagen, doch auch hier bestimmt der Krieg den Alltag. Foto Jakobine Motz
Raben fliegen uns voraus. Sie stoßen vom grau verschlossenen Himmel hinab, um sich in Gruppen auf den Dächern der Grenzabfertigung niederzulassen. Sie scheinen dort auf uns zu warten, ihr struppiges Gefieder aufgebläht. Die Kolonne aus Blech und Menschen ruckelt weiter, Meter für Meter, vor und hinter uns PKWs und Kleinbusse mit rumänischen und ukrainischen Kennzeichen. Fußgänger schlängeln sich mit ihren Rollkoffern und Rucksäcken zwischen den Fahrzeugen hindurch, vor allem Frauen, manche mit Kindern im Arm. LKWs werden gesondert abgefertigt, mehrere hundert Meter stauen sie sich ins rumänische Hinterland.
Als wir nach zwei Stunden an der Demarkationslinie ankommen, werden unsere Pässe eingesammelt, zwei aus Deutschland, einer aus Österreich. Wir sind hier die Exoten. Wer bereist freiwillig ein Land im Kriegszustand? „Kuda? Potschemu?“ fragt der grimmige Mann hinter dem Schalter. „Kulturnaja konferenzja“, antworte ich. Meine DDR-Schulvokabeln sind eingerostet. Und ich weiß, dass hier Russisch nicht mehr benutzt wird, mehr noch: gar nicht mehr gehört werden will. Wortlos gibt der Grenzsoldat die drei Pässe an seine Kollegin vom Zoll weiter. Mit einem halben Dutzend weiterer Fahrzeuglenker stehe ich am Kontrollpunkt herum, die Raben über uns.
Das System ist etwas undurchsichtig, die Stimmung gereizt. Auf dem Asphalt tummeln sich mehrere Hunde, die zwischen den Beinen der Wartenden herumwuseln. Herrenlose Tiere, wie überall in Rumänien und der Ukraine. Sie akzeptieren keine EU-Außengrenzen. Als einer der nervösen Kläffer ungehindert auf die andere Seite wechselt und sich dort gemütlich niederlässt, weicht die Anspannung. Alles lacht. Kurz darauf werden die Pässe abgestempelt, die Reise geht weiter. Nehmen auch die Raben wieder ihren Flug auf? Egal, wir haben es fast geschafft, neue Eindrücke prasseln nieder. Hinter uns liegen fünf Länder und knapp 1700 Kilometer, vor uns nur noch rund 40 Minuten. Dann werden wir unser Ziel, die Großstadt Tscherniwzi im Südwesten der Ukraine, erreicht haben.
Es gibt (noch) keinen Grund zum Feiern
Wir fahren auf löchriger Piste, gegenüber zur Linken steht LKW an LKW, es nimmt kein Ende. Der Stau in Fahrtrichtung Rumänien reicht bis zur Stadtgrenze, etwa 30 Kilometer lang. Später erfahren wir, dass die Fahrer zwischen zehn und vierzehn Tagen warten müssen, um in die EU zu gelangen. Wie hält man das aus? Wir begreifen, dass wir Luxusreisende sind. Auch beim Einzug in die komfortable Ferienwohnung mitten im Zentrum begleitet uns noch ein leicht ungutes Gefühl. Mit welchem Recht fahren wir hierher, mitten im Krieg? Grenzt das nicht an Voyeurismus?
Wenig später, auf der Universitetska Vuliza, spricht uns ein älterer Herr an, auf Deutsch. „Guten Tag, liebe Freunde!“, sagt er, mit strahlendem Lächeln, und deutet eine Umarmung an. Plötzlich fühlen wir uns willkommen. Noch mehrfach werden sich solche Gesten wiederholen. Im Supermarkt hebt sich die Kassiererin von ihrem Sitz, macht einen Knicks, haucht „Dyakuyu“. Im Eckladen will man uns das Mineralwasser schenken. Im Café werden wir euphorisch mit Händen und Füßen nach Berlin befragt. Es fühlt sich gut an, hier zu sein, gerade jetzt.
Der Grund der Reise ist die Poesie. Bereits zum 13. Mal findet in der legendären „Stadt der Dichter“ (Edith Silbermann) ein Lyrikfestival statt. Zwei Mal war ich aus gleichem Anlass schon hier. Diesmal fällt aus aktuellem Anlass der Begriff „Festival“ weg, zurückhaltend wird von einem „Lyriktreffen“ gesprochen. Denn es gibt (noch) keinen Grund zum Feiern. Der Name des Treffens „Meridian“ und geht auf Paul Celan zurück, den berühmtesten Sohn der Stadt. Er wurde hier am 23. November 1920 als Paul Antschel geboren. Damals gehörte die einstige Metropole des K.-u.-K.-Kronlandes Bukowina zu Rumänien und hieß Cernăuți. Wir befinden uns in einer Stadt mit vielen Namen, in der Jahrhunderte lang kulturelle und sprachliche Impulse zusammen flossen: ukrainische, jüdische, deutsche, polnische, rumänische, armenische, ungarische, türkische und russische.
Halten wir uns an die alte österreichisch-ungarische Namensvariante, an Czernowitz also. Ihre Zeit zwischen 1774 und 1918 schuf in besonderem Maße Verknüpfungen, flocht Netze, zog pulsierende Verbindungslinien, von denen bis heute Signale der interkulturellen Verständigung ausgehen. Celan erdachte als Entsprechung für die vertikal verbindende Energie von Geographie und Dichtung die Metapher eines Meridians. „Ich finde etwas Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes... ich finde... einen Meridian.“, äußerte er in seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises im Oktober 1960, für ihn ungewohnt optimistisch.
Die Stadt der Genies
Es ist noch immer keine Selbstverständlichkeit, als Deutscher in Czernowitz willkommen zu sein. Die deutschsprachige, jüdische Kultur wurde von Deutschen ausgelöscht, ihre Träger von Deutschen ermordet. Neben Celan hinterließen hier zahllose weitere Sprachschöpfer ihre Spuren, nicht nur jüdische. Ob der rumänische Nationaldichter Mihai Eminescu (1850–1889) oder die ukrainische Nationaldichterin Olha Kobyljanska (1863–1942), der aristokratische Erotomane Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895), der Romancier und Reiseschriftsteller Karl Emil Franzos (1848–1904), der Unterhaltungsautor Gregor von Rezzori (1914–1998), der Lyriker und Prosaist Alfred Kittner (1906–1991) oder weitere jüdische Autorinnen und Autoren wie Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942), Alfred Margul-Sperber (1898–1967), Rose Ausländer (1901–1988), Immanuel Weissglas (1920–1979), Edith Silbermann (1921–2008), Josef Burg (1912–2009) und Aharon Appelfeld (1932–2018).
All sie und weitaus mehr, weniger prominente, lebten und wirkten in dieser Stadt – ein kulturhistorisches Phänomen ersten Ranges. Es muss hier ganz spezielle Schwingungen geben, eine Art Poesie-Virus vielleicht, der in den Gassen und Parks schwebt, sich verbreitet von Generation zu Generation. Und dies trotz brutalster Eingriffe von außen in Form von Krieg, politischer Verfolgung und Völkermord.
Dass an die poetische Tradition nicht nur erinnert, sondern auch aktiv angeknüpft wird, ist wesentlich ein Verdienst des Meridian-Festivals. Autor Igor Pomeranzew, prominentester Dissident aus sowjetischen Zeiten mit Czernowitzer Wurzeln, meinte einmal ironisch, er habe fliehen müssen, weil es hier einfach zu viele Genies gegeben hat. Sobald dies nach dem Ende der UdSSR möglich war, kehrte er jedoch umgehend aus seinem bundesdeutschen Exil in die nunmehr unabhängige Ukraine zurück, zumindest besuchsweise. Maßgeblich ihm ist es zu danken, dass hier seit 2010 alljährlich das Poesiefestival ausgerichtet wird.
Die Idee dazu wurde erstmals Ende 2008 in seiner Küche diskutiert, Beratung gewährte die „Zeitzug“-Erfinderin Milena Findeis und die Prager Buchmesse „Writers’ Festival“. Zur kurz danach gegründeten Initiativgruppe gehörten neben Igor Pomeranzew auch sein Neffe Sviatoslav, der Celan-Übersetzer und Literaturwissenschaftler Petro Rychlo sowie unter anderen die Dichter Serhij Zhadan und Jurij Andruchowytsch. Erste Direktorin war Iryna Vikyrchak, seit 2013 fungiert Evgenia Lopata als Meridian-Leiterin. Mit internationaler Unterstützung, nicht zuletzt auch aus Deutschland, konnte auf der einstigen Herrengasse (jetzt: Olha-Kobyljanska-Boulevard) das Paul-Celan-Literaturzentrum eingerichtet werden, das heute als Basis und Hauptschauplatz der Veranstaltungen dient.
So trafen sich hier also auch in diesem Jahr, mitten im Krieg, Dichterinnen und Dichter aus der Ukraine, Israel, Österreich, Deutschland und der Schweiz, um ihre zerbrechlichen Worte der gegenwärtigen Totalität von Gewalt entgegenzuhalten. Die Lesungen wurden von Gesprächen, Buchpräsentationen und einer Ausstellung gerahmt. Durch die zentrale Lage des Paul-Celan-Zentrums ist das Festival bestens in das urbane Treiben eingebettet. Viele Neugierige blieben stehen, nahmen Anteil. „Meridian“ ist ganz offensichtlich im kulturellen Alltag der Stadt zu Hause.
Der Krieg ist auch ohne Bomben allgegenwärtig
Czernowitz bleibt zwar bislang die einzige Großstadt des von Russland überfallenen Landes, in dem noch keine Bomben oder Raketen niedergegangen sind. Keine der Lesungen musste wegen Luftalarms in einen der dafür vorbereiteten, innerstädtischen Schutzbunker verlegt werden. Dennoch sind die aktuelle Aggression durch Russland und das Aufbäumen des sehr viel kleineren Landes allgegenwärtig. Zu den zirka 160.000 Einwohnern sind rund 100.000 Binnenflüchtlinge gekommen. Das öffentliche Leben verläuft gebremst. Militär patrouilliert, Sandsäcke schützen Türen und Fenster. Große Kinos haben den Betrieb eingestellt, die Theater und Konzerthäuser bieten nur ernste Kost. Restaurants schließen um 22 Uhr, eine Stunde später tritt die Ausgangssperre in Kraft.
Neben diesen fast unwesentlichen Einschränkungen gibt es auch schwerer wiegende Folgen. Eine mentale Radikalisierung ist unübersehbar, wie sollte es in Kriegszeiten auch anders sein. Derzeit gilt: „Der Tod ist ein Meister aus Russland“, wie es Pomeranzew, Celan persiflierend, zuspitzt. Es wird Jahre dauern, bis all der von Moskau ausgeschüttete Hass, Zynismus und Tod sich wieder aus dem Straßenbild und vor allem aus den Herzen verlieren werden. Poesie kann dabei helfen, wenn auch nur sehr bedingt. Ihre Kraft basiert in der Stille. So spielte die Zerbrechlichkeit der Sprache, ihre Fragilität und auch Flüchtigkeit in vielen Lesebeiträgen eine zentrale Rolle.
Die Lyrikerinnen Nora Gomringer und Judith Schifferle mit dem Übersetzer Petro Rychlo. Foto: Jakobine Motz
Extrem hilfreich in diesem Zusammenhang war, dass mehrere deutschsprachige Gäste bereits Erfahrungen mit der Ukraine mitbrachten, das Land in der Vergangenheit mehrfach bereist hatten und ihre Eindrücke in aktuelle Texte einfließen lassen konnten. Nora Gomringer ging in „Kosmos Lemberg“ den Spuren der eigenen Familie während des Zweiten Weltkriegs nach. Helmut Böttiger, der sich bereits 1993 in Czernowitz auf die Suche nach Celans Spuren begeben hatte, trat mit dem Lemberger Autor und Psychoanalytiker Jurko Prochasko in einen dynamischen Erinnerungs- und Gegenwartsdialog. Judith Schifferle, als Lyrikerin und Vermittlerin immer wieder unterwegs in der Ukraine, nahm den Krieg zum Anlass für unsentimentale Selbstbefragungen: „Ich habe gelernt, dass übers grüne Land ein roter Faden / in die Erzählung führt, zu den Toten in die Furchen des tiefschwarzen Ackerlands. (…) Ich habe gelernt, dass Schreiben antritt gegen Trauer ohne Trost / und dass Wahrheit erst in Trauer reift.“ Nach vier Tagen passieren wir wieder die Grenze Richtung EU, am Kontrollpunkt von den Raben erwartet. Mit uns fahren Trauer und Glück. Wir werden wiederkommen.
Meridian-Lyrikfestival: Czernowitz ist die Metropole der Poesie
Claus Löser, Berliner Zeitung, 12.9.2020
Im Jahr des 100. Geburtstages von Paul Celan fand in dessen Geburtsstadt das elfte Meridian-Lyrikfestival unter Ausnahmebedingungen statt.
„Meridian“ ist weit mehr als ein Celan-Festival. Seinen Initiatoren geht es um die lebendige Erinnerung an einen ganzen Kulturraum, der einst zu den wesentlichen Impulsgebern europäischen Denkens gehört hat. Bis 1940 bildete Czernowitz einen einzigartigen kulturellen Schmelztiegel aus ukrainischen, deutschen, rumänischen und nicht zuletzt jüdischen Einflüssen. Neben Paul Celan wurden hier auch u. a. Rose Ausländer, Gregor von Rezzori, Itzik Manger und Aharon Appelfeld geboren. Karl Emil Franzos, Josef Burg, Leopold von Sacher-Masoch und Hermann Bahr verbrachten hier ebenso wesentliche Jahre ihres Lebens wie der rumänische Nationalpoet Mihai Eminescu (1850–1889) oder die heute als Begründerin der modernen ukrainischen Dichtung gefeierte Olha Kobyljanska (1863–1942). Es ist merkwürdig – aber hier, in dieser durch historische Glücksfälle architektonisch fast vollständig erhaltenen, habsburgisch geprägten Provinzmetropole, gibt es ganz offenbar ein magisches Moment, das über Jahrzehnte hinweg zu einer „poetischen Kontinuität“ geführt hat. Gleichzeitig findet die aktuelle literarische Szene ein Podium. Um dies nachzuvollziehen, muss man sich vor Ort begeben. Und genau das ist weit leichter gesagt als getan; erst recht in Zeiten von Covid-19.
Die Pandemie hat in Czernowitz neue Rahmen gesetzt
Auf der heute nach Olha Kobyljanska benannten einstigen Herrengasse drehen allabendlich Hunderte von Menschen ihre Runden. Der überall in Südosteuropa praktizierte „Korso“ flutet hier vom Ringplatz vor dem Rathaus mit dem noch unter Kaiser Franz Joseph verlegten Kopfsteinpflaster bis zu einer Straße mit dem früher so schönen Namen „Neue-Welt-Gasse“ (jetzt, nüchtern: Shevchenka) und dann wieder zurück. Hochzeiten werden gefeiert, Straßenmusiker spielen auf, Luftballons steigen in die Höhe. Das geht so stundenlang, immer im Kreis, mehrheitlich maskenlos. Der Weg führt dabei auch am Paul-Celan-Center vorbei, dem Hauptveranstaltungsort des Meridian-Festivals. Doch hat die Pandemie auch hier, wie überall sonst in der gegenwärtigen Welt, neue Rahmen gesetzt. Sämtliche angekündigten Autoren aus Israel, Rumänien und dem deutschsprachigen Sprachraum haben abgesagt. Nur ein einzelner Journalist aus Berlin ist angereist. Alle Veranstaltungen finden in hybrider Form als Online-Stream statt. Das bringt durchaus Vorteile mit sich: So stehen die Lesungen und Diskussionen auf der Facebook-Seite des Festivals allen Interessenten zur Verfügung, und das auch in deutscher Fassung! Es zeigt sich in der modifizierten Form umso deutlicher, dass die gegenwärtige ukrainische Literatur von ungeheurer Vitalität ist.
Neben den beiden unermüdlichen Poeten Juri Andruchowytsch (Jahrgang 1960) und Serhij Zhadan (Jahrgang 1974) – die in ihrer Heimat wie Popstars gefeiert werden – gibt es inzwischen scharenweise junge und selbstbewusste Schriftsteller, die sprachlich und inhaltlich nach ganz eigenen Wegen suchen. „Meridian“ öffnete sich inzwischen zur Prosa. Höhepunkt war hier die Premiere des 600-Seiten-Opus „Amadoka“ von Sofia Andruchowytsch, in dem sich die Abgründe von mehr als drei Jahrhunderten ukrainischer und damit europäischer Historie zu einem ebenso dichten wie fatalen Kaleidoskop verweben.
Der Dichter der „Todesfuge“, Paul Celan
Überhaupt fällt das kritische Geschichtsbewusstsein der meisten Veröffentlichungen auf. Fragt man nach den aktuellen Ereignissen im Osten der eigenen Heimat oder im nördlich benachbarten Belarus, so werden die Minen ernst. Seit mehr als fünf Jahren befindet sich das Land in einem partiellen und unerklärten Krieg mit dem übermächtig-imperialen Russland. Rezepte, wie mit diesem Krieg und der eigenen Identität umzugehen sei, gibt es keine, Widersprüche umso mehr. Eine Gymnasiastin etwa fand es mir gegenüber völlig in Ordnung, dass im gegenwärtigen ukrainischen Lehrplan außer Puschkin kein einziger russischer Dichter mehr vorkommt: weder Tolstoi noch Dostojewski, von Majakowski ganz zu schweigen. Freiheit sei zwar ein wichtiges Gut, aber zu viel Freiheit schade der Demokratie, hört man. Die „normalen Leute“ bräuchten eine Orientierung, sonst fänden sie sich in der modernen Welt nicht mehr zurecht.
In Bezug auf die eskalierende Gewalt in Minsk und anderen Orten von Belarus fallen Empathie und Solidarität leidenschaftlich aus. Den Belarussen gegenüber fühlt man sich als große Schwesternnation, die den Prozess der Emanzipation von Moskau bereits vollzogen und den Weg zur Demokratisierung eingeschlagen hat. Auf die Frage, was denn konkret als Hilfestellung geleistet werden kann, verweist die junge Journalistin Olena aus Kiew auf eine ganze Palette an Möglichkeiten. Aufklärung über die Propagandamaschinerie Moskaus zum Beispiel, aber auch durch Online-Geldsammlungen, mit denen die extrem unter Druck stehenden unabhängigen Medien in Belarus unterstützt werden können.
Auf die Situation passt überraschenderweise das Ende eines Liebesgedichts von Paul Celan: Das Gedicht trägt den Titel „Corona“.
„Es ist Zeit, dass man weiß!
Es ist Zeit, dass der Stein zu blühen sich bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, dass es Zeit wird.“
Das Lyrikfestival „Meridian“ fand vom 4. bis 6. September 2020 in Czernowitz, Südwestukraine statt. Sämtliche Veranstaltungen sind mit deutschen Übersetzungen unter www.facebook.com/meridiancz/ abrufbar. Siehe auch: www.meridiancz.com/de
Von Czernowitz nach Tscherniwzi und zurück
Das Festival “Meridian Czernowitz” erinnert an die Literaturlandschaft in der Hauptstadt der Bukowina, die heute zur Ukraine gehört
Von Claus Löser
Feuilleton Berliner Zeitung, 17. September 2015
Noch schnell drei Widmungen in die entgegengestreckten Gedichtbände, noch zwei Selfies von Fans mit dem Dichter, bevor Jurij Andruchowytsch das Podium unter Beifall erklimmt, um dort seine Texte vorzutragen. Er ist der unbestrittene Star des Lyrikfestivals “Meridian Czernowitz” und jeden Tag irgendwo präsent. Auch Iryna Tsilyk und Serhij Zhadan sowie weitere, weniger bekannte Schriftsteller der Ukraine wurden im zentralen Kulturhaus und anderen Veranstaltungsorten von ihren Landsleuten teilweise wie Popstars gefeiert.
Diese Euphorie für Gedichte und ihre Urheber ist beneidenswert, weil hierzulande völlig unvorstellbar. Sie zeigt auch, dass das Konzept des bereits zum sechsten Mal stattfindenden Unterfangens aufgeht. "Meridian Czernowitz" hat es sich zur Aufgabe gemacht, Czernowitz zurück auf die kulturelle Landkarte Europas zu bringen. Hier lebten und wirkten einst Karl Emil Franzos, Mihai Eminescu, Leopold von Sacher-Masoch, Itzik Manger, Gregor von Rezzori, Georg Drozdowski, Aharon Appelfeld, Alfred Margul-Sperber oder Rose Ausländer.
Hier wurde im November 1920 Paul Antschel geboren. Er stieg später als Paul Celan zu einem der prägnantesten Schöpfer deutschsprachiger Lyrik auf. Er ist der Schutzheilige der literarischen Renaissance in seiner Geburtsstadt.
Es gibt in der westukrainischen Provinzhauptstadt heute wieder eine literarische Szene, mit der an die sich zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und 1940 entfaltenden Blütezeit angeknüpft wird. Es gibt diese Szene zumindest vier Tage lang im Jahr - wenn zahlreiche Poeten aus der Ukraine sowie aus Österreich, Rumänien, Deutschland und der Schweiz vor dem größtenteils ebenfalls von nah und fern angereisten Publikum ihre Texte vortragen.
Die mythenumrankte Stadt allerdings, zu der auch jenseits des Festivals viele Bildungsreisende, Literaturliebhaber und Familienforscher pilgern, um hier für ein paar Tage zu bleiben, gibt es nicht mehr. Der letzte große Krieg hat äußerlich in der Bukowina-Metropole kaum Verheerungen hinterlassen. Die meisten Häuser stehen noch. Sie bilden die pittoreske Kulisse einer ambivalenten Erinnerungskultur. An manchen Häusern prangen Plaketten mit Hinweisen, welche prominenten Menschen dort einst gelebt haben.
Doch die genealogische Spur ist abgerissen. Mit Beginn der 1940er-Jahre hat es in Czernowitz einen fast vollständigen Austausch der Bevölkerung gegeben. Heute heißt die Stadt Tscherniwzi und wird mehrheitlich von Ukrainern bewohnt - welche 1940 rund 20 Prozent der Einwohnerzahl stellten. Der Rest setzte sich damals aus Rumänen, Polen, Roma und Deutschen zusammen. Und Juden - Czernowitz war eine jüdisch geprägte Stadt, in der die deutsche Sprache dominierte. Dieses Kapitel ist kulturgeschichtlich immens nachhaltig, aber als gelebte Gegenwart irreversibel zu Ende. Die Gründe sind bekannt.
Während des Festivals schlugen viele Veranstaltungen eine Brücke zur Geschichte und thematisierten ihre Präsenz im Jetzt.
So ging es im Panel “Das österreichische Gestern und das ukrainische Heute” um die einstige bukowinische Kulturvielfalt und um die Frage, ob davon heute noch etwas nachwirkt. Die Journalistin und Schriftstellerin Tanja Maljartschuk warnte von einer Idealisierung der K.-und-K.-Ära. Es würden damit doch die immanent-chauvinistischen Strömungen der Habsburger Zeit ausgeblendet. Der österreichische Dichter Peter Waterhouse, der sich auch in seinen eigenen lyrischen Texten (wie Celan, über den er promovierte) mit den Schwellen von Vergessen und Erinnern beschäftigt, verwies in der Diskussion auf aktuelle Grenzen zwischen Manifestierung und Auflösung.
Die “Todesfuge” auf Hebräisch
Sprachlich grenzüberschreitend waren sämtliche Lesungen, da meist billingual auf Ukrainisch und Deutsch. Der israelische Lyriker Jonatan Berg erweiterte diesen Sprachraum auf eine neue Dimension. Vor Beginn seiner Lesung rezitierte er die “Todesfuge” auf Hebräisch. Er brachte damit Celans berühmtestes Gedicht - in der Übertragung von Shimon Sandbank - zurück an den Geburtsort des Dichters.
Einen weiteren, besonders eindrucksvollen Begriff des “Übersetzers” von einem textlichen Ufer zum anderen vermittelte die Präsentation von Paul Celans Buch “Die Niemandsrose” (1963) in ukrainischer Übersetzung. Petro Rychlo, der seit 2013 das Paul Celan Literaturzentrum Czernowitz leitet, las gemeinsam mit seinem Kollegen Mark Belorusets Auszüge wechselnd auf Deutsch, Russisch und Ukrainisch.
Petro Rychlo, dem auch die lesenswerte Anthologie “Europa erlesen - Czernowitz” (Wieser Verlag) zu verdanken ist, bildet gemeinsam mit Belorusets und dem heute in Prag lebenden Igor Pomeranzew das intellektuelle Herz des “Meridian-Czernowitz”-Festivals. Neben diesem Trio verblasste auch manch anderes zur Dekoration.
Keine Dekoration ist die Allgegenwart der patriotisch-militärisch aufgeheizten Atmosphäre jenseits des Festivals; schließlich bewegt sich die Ukraine derzeit auf einer ungewissen Schwelle zwischen Krieg und Frieden. Da gibt es kaum einen Gartenzaun oder Laternenpfahl, der nicht mit dem blau-gelben Nationalfahnen drapiert wäre. Auf den Plakatwänden prangen Kämpfer in Uniformen. Monitore im Hotel oder in öffentlichen Gebäuden werde mit Aufnahmen von Tumulten oder Kriegshandlungen bespielt. Kadetten sammeln im Nachtzug für die “Helden des Vaterlands.”
Unter die sonst äußerst adrett gekleideten Flaneure, die sich zum abendlichen Korso auf der früheren Herrengasse versammeln mischen sich zahlreiche Männer in Camouflage. Nicht zufällig deklamiert Lyrik-Star Zhadan ins Mikrofon: “Töte mich Bruder, ich bin wie du!”
©Claus Löser, geb. 1962 in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz). Studium an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg, Dr. phil. Seit 1990 Programmgestalter für das »BrotfabrikKino« in Berlin, freier Filmkritiker, zahlreiche Ausstellungen und Publikationen
Das fliegende Auge: Fünf Filme für Paul Celan
Es gibt eine Reihe sehenswerter Filme, die sich dem Leben und Werk des Dichters Paul Celans widmen. Notizen zu einer nicht stattfindenden Retrospektive. Claus Löser