Gehört: Zwei Stimmen aus Czernowitz

Milena Findeis

Aharon-Appelfeld-Christa-KarasPrag.  Im April 2004 mit Aharon Appelfeld und seiner Frau, Michael und Vlasta March, Spiros Vergos und Ludvik Vaculik von Prag nach Wien geflogen. Anlaß: Das Prague Writers' Festival macht Station in Wien, um den Spuren von Joseph Roth zu folgen. Wie aktuell: Jörg Haider hat das BZÖ gegründet und die Stimmung in Österreich schlägt orange Wellen. Appelfelds "Badenheim" im Hinterkopf bei der Landung in Wien Schwechat. Es teilt sich der Strom der Reisenden: Staatsbürger eines EU-Staates oder Nicht--EU-Staates. Die Kontrollbeamten in ihren Glasboxen kontrollieren. Das Dokument wird gescannt, durchgewunken.
Wie oft hat Aharon eine Grenze überquert, ohne Papiere — auf der Flucht. Er bevorzugt Englisch, manchmal bricht ein Satz in deutscher Sprache durch. Im Alter von acht Jahren der Familie entrissen, das Entkommen, das Untertauchen, das Überleben. Seine Stimme klingt ruhig, er lacht mitunter, nicht der Mund, vor allem die Augen. Wien, der erste Besuch als Kind auf Sommerfrische, jetzt als Gast eines Festivals: dazwischen liegen 48 Jahre. Aus seinem Munde nahm das Wort "Czernowitz" einen Klang an, dem ich folgen wollte. Wir wanderten durch Wien, drei Tage lang, abends die Diskussionen und Lesungen. In der Buchhandlung von Dorothy Singer* in der Bräunergasse wird Aharon Appelfeld bei der Suche nach seinen Büchern erkannt. Er kauft zwei Bücher. Bei einem anschließenden Kaffeehausbesuch signiert er die beiden Bücher, eines für Christa Karas (links im Bild), eines für mich. "Zeit der Wunder". An was anderes glauben? Nein ... 

Am 4. Jänner 2018 ist Aharon Appelfeld 85-jährig gestorben. "Wörter", so schrieb er, "halten großen Katastrophen nicht stand; sie sind schwach, erbärmlich und im Nu verfälschen sie".

 

Im September 2007, wieder ein Besuch im in der Buchhandlung von Dorothy Singer* in Wien,  dieses Mal in Begleitung von Igor Pomerantsev auf der Suche nach dem, Buch "Czernowitz" herausgegeben vom Wieser Verlag. Dort "Kindheit in Czernowitz" .... "Und jetzt beginnt Czernowitz! Steht auf - wie ihr immer aufsteht, wenn man von der Liebe spricht. Diese Stadt ist aus Verschweigen, Rauch und Geschrei erbaut. In ihren Höfen, wo die Regen weiden türmen sich verzerrte Vögelkäfige auf und halbbehaarte Katzen reiben sich an aschernen Tauben. An ihren Mauern und Wänden sieht man blinde Fenster, von Simsen umrahmt, steiernen Andeutungen. Es schaut so aus oder es drang einmal ein feindliches Heer ein, und die Stufen vergruben sich sinnlos in jene Stelle, wo eine Tür sein sollte, - so hätte ein Alchemist auf dem Sterbebett nur die Hälfte seines Geheimnisse lüften können. Czernowitz ist weggeschwemmt von seinen Querstraßen. Auf irgendeinem Rand, in irgendeinem Widerhall der Stadt, wo Geruch und Farbe eins sind, brechen die Pappeln durch ..." Igor Pomerantsev übersetzt von Peter Rychlo. Beide werden am Lyrikfestival "Meridian Czernowitz" teilnehmen, dass im Herbst 2010 Premiere hat.

*Jänner 2018: Die Buchhandlung von Dorothy Singer in der Bräunergasse, Jüdisches Museum, wurde abgelöst von einem Museumshop. Zukünftig werde ich in Wien, zum Rabensteig 3 wandern, dem neuen Standort der Dorothy Singer Buchhandlung.

Czernowitz: Vor-Erinnerung

Gedacht Celan/Bachmann

Herbst 2010

Verschlungen im Wortsinn
Brücken einer Verbindung
Ein Stück gemeinsame Erinnerung
nach Ende des Krieges

Stumme Wand aus Verwundetsein
Er, der Sohn von Opfern
Sie, Tochter eines Vaters, der dem
Heer der Täter diente

Äußere Blessuren vernarben
innere Fronten versanken 
Eine rote Mohnblume erweckt
das Ohnmachtsgefühl neu

Das Feuer hat sie in den Tod gezogen
nach seinem Ertrinken in der Seine
Festhalten läßt sich keine Schuld,
keine Liebe

Jedem gegeben
des Lebens eigener Hauch

 

 ©Milena Findeis