Israel-Reise Mai 1988

Hans F. Krebs, Aufzeichnungen einer Israel Reise im Jahre 1988. Unter X. schrieb er "...das nächste Mal sind es bestimmt nicht die Juden, es werden andere Fremde sein; es gelingt immer wieder, künstliche Bedrohungen der Masse aufzuschwätzen, ..."

alt

Mit Meinungen und Überzeugungen, mit Vor-Urteil bin ich nach Tel Aviv geflogen. Während der Reise, von Tag zu Tag, habe ich mich korrigiren müssen. Ich begann mir selbst zu widersprechen. Noch kann ich meine Eindrücke nur unheitlich notieren. Der Blick von Gethsemane zum zugemauerten Goldenen Tor vor Jerusalem bleibt nicht ohne Folgen. Wirkungen werden später im Jahr ihre Gestalt erhalten. Verklärte Herbste wird es nicht mehr geben. Unschuld ist eine Illusion. Schuld wird ansehbar vor dem Horizont von Geschichte. Zweifel können das Gleichgewicht von Person, Erlebnis und Erfahrung sinnvoll justieren. Angst wurde zum Weggenossen; Ängstlichkeit und Furcht wurden überwunden, aufgearbeitet und rational bestimmbar, Ängstlichkeit und Furcht haben ihre Gefährlichkeit verloren. Die Erfahrung der Zerbrechlichkeit wurde bewußt. Die Zerbrechlichkeit kann uneingeschränkt angenommen werden. Zwischen Ölberg und Klagemauer gibt es nicht nur eine gegraphische Verbindung.

I.

Ein Beobachter israelischer Zeitgeschichte erzählte von einem großen, runden Tisch, den er sich für seine Wohnung anschaffte, nach dem er einige Monate im Land war. Um diesen Tisch versammelt er alle vier bis sechs Wochen Politiker, Journalisten, Militärs, Künstler, Gewerkschaftler und Professoren. Voraussetzung für jede Runde ist die Tatsache, daß sich die Eingeladenen persönlich kennen. Während des Abend bleibt der Beobachter stumm; er hört zu. Wenn sich, meist in der frühen Morgenstunde, die Runde auflöst, ist der Beobachter auf dem neuesten Stand innerisraelischer Diskussion zu Politik, Wirtschaft und Kultur. Diese Runden kann ich mir inzwischen gut vorstellen; ich bin einer Reihe von hochbegabten "Shakespeare"-Darstellern begegnet. Der Anspruch des Einzelnen auf seine Individualität fasziniert mich. In den Diskussionen geht es immer um die Sache. Persönliche Angriffe habe ich nicht erlebt. Die Fetzen fliegen, Sätze aus Dramen; Spiegelbilder, orientiert an der Realität des Jetzigen und des Vergangenen. Scharfzüngige Kritik ist eine bevorzugte Beschäftigung. Später entspannen sich die Kontrahenten in der Bar bei Kaffee, Fruchtsaft und Wein. Zur Liebenswürdigkeit des Umgangs bleibt Staunen; ich lasse mich von dieser Freundlichkeit und Zuneigung einnehmen.

II.

israelreise

Nach den Aufzeichnungen, die im Alten Testament zu finden sind, zogen die Juden vierzig Jahre durch die Wüste, um sich schließlich im Gelobten Land niederzulassen; seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 sind inzwischen vierzig Jahre vergangen. Drei Verteidigungskriege mußten geführt werden: 1948/1949, 1967 und 1973. Heute ist Israel ein normaler Staat und ein demokratischer dazu. Ohne freie Meinung des Einzelnen, ohne unabhängige Presse hätte die israelische Gesellschaft ihre Lebendigkeit und ihren Geist verloren. Sicherheit im Nahen Osten hat zwangläufig ihren Preis, denn das Leben aller Menschen soll gesichert sein. Sektorale Zensur ist der Preis. Schöpferisches Leben kann viel verkraften, ohne die Kreativität einzubüßen. Die Armee und der Geheimdienst Mossad gehören zum besten, das ein Staat zum Schutz seinen Bürgern anbieten kann. In der Staatsdoktrin von 1948 sind drei Prinzipien mit Verfassungsrang enthalten, obgleich es keine geschriebene Verfassung gibt: "Erstens: Israel ist der einzige jüdische Staat, der den Juden in aller Welt offensteht und ihnen Schutz bietet. Zweitens: Israel streckt seine Hand allen Arabern aus, um mit ihnen in Frieden - in Shalom, in Salam - zu leben. Drittens: Israel darf von keiner Hilfe von außen abhängig sein" (Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Bonn, 22. April 1988). Der dritte Punkt der Doktrin dürfte nur programmatisch gemeint sein. Der Blick in die Zukunft war nur den Propheten gegeben, deren Wirken im Alten Testament beschrieben wird. Der Staat Israel bemüht sich um Anbindung und möglicherweise um Eingliederung in die Europäische Gemeinschaft. Das wäre eine Bereicherung. Das Normale würde immer unauffälliger. Die Feststellung des Staatspräsidenten Chaim Herzog ist ein konkretes Angebot: "Wir haben Frieden mit Ägypten erlangt und werden immer allen unsere Hand reichen, die sie als ein Zeichen des Friedens ergreifen wollen."

III.

Es ist wahr, mehrere israelische Regierungen haben arabischen Führern Signale gesandt, zum Frieden zu verhandeln. Aber es ist ebenso wahr, daß die arabischen Staatsmänner das Existenzrecht nicht nur leugnen und infrage stellen, sie sagen immer wieder, daß sie Israel vernichten wollen. Ägypten ist das einzige arabische Land, das das Lebens- und Existenzrecht Israel in einem Friedensvertrag anerkannt hat. Schon der Großvater von König Hussein suchte nach Formen der Partnerschaft mit den Juden; er wurde 1947 in Jerusalem, als er nach dem Freitagsgebet die Moschee verließ, erschossen. Der Enkel Hussein stand neben dem sterbenden Großvater. Der ägyptische Staatspräsident Sadat hat Frieden geschlossen mit Israel; auch er wurde erschossen, in Kairo, während einer Militärparade. Ende Februar 1987 stand ich auf der Stelle von der die Attentäter die Magazine ihrer Schnellfeuergewehre leerschossen. Und auch heute gilt noch, daß ein arabischer Politiker, der die Macht besitzt, Israel die Hand zu reichen, um sein Leben fürchten muß. Aber: Das Referieren von Geschichte ist banal; die Interpretation der Ereignisse, die Schuldzuweisungen sind willkürlich. Standpunkte, geboren aus Vor-Urteilen, prägen das Bild. Unversöhnlichkeit und Mißtrauen prägen Politik. Ministerpräsident Schamir handelt verlogen, wenn er Arafat einen Terroristen nennt, ohne selbst an seine Vergangenheit als Terrorist zu erinnern; Schlächter und Mörder sind sie beide. Nur die Epoche, das Aktuelle des Zeitabschnitts bestimmt die Kennzeichnung. Napoleon ist brandschatzend und mordend durch Europa, Nordafrika und den Nahen Osten gezogen; heute ist er der Held der Franzosen. Die sogenannten Großen in der Geschichte haben nichts anders als Leid und Schmerz über die Menschen gebracht. Feldherren sind keine positiven Helden. Vor-Urteile, erhoben zur Glaubensdoktrin, haben um ihre Rechthaberei mit Mord und Totschlag gekämpft, sie haben nichts als Zerstörung und Vernichtung hinterlassen. In diesem Sinn ist der Kampf, der im Nahen Osten stattfindet, normal. Beide Seiten, die Juden und die Araber, haben Argumente, die für ihre Sache sprechen. Verteidigungsminister Y. Rabin sagte während einer Zusammenkunft am 19. April im Presseclub von Tel Aviv, daß es ihn wundere, welche Ressonanz die steinewerfenden arabischen Kinder und Jugendlichen in der Weltpresse fänden, während im Krieg zwischen Irak und Iran bedenkenlos Giftgas eingesetzt wurde. Krieg ist ein gewinnbringendes Geschäft, deshalb wird geschwiegen. Wie es erscheint, sind die chemischen Komponenten des Giftgases europäischen Ursprungs. Niemand hat das Recht, Y. Rabin zu widersprechen.

IV.

Das Verbindende zwischen Juden und "Palästinensern" ist die Gegenwart und Erfahrung von Heimatlosigkeit. Palästina war Mandatsgebiet, das von der Kolonialmacht Großbritannien beherrscht wurde. Ein Staat Palästina hat nie existiert; es gibt keine Palästinenser. Es gibt heimat-, recht- und landlose Araber. Südlich von Jericho, an der Straße zum Toten Meer, leben Beduinen, Schatten von Beduinen in Kleinslums, erniedrigt und deklassiert, ihrer Würde und ihres Stolzes beraubt. Die furchtbare Bezeichnung vom Untermenschen kommt mir in den Sinn. Eine Stunde nach dieser Beobachtung packe ich meinen Koffer aus in einem Zimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel am Toten Meer; schwarzweiß ist dagegen ein schwacher, ein indifferenter Kontrast. Beduiner leben im Müll, im Dreck. In fröhliche arabische Kinderaugen habe ich auf dieser Reise nicht schauen können. Die Kinder machen auf mich einen erwachsenen Eindruck. Die Ziegenherde gehört zum Lebens-Mittel, die Ziege ist ein Gebrauchstier für die Kinder und nicht Objekt zum Spielen und zum Schmusen. Diese Araber sind doppelt verraten: von der Mandantsmacht und von den arabischen Mächten. Diese Menschen werden gnadenlos geopfert, wenn es den Mächtigen in den Plan paßt. Nur durch Nähe wird einem das Unglück vorstellbar. Mir kann keiner einreden, dies sei die selbstgewählte und selbstbestimmte Lebensform der Araber, zu der es keine Alternative gäbe. Die Judäische Wüste wird zum Bild, zur verräterischen Szene. Armut, Würde- Stolzverlust getrennt von Wohlstand, in einem Land, in der Region, in der die Wiege der europäischen Kultur und der christlichen Religion stand. Der Stern von Bethlehem verlöscht, die Botschaft des Sterns verstummt.

V.

Die Juden waren gelähmt. Im Holocaust-Museum zu Jerusalem ist Leid dokumentiert; mehr ist nicht möglich, als Dokumente zu sammeln und zu präsentieren in dunklen Räumen vor schwarzen Wänden. Meine Schritte wurden immer schneller, schließlich bin ich geflüchtet. Kein Symbol, kein Zeichen reicht hin, kein Trost kann die Quader von mir nehmen, die auf mir lasten. Millionen jüdischer Menschen wurden fabrikmäßig ermodert; ihre Leichen verbrannt. Der Antisemitismus ist eine Psychose. Die Mehrheit der deutschen Bürger hat A. Hitler an die Macht gebracht, die Mehrheit ist A. Hitler vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 bedingungslos und gehorsam gefolgt. Die Behauptung, aufgestellt im Historikerstreit, Stalins Untertagen seien Vor-Bild für Naziverbrechen, ja sie hätten diese Verbrechen erst möglich gemacht, ist zynisch. Viele Menschen werden auch heute noch schuldig. Die Katastrophe der Verdrängung begannt mit der Kapitulation des Deutschen Reiches "Die wahnsinnige Untat, die mit dem Namen Auschwitz bezeichnet wird, läßt sich in Wahrheit gar nicht verstehen, sie läßt sich nur berichten" (Dolf Sternberger, Frankfurter Allgemeine, 6. April 1988).

VI.

Zionismus, das war und ist die elementare politische, soziale und kulturelle Kraft des autonomen Staates Israel. In der Deklaration von 1948 steht: Israel ist der Staat aller Juden; Heimstatt und Trutzburg nach Verfolgung, Prognom und Holocaust. Für die Araber, selbst Semiten, ist der Antisemitismus bedeutungslos, von den Arabern wird der Zionismus bekämpft. In den prophetischen Büchern des Alten Testamentes ist die „Tochter Zions“ das zukünftige, das messianische Jerusalem. Juden schufen die Theorie des Zionismus als Antwort auf den sich im 19. Jahrhundert ausbreitenden Antisemitismus. Theodor Herzl (1860 bis 1904) entwarf „Heimstatt“ in seinem Buch „Der Judenstaat“ (1896). Der Aufbruch zur Selbstbestimmung der Juden förderte Selbstfindung; die Juden überwanden ihre Wehrlosigkeit. Der Wehrhaftigkeit des Staates Israel gehört meine Symphatie, denn in dieser Wehrhaftigkeit ist das Samenkorn für die zukünftige Pflanze des Friedens im Nahen Osten geborgen und verwahrt. Die Verheißung des Friedens gilt allen Menschen. Die Lebensfähigkeit, durch Wandel und Anpassung an die Realität, weist den Zionismus als Theorie aus; wäre der Zionismus eine Ideologie, wie von Gegnern und Feinden behauptet, gäbe es in weiterer Folge kein demokratisches Leben.

VII.

Der Antisemitismus ist das Vor-Urteil eines Kollektivs. Versagen und Unfähigkeit können sich selbst gegenüber nicht eingestanden werden. Eigene Defizite werden projiziert, um zu überleben. Was ist das für ein Leben? Anders ist es nicht zu erklären, daß die Mehrheit des deutschen Volkes A. Hitler folgte, in dessen Parteiprogramm der Antisemitismus eine herausragende und offensichtliche Rolle spielte. A. Hitler bezeichnete den Antisemitismus als „Zement“ der nationalsozialistischen Bewegung. Die „jüdische Weltverschwörung“ wurde von A. Rosenberg mit „Die Protokolle der Weisen von Zion“ belegt; einer Fälschung. Der Antisemitismus und seine Folgen können nur unzureichend als unethisch oder unmoralisch benamt werden. Der Antisemitismus, der ja mit den Nazis nicht untergegangen ist, ist die Abbildung einer Psychose des Kollektivs; kritisches Urteil ist außerkraft. Christliche Kirchen lieferten ihren verhängnisvollen Anteil. Die Juden galten, entgegen den Aussagen des Neuen Testaments, als Jesusmörder. In individueller und kollektiver Psychose gründet die Unfähigkeit, Erkrankung zu erkennen und einzusehen. Vielmehr werden individuelle und kollektive Veränderungen projeziert auf das Andere, den Anderen, das Fremde, den Fremden, generell auf das Nichtzuverstehende. Durch Psychose werden Bedrohungen erlebt, die real keine Bedrohungen sind. Dieses Diagnose bedeutet weder Verständnis noch Entschuldigung. Wir müssen bewußt vor dem Hintergrund des Holocaust leben. Vergessen käme einer Rechtfertigung des fabrikmäßigen Massenmordes gleich. Kollektive Psychose macht die Unfähigkeit sichtbar, sinnvoll mit der kulturellen und religiösen Identität der Juden umzugehen. Die Leistungen, die die Juden in der Diaspora vollbracht haben, sind großartig; das private Zusammenleben, aber auch Politik, Wirtschaft und Kultur haben davon profitiert. Das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, unvollkommen und halbherzig formuliert (Oktober 1945) im Rat der Evangelischen Kirche hat seitens der Katholischen Kirche eine Entsprechung gefunden. „Kollektivscham“ empfand Theodor Heuss. Die Versäumnisse nach dem 8. Mai 1948 sind ein Skandal, der nicht ohne Folgen bleiben wird. Verdrängung kann gar nicht anders als eben wieder im Destruktion aufbrechen. Im „Historikerstreit“, unlängst ausgetragen, ist der Holocaust von E. Nolte zwar noch nicht gerechtfertigt worden, aber wie lange wird die Rechtfertigung noch auf sich warten lassen? Wissenschaftler können schamlos sein.

VIII.

In der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 wird den Juden eine nationale Heimstätte in Palästina zugesichert. Diese Deklaration kam auf Betreiben von N. Sokolow und C. Weizmann zustande; sie ist niedergelegt in einem Brief, den der britische Außenminister A. J. Balfour an Lord Rothschild schrieb. Das Einklagerecht wurde 1948 vollzogen. Die Juden haben Spannungen und Gefährdungen ausgehalten, die nie in Worten darstellbar sein werden, zwischen Recht auf Staatsgründung, schließlich Kampf und Heimstatt, Holocaust, Isolierung und ständiger militärischer Bedrohung. Israel ist ein demokratischer Staat, trotz Bedrohung, Unsicherung und Gefährdung. Wie würden wir Westdeutsche in einer solchen Situation handeln? Wir Westdeutsche würden als erstes die Demokratie abschaffen. Die Gesellschaft, die sich in Israel in vierzig Jahren herausgebildet hat, integrierte Juden aus Europa und Nordafrika; Israel wurde zu einem kulturellen Schmelztiegel, einzigartig auf der Erde. Die Sprach- und Kulturströme, die in diesem kleinen Land zusammenfließen: Hoffnung und Zuversicht. Die Normalitäten Europas und Nordamerikas reichen nicht hin, um Israel zu beurteilen. Der Machtkampf um politische Führung und Meinungsbestimmung, bildet Mut, Gelassenheit und Individualität ab.

IX.

Ich stand auf dem Golan. Diese Berge wurden im Sechstagekrieg (1967) von den Israelis erobert. Hunderttausend Araber wurden aus den Dörfern vertrieben. Ich blickte auf die syrische Ebene; in vierzig, fünfzig Kilometern ist Damaskus. In der Nacht vor dem Besuch des Golan habe ich im Gästehaus des Kibbuz Kfar Giladi (Obergaliläa) übernachtet. Das Mittelgebirge ist still und grün. Juden, Drusen und Araber leben hier. Die Israelis dürfen den Golan nicht an die Syrier zurückgeben. In der militärischen Präsenz gründet Sicherheit an der Nordgrenze. Der Kamm des Golan ist eine Barriere, eine Sperre. Das Strategische wird auch einem Menschen offensichtlich, dem militärisches Denken fremd ist. Israel Ratschläge zu geben, ist unnütz, die Israelis können sich auf Erfahrungen berufen, sie können über Erlebnisse sprechen und sie können Geschichten erzählen. Wehrlos waren die Juden in der Diaspora. In den Jahren vor und nach der Staatsgründung haben die Juden die Fähigkeit entwickelt, die ihnen niemand zutraute, sie können sich wehren. Frieden gründet, wenn überhaupt, in Aufmerksamkeit und Stärke. Das Drama, das sich mir erschloß, ist die Einsicht, daß sich Israel nicht einmal den Anschein von Schwäche leisten darf.

X.

Angst wurde zum Weggenossen, Angst bleibt bei und in mir, daß sich der fabrikmäßig geplante und abgewickelte Massenmord wiederholen könnte; das nächste Mal sind es bestimmt nicht die Juden, es werden andere Fremde sein; es gelingt immer wieder, künstliche Bedrohungen der Masse aufzuschwätzen, es gelingen immer wieder Erfolge durch Appelle an die schwarze Seite menschlicher Vor-Urteile. Das Wort Holocaust bekommt allmählich einen Anschein, der die Tatsächlichkeiten des Geschehenen mindert. Ich bleibe bei der Bezeichnung des fabrikmäßig, durchgeführten Massenmordes an jüdischen Menschen, organisiert und durchgeführt von Verbrechern, die das Vertrauen der Mehrheit der Deutschen im Dritten Reich hatte.
 

XI.

Erklärung heißt auf hebräisch: Hasbara. Es gibt vieles, das nicht zu erklären ist. Darstellungen und Gegenüberstellungen genügen. Politiker in einer Partei, die an einem Strang ziehen sollten, sind miteinander verfeindet; wenn sie sich etwas zu sagen haben, sagen sie es durch Interviews in Zeitungen und im Fernsehen. Das erinnert an eine Troika, die vor nicht allzulanger Zeit eine große Partei in der BR Deutschland führten. Mahner haben keine laute Stimme; heute haben hier die Militärs das Sagen. Eine Art von Bonapartismus steht auf der Tagesordnung; Politik fügt sich den militärischen Prioritäten und deren zeitwilligen Herrschaftsansprüchen, ohne Zweifel ist das eine Gefahr für die demokratische Gemeinschaft. Wenn Militärs Politik degradieren wird Irrationalität zum Instrument. Politik kann Lösungen anbieten, Militär kennt nur Sieg oder Niederlage. Politik schafft konkrete Kompromisse. Die einundzwanzig Jahre, die seit dem Sechstagekrieg (1967) vergangen sind, haben in Gaza und in der Westbank Versäumnisse zu existenziellen Problemen aufgetürmt, die von den Mahnern den Militärs zur Last gelegt werden. Widerspruch! Die Militärs handelten militärisch, weil die Politiker zu schwach und ideenlos waren, politisch zu handeln. Ich glaube den Beteuerungen, die ich mehrfach zu hören bekam, daß die Regierung in Jerusalem von den Dezemberaufständen buchstäblich überrascht wurden. Ist es unzulässig eine Verbindung zum Schlüsselerlebnis der Überraschung des Jom-Kippur-Krieg (1973) herzustellen? Diese Frage ist nicht von der Hand zu weisen.
 

XII.

Einem Menschen, der professionell philosophisch und theologisch denkt, einem Menschen, der Überraschungen interpretieren kann, bin ich nicht begegnet. Jerusalem ist eine Stadt mit drei Feiertagen in der Woche: der Freitag gehört den Moslems, der Sabbat den Juden und der Sonntag den Christen. Glaubensgruppierung sind gespalten und zersplittert; radikale und liberale gibt es allenthalben. Die Radikalen gewinnen an Kraft, sie werden zusehends stärker. Vernunft gerät in den Hintergrund. Vernünftige Menschen werden der Schwätzerei geziehen. Religiöse und politische Irrationalität fördert Fanatismus, der schließlich in der Verwerflichkeit von Alleinvertretungsansprüchen endet. Das ruhige Miteinander ist trügerisch. Toleranz ist ein umstrittener, gelegentlich geleugneter Begriff.
 

XIII.

Heiliges Land? Für wen ist dieses Land heilig? Nicht einmal Christen können sich auf den Ort des Grabes einigen, in das der gekreuzigte Mensch Jesus gebettet wurde. Die Grabeskirche beherbergt mehrere Richtungen christlicher Kirchen, die die Fähigkeit nicht kennen, miteinander zu sprechen. Die Behauptung im Besitz absoluter Wahrheit zu sein, ist destruktiv. Das Gegenteil von Wahrheitsanspruch und Wahrheitsbehauptung ist die menschliche und kulturelle Vielfalt der nahöstlichen Region. Das Jüdische hat im Ursprung beide Religionen geprägt. Abraham, der Dynastiegründer, ist auch den Moslems kein Unbekannter.

XIV.

Der Grundstein für den Frieden in ferner Zukunft liegt in der Überwindung und Aufhebung der Spaltungen, die heute noch in der Religion und Politik abgebildet werden. Arroganz und Hochmut sind unproduktiv, sie sind dumm. Wir sollten uns zu unseren Schattenseiten bekennen, um das Dunkle in uns besser erhellen zu können. Wir sollten Paradoxes anerkennen. Lebensrecht haben alle Menschen; eingebettet in die Schöpfung. Politik hat die Aufgabe diesem Lebensrecht zu dienen. Illusionen sind nicht förderlich, Leben ohne Leid, Schmerz und Träuer wäre sinnlos. Nebeneinander ist kurzatmig. Sinn ist allein im Miteinander enthalten. Menschen dürfen nicht aufgeben. Ohne Behauptung im Selbst ist Humanität nicht lebbar; Toleranz ist ein konkretes Lernziel. Erez Israel ist ein Lehre.

 

Weitere Manuskripte von Hans F. Krebs auf dem Zeitzug

Aktuelle Textbeiträge

Tagesrandbilder

Sommergrauen

13.4.2024 Putins Krieg gegen die Ukraine ein Vernichtungszug/ Europa schaut aus der Ferne zu/ das Grauen vor dem Sommer 24 liegt in der Luft/ geschwängert von Granaten, Bomben und Toten  

Zwischen (W) Orte

Gescheit/er/t

Gescheitert

2024 - Kafkat & Milovat*