Das Erinnerungsvirus greift um sich

Ein Film mit der Erschießung Deutscher in Prag nach 1945 erschüttert Tschechien und das Prager Literaturfestival

©DIRK SCHÜMER, FAZ

Kaum eine europäische Stadt besteht so sehr aus Literatur wie Prag. Selbst Massentouristen bekommen in den verwinkelten Gassen der Kleinseite, im Schatten des Hradschin oder mit Blick auf die Türme rund um den Altstädter Markt eine Ahnung von jüdischen Sagen um den Golem, von Kafkas gemarterter Introspektion oder vom Hundefänger Sveijk, der aus der Urkatastrophe Europas stetig zurückstrebte in sein Prager Kneipenidyll. Das Land erlebt nun - damit komplett eingebettet in Europa - die Wiederkehr einer verdrängten Vergangenheit, die so gar nicht zum Bild des friedlichen Opferlandes Tschechien passen will. Und wieder sind es die Schriftsteller, die den Gespenstern einer ganzen Epoche ein Gesicht geben: Es geht um die vertriebenen und ermordeten Deutschen nach 1945.

"Ketzerei und Rebellion" lautete das Motto des diesjährigen Prager Literaturfestivals - passend für eine Stadt, die mit Jan Hus einen ketzerischen Rebellen als Gründervater mit einem Riesendenkmal auf dem Marktplatz ehrt. Nur wendet sich die vielbeschworene pfiffige Widerstandskraft, die den jahrhundertelang fremdbestimmten Tschechen eigen sein soll, nun gegen ihr eigenes Selbstbild. Von den "Leichen im Keller" erzählt die Autorin Radka Denemarková, als sie auf der Bühne des Schwarzen Theaters die Motive ihres Schreibens benennt. "Geld von Hitler" heißt im Original ihr Roman, mit dem sie vor zwei Jahren das Tabu gebrochen hat, über die Ungerechtigkeit der Rache an "den Deutschen" zu sprechen.

Das Buch handelt vom schlimmen Schicksal der Gita Lauschmannova, die als Halbwüchsige zwar Auschwitz überlebt, danach aber von den tschechischen Dorfbewohnern misshandelt und vertrieben wird, weil man sich das Erbe des jüdisch-deutschen Fabrikbesitzers bereits aufgeteilt hat. Und was noch schlimmer ist: Auch bei ihrer Wiederkehr ins Dorf Puklice im Jahr 2005 sind die Nutznießer nicht bereit, ihre Schuld einzugestehen. Radka Denemarková hat für ihren Roman, der auf Deutsch den harmlosen Titel "Dieses herrliche Fleckchen Erde" verpasst bekam, den renommiertesten tschechischen Literaturpreis erhalten und wirkt - Jahrgang 1968 - komplett unbefangen im Umgang mit den Leichen im Keller der nationalen Vergangenheit. Für sie ist das bereits ein Thema unter vielen.

Hans Magnus Enzensberger, der in Prag mit Charme und Ironie das einstige Feindesland vertrat, hält die Aufarbeitung der Vertreibung nur für "förderlich für die Gesundheit dieser Gesellschaft". Frantisek Cerný, einst Botschafter in Berlin, der jetzt den Fonds des Prager Literaturhauses leitet, vergleicht die Bewusstwerdung mit der russischen Reaktion auf die Massaker von Katyn. Während die Verbrechen der Roten Armee erst mit einem Film Andrzej Wajdas zum Thema wurden, sorgt in Tschechien ein Amateurfilm für Aufsehen, der Erschießungen Deutscher in Prag dokumentiert. Die Ausstrahlung im nationalen Fernsehen erledigte endgültig die Lesart, damals sei das deutsche Verbrechervolk mit ein paar Ruppigkeiten, aber zu Recht und auf ziviler Grundlage außer Landes gewiesen worden.

Dass vorige Woche erstmals mit einer Gedenktafel des Massakers von Postoloprty/Postelberg gedacht werden konnte, ist indes lokalen Initiativen zu verdanken. Cerný sieht noch viel Sympathie für die Vertreibung im Land und erinnert daran, dass Präsident Klaus zuletzt seine schwindende Popularität steigern konnte, indem er die Lissabon-Verträge mit Hinweis auf die Gültigkeit der Benes-Dekrete anfocht. In der belebten Jecná-Straße, wo das Haus der deutschsprachigen Prager Literatur seinen Sitz hat, erzählt Cerný von den jahrzehntelangen Widrigkeiten, Autoren wie Kafka, Rilke, Kisch, Werfel, Perutz in ihrer Heimatstadt zu ehren. Sogar die Förderung durch den deutsch-tschechischen Zukunftsfonds und die Bosch-Stiftung erzeugte Missstimmung: Warum gibt es das nicht für die tschechische Literatur?

Mit Stipendien für Autorenaustausch, einer Bibliothek und Lesungen möchte die Direktorin Lucie Cernohousová antideutsche Vorurteile entkräften. Gelehnt an den Schreibtisch von Lenka Reinerová, den diese dem Institut vererbt hat, erzählt sie von dieser letzten großen Vertreterin der Exilgeneration Max Brods, die maßgeblich an der Gründung des Literaturhauses beteiligt war, aber die Eröffnung nicht mehr erlebt hatte, als sie 2008 über neunzigjährig starb. Nun ist es die junge Generation, die ihre Erzählungen über das untergegangene Böhmen weiterspinnt. Zu nennen ist Jaroslav Rudis, Autor des Comic-Epos um den Bahnwärter Alois Nebel, der aus dem Dunst des Sudetengebirges Geisterzüge der tschechischen Geschichte auftauchen sieht: Deportationszüge der Nationalsozialisten, die Invasionsarmee des Warschauer Pakts 1968, aber auch die Trecks der vertriebenen Deutschen nach 1945. Sein Zeichner Jaromir Svejdik stammt aus einem Sudetendorf: Jesenik/Freiwaldau, wohin seine Familie nach einer Vertreibung aus Rumänien angesiedelt wurde. Nun gibt der Punk-Sänger den Menschen, die hier gewohnt haben und deren Geschichte so lange niemand erzählen durfte, ein Gesicht. Die Alois-Nebel-Saga machte als Theaterstück Furore und wird verfilmt.

Im mährischen Brünn möchte sich die Schriftstellerin Katerina Tucková nicht länger mit der offiziellen Version der Geschichte abfinden. Sie erzählt minutiös den "Todesmarsch der Deutschen" aus Brünn, die Ende Mai 1945 unter Tausenden Todesopfern an die österreichische Grenze getrieben wurden. "Die Austreibung der Gerta Schnirch" berichtet vom Schicksal einer Frau, die mit ihren Kindern von vermeintlichen tschechischen Patrioten - in Wahrheit kollaborierende Arbeiter aus Hitlers Waffenfabriken - enteignet und misshandelt wurden. Katerina Tucková ist für ihr Buch die lange Strecke eigens abgeschritten und hat dabei Menschen getroffen, die erstmals über ihre Zeugenschaft redeten. Das Erinnern und Erzählen springt von den Schriftstellern über auf den Rest der Gesellschaft. Inzwischen ermittelt sogar die Kriminalpolizei und nennt erstmals offiziell die Namen von Urhebern der Massaker. Prag hat das Murmeln so vieler Geschichten von Kaisern und Rabbinern, von Versicherungsangestellten und Säufern in sich aufgenommen. Die verdrängten Geschichten, die nun hinzukommen, machen die mystische Stadt noch reicher.

PRAG, 11. Juni 2010, DIRK SCHÜMER

© FAZ

NS: Das Prague Writers' Festival fand vom 6. bis 10. Juni zum 20. Mal statt, organisiert vom Amerikaner Michael March und der Tschechin Vlasta March. Das Prager Literaturhaus steht in keinem Zusammenhang mit dem Festival.
Milena Findeis

 Link zum Résumé über das Prague Writers' Festival 2016 und Literatur Lesungen in Prag: Schuld und Sühne - Verbrechen und Strafe - Übertretung und Zurechtweisung - Der Gespaltene?

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