Über die Kriegsjahre 

Gregor von Rezzori, der letzte österreichisch-ungarische Schlafwandler

Aufgezeichnet und verfasst von Christian Marti-Menzel

Kriegsjahre 

Ein großartiger mexikanischer Schriftsteller erklärte seinen kreativen Schaffensprozess: Wenn eine Geschichte sich in seinem Gehirn zersetzt hat, so wird sie von ihm Hin und Her gewendet, ehe er sie ausfeilt. So entstehen die Legenden im Schoße der Familien, indem ihre Geschichten über die Jahre hinweg immer wieder neu erzählt werden.

Der letzte österreichisch-ungarische Schlafwandler, Gregor von Rezzori, betonte, dass die Wahrheit umgeformt werden muss, wie alles, was wir erleben, um sie als Mythos oder Fabel darzustellen.

In meiner Familie schmieden und feilen wir seit langer Zeit an einer Geschichte, die viel über uns aussagt: Es handelt sich um den kolossalen Streit am 4. Juli 1954 zwischen meiner Großmutter mütterlicherseits (ich erinnere mich an sie wie an Hedwig Bleibtreu in „Der Dritte Mann“, die sich bei der schönen Alida Valli über die schlechten Manieren der amerikanischen Militärpolizei beklagte) und meinem Großvater mütterlicherseits, den ich nie kennenlernte, da er 1961 an einem Herzanfall starb (sicherlich aufgrund dessen, was er im Krieg durchgemacht hatte). Meine Großeltern waren acht Jahre vorher mit ihren beiden kleinen Kindern in Ostfriesland gelandet. An diesem legendären 4. Juli fand das Finale der Fußballweltmeisterschaft in Bern statt. Meine Großmutter war Fan der ungarischen Nationalmannschaft und mein Großvater der deutschen (die Tschechoslowakei war leider dieses Mal nicht über die erste Runde hinausgekommen, da sie gegenüber Uruguay und Österreich verloren hatte). Wir alle wissen, wie dieses Finale ausging. Nach dem aufgeregten Wortwechsel versöhnten sich meine Großeltern an diesem Abend wieder, indem sie Radio hörten. Gesendet wurde zufälligerweise ein Programm von Gregor von Rezzori über seine maghrebinischen Geschichten: Beide waren so gerührt über diese Geschichten, die ihre österreichisch-ungarische Kindheit wieder aufleben ließ, dass sich die Wogen glätteten, sie vergaßen den Fußball und versöhnten sich. In unserer Familie besänftigen die Fiktionen immer die Gemüter.

Acht Jahre waren es her, dass meine Großeltern aus Niederschlesien gekommen waren. Dort hatten sie sich in ihrer Jugend niedergelassen. Geboren waren sie Anfang des 20. Jahrhunderts, sie im ungarischen Banat und er in Böhmen. Südlich von der historischen Hauptstadt von Schlesien, Breslau (jetzt Wrocław), geteilt durch die Oder, liegt die Grafschaft Glatz (Kłodzko), ein an die Sudeten grenzendes Bergland, zwischen dem früheren Böhmen und dem jetzigen Polen. Es ist eine idyllische Hügellandschaft, in der noch die Spuren der österreichischen und böhmischen Vergangenheit sichtbar sind, obwohl Mitte des 17. Jahrhunderts die Kaiserin Maria Theresia dieses Land an den preußischen König Friedrich den Großen verloren hatte. Dort ließen sich meine Großeltern nieder, kauften ein Haus und begannen einen Lebensmittelgroßhandel. Die Kleinstadt, in der sie wohnten, hatte knapp über Tausend Einwohner, aber wer etwas auf sich hielt, hatte schon damals ein eigenes Badezimmer. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs litten die Einwohner dieses kleinen Ortes kaum unter den direkten Auswirkungen des Krieges. Während Städte wie Hamburg und Dresden unter den Bomben in Schutt und Asche fielen, herrschte in der Grafschaft Glatz relative Ruhe. Nicht weit von dem Ort gab es ein berüchtigtes Stalag. Dort irrten viele Kriegsgefangene herum (einige von ihnen flohen zusammen mit den Deutschen, als die Rote Armee einrückte) und man musste sich mit der Lebensmittelknappheit und den Nazispitzeln herumschlagen. Was meine Großeltern nicht wussten, war, dass sich nicht unweit von dort in diesen Monaten Gregor von Rezzori, Grischa für seine Freunde, zusammen mit seiner Frau – Ende 1943 auf der Flucht vor dem alliierten Bombenregen über Berlin – niedergelassen hatte.

Trotz seiner vielen Bewunderer hat über Gregor von Rezzori stets der Verdacht gehangen, dass er in seinen Jugendjahren dem Naziregime gegenüber tolerant eingestellt gewesen sei. Die schwerste dieser Anschuldigungen stammt von dem ungarischen Schriftsteller Stephen Vizinczey. Am 20. September 1985 veröffentlichte Vizinczey in der Zeitung USA Today eine bereits legendäre, da als Infamie in die Geschichte eingegangene Buchbesprechung (Die Macht der Prätention) der englischen Übersetzung des Buches von Rezzori „Der Tod meines Bruders Abel“: »Wer Gregor von Rezzoris Roman Der Tod meines Bruders Abel gelesen hat, der weiß, warum die meisten intelligenten Menschen keine Fiktion mehr lesen. […] In Rezzoris Buch gelten die Abscheu und die moralische Empörung als schlechter Stil, als Beweis mangelnder Kultur. Diese Lüge ist der Inbegriff einer Kultur der Unterdrückung: Weder der Faschismus noch eine Apologie des Faschismus kämen ohne sie aus, und Rezzori scheut nicht davor zurück, sein Beweismaterial zu verfälschen, um es glaubwürdiger zu machen.« Er schreibt zum Schluss: »Wie konnte solcher Unsinn so weite Verbreitung und so großes Lob finden? Ich glaube, die Antwort liegt in der Macht der Prätention. Millionen Menschen glauben, von etwas gehört zu haben, sei gleichbedeutend damit, sich darin auszukennen; ihre Vorstellung von Kultur ist die einer Mischung aus elegantem Lebensstil und berühmten Namen.« Dieser Angriff wirft ein klares Licht auf den Verfasser dieser Kritik, der nicht fähig war, die grausame Ironie zu erkennen, die das Nachkriegswerk von Rezzori ausstrahlt. Vizinczey, Mitteleuropäer wie Rezzori, fragte sich immer wieder, wie sich Rezzori seinen Lebensunterhalt in Deutschland während des Kriegs verdient hatte, und deutete an, dass dies nur einem Nazi möglich war. Ja, wie verdiente sich Rezzori während dieser Jahre seinen Lebensunterhalt? Nun, er schrieb Romane über unmögliche Liebschaften. Was uns aber hier interessiert, ist etwas Anderes. Wie ist es möglich, dass er nach seinen ersten drei sentimentalen Romanen so grausam sarkastische und ironische Bücher schreiben konnte wie Ödipus siegt bei Stalingrad oder Der Tod meines Bruders Abel?

Eine Anekdote, die Rezzori in die kommentierte Neuausgabe seines ersten Romans, Greif zur Geige, Frau Vergangenheit (1978) einschiebt, veranschaulicht, was er von den Nazis hielt, und das ist vielleicht einer der Gründe dafür, dass er in der deutschen Literatur niemals ganz akzeptiert wurde und sich sogar die Antipathie vieler derer erwarb, die ihn nie gelesen hatten und ihn verachteten, weil er ein reiner Unterhaltungsautor sei und ein Bonvivant.

Er war damals vierundzwanzig Jahre alt, im Besitz eines rumänischen Passes, hatte den Anschluss im März 1938 erlebt und war wenig später nach Berlin umgezogen, »als ein menschenscheuer Playboy«, der versuchte im selben Stil weiterzuleben wie seine Eltern vor der Katastrophe des Krieges. Man hatte Rezzori aufgrund seines großen Zeichentalents empfohlen, nach Wien zu fahren und mit dem Grafen Ferdinand Czernin zu sprechen, der einen Illustrator für sein neues Buch suchte. Vielleicht könnte er sich ja so seinen Lebensunterhalt verdienen. Nach Rezzoris Worten gehörte der Graf Czernin einem ganz besonderen, vom Aussterben bedrohten Menschenschlag an. Nachdem dieser ihm einige Fragen über seine Arbeit gestellt hatte, wagte Rezzori die Frage, um was es denn bei seinem neuen Buch ginge: »Um die Amerikanisierung Europas durch Adolf Hitler«, antwortete Czernin und lud ihn ein, sich einige Tage später in Salzburg zu treffen, um über eine mögliche Zusammenarbeit zu sprechen. Rezzori sah den Grafen nie wieder: Es hieß, dass er nach New York unterwegs sei. Er kam niemals zurück. Deshalb beschloss Rezzori, sein Glück in der Stadt zu versuchen, die damals die Hauptstadt der Welt war: Berlin.

In Berlin, auf der Suche nach einer Unterkunft, versuchte Rezzori, die Pensionen zu finden, die ihm eine über achtzigjährige Freundin der Familie empfohlen hatte, und die anno 1914 noch geöffnet waren. Aber das waren sie fast ein Vierteljahrhundert später nicht mehr. Deshalb fiel Rezzori nichts Besseres ein, als den Taxifahrer zu bitten, ihn in das berühmte Hotel Adlon zu kutschieren. Er hatte umfangreiches Gepäck bei sich und nur einige Hundert Mark in der Tasche, gerade genug, um sich einige Nächte im größten und elegantesten Hotel von Berlin zu leisten. Dort zog er sich um und machte sich fein, setzte sich den Hut auf, streifte die Handschuhe über und nahm den Schirm zu Hand und schickte sich an, durch die Straßen des legendären Berlins der Zwanzigerjahre zu schlendern, von dem ihn sein Vater erzählt hatte (und das wir in dem bezaubernden Film Emil und die Detektive von Gerhard Lamprecht wiederentdecken können). Im Sommer 1938 Rezzori hatte gerade die Nase auf den Spaziergang Unter den Linden gesteckt, als ein Haufen kahl geschorener und gestiefelter Rabauken ihn anpöbelte. Er verstand, was einer von ihnen brüllte: »Dekadente Kunst!«  Er ging ins Hotel zurück, ließ den eingerollten Schirm, die Handschuhe und den Hut zurück, lockerte sich die Krawatte und brachte Unordnung in seine Frisur, um zünftig auszusehen. Nachdem er sich amerikanisiert hatte, konnte er ungeschoren in das Berlin des Österreichers Adolf Hitler zurückkehren.

Zu dieser Zeit war Rezzori ein schüchterner und idealistischer Dandy. Wie er selbst erzählt, konnte er mit der Geldzuwendung seiner Eltern kaum den gewünschten Lebensstil aufrechterhalten. Er musste die Pension bezahlen, in der er lebte. Er beschloss, einen Roman über seine jüngste, zum Scheitern verurteilte Beziehung zu einer verheirateten Frau, älter als er, zu schreiben. Er schickte dieses Manuskript an die Redaktion der Zeitschrift Die Dame, die zu dieser Zeit Fortsetzungsromane von Autoren wie Alexander Lernet-Holenia veröffentlichte. Paul Wiegler, ein Verleger mit linksgerichteten Tendenzen und Autor des Ullstein Verlags, in der Nazizeit Deutscher Verlag genannt, las das Manuskript, und es gefiel ihm. Er rief in der Pension in der Wielandstraße im Stadtviertel Charlottenburg an und fragte nach Fräulein von Rezzori, der Autorin des Romans Sentimentales Tagebuch. Obwohl sich herausstellte, dass dieses Fräulein einen famosen schwarzen Schnurrbart trug, nahm er den Roman sofort an und veröffentlichte ihn. Ab Dezember 1939 erschien er in Fortsetzungen in der Zeitschrift Die Dame mit dem von dem schlesischen Dichter Friedrich Bischoff vorgeschlagenen Titel Flamme, die sich verzehrt und danach als Buch im Propyläen Verlag. Mit diesem seinem ersten Buch sollte Gregor von Rezori (so firmierte er seine ersten Romane) erfahren, »wie eine Geschichte sich selbst schreibt«.

Danach folgten Rose Manzani und Rombachs einsame Jahre (Rose Manzani wurde 1944 veröffentlicht). Angesichts des Erfolgs seines ersten Buches und dessen, dass Rezzori mit Rose Manzani, der Liebesgeschichte einer jungen Aristokratin mit einem jungen Mann, der ein tragisches Verhältnis mit einer verheirateten Frau unterhält, viel Talent bewies, beschloss Paul Wiegler, dass Rezzori es wagen sollte, seine Romane neben so erfolgreichen Namen wie Vicky Baum, Kurt Wolf und Hans Fallada in der Zeitschrift Berliner Illustrierte zu veröffentlichen. Er gewährte ihm eine Anzahlung von 20.000 Reichsmark, mit dem Auftrag einen Roman zu schreiben, in dem die Vaterfigur die Hauptperson sein sollte. Und so entstand Rombachs einsame Jahre, ein im Ungarn der Zwanziger- und Dreißigerjahre spielendes Drama über Admiral Hórthy. In diesem Roman erzählt er die Geschichte von Geza von Rombach, einem Berufssoldaten, der sich mit einem Kameraden duelliert, der eine Liaison mit seiner Frau hat. Das gesamte Verlagsteam legte Hand an und arbeitete zusammen mit Rezzori an dem Roman. Als während einer dieser stürmischen Besprechungen jemand die Hauptperson von Schuld und Sühne von Dostojewskij erwähnte, seufzte Wiegler: »Wenn dieses Manuskript in unsere Hände gefallen wäre, was für einen Roman für die Illustrierte hätten wir daraus gemacht!«. Das war der Moment, in dem Rezzori beschloss, Romane wie die bis dahin von ihm veröffentlichten nicht mehr zu schreiben und sich in Zukunft der Lektüre zu widmen. Aus Geldgründen nahm er einen neuen, in einem Internat spielenden Roman in Angriff, den man bei ihm beauftragt hatte. Die ersten Seiten des Manuskriptes wurden von den Nazibehörden beschlagnahmt, als die Rote Armee bereits im Vormarsch war.

Zweifelsohne war Gregor von Rezzori ein Mann, der außerhalb seines Zeitalters lebte, ein Produkt dessen, was er selbst Epochenverschleppung nannte, »das anachronistische Überlappen von Wirklichkeitselementen, die spezifisch einer vergangenen Epoche angehören, in die darauffolgende«. Zweifellos eine Kriegserfahrung, da Rezzori wirklich apolitisch war und der Ansicht, dass »atmosphärische Veränderungen des Weltzustands die Epochenverschlepperei nicht verhindern«. Seine Biographie ist bekannt, da der Autor über sie in Blumen im Schnee, Mir auf der Spur und anderen Büchern geschrieben hat. Sohn des k.u.k.-Ingenieurs Hugo von Rezori d'Arezzo, der im Ersten Weltkrieg auf dem Balkan gedient hatte, und von Claire von Franck-Schlackenwerth (irländischer und rumänischer Abstammung) kam er am 13. Mai 1914 in einer Pferdekutsche auf dem Weg zum Hospital auf die Welt. Wie Vladimir Nabokov wuchs er umgeben von englischer Kultur auf und sprach schon als Kind fließend Französisch und Englisch. Er wurde von Frauen erzogen. Laut seinen Worten überschätzte er wie alle, die in früher Kindheit von Frauen verwöhnt worden sind, den Wert der Männlichkeit. Er erlaubte sich den Luxus eines Dandys: Das Einzige, was für ihn galt, war die Ästhetik.  Er sah sich als »einsamer Mensch«. Er war achtzehn Jahre, als seine Schwester Ilse starb. Er erlebte eine behütete und isolierte Kindheit, verankert in der Sehnsucht nach dem Ancien Régime und eine durch den Tod seiner Schwester Ilse gezeichnete Jugend.

Am 28. Juni 1940, sechsundzwanzig Jahre nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand in Sarajevo, wurden Bessarabien und der Norden der Bukowina von der Sowjetunion besetzt und Rezzoris Mutter (zusammen mit ihrem Lebensgefährten Philip, sie lebte seit Jahren getrennt von ihrem Mann) in einem Flüchtlingslager in Oberschlesien interniert. Die Regierung beabsichtigte, sie als bewaffnete Landarbeiterin an die Ostfront zu verlegen. Rezzori gelang es, für sie in Wien, wo seine Großmutter mütterlicherseits und seine beiden Tanten lebten, eine Arbeit als Kassenwartin in einem Büro der Luftwaffe zu finden. Sie verlebte die letzten Kriegsjahre in Böhmen und konnte erst im Winter 1946 wieder Briefkontakt mit ihrem Sohn aufnehmen. Der Vater von Rezzori lebte seit 1937 in Hermannstadt in Siebenbürgen, wo er unter anderem auch als Jagdführer für die Grafen Mikes diente und seine Freundschaft mit der Prinzessin Sayn-Wittgenstein, geborene Elizaveta Dmitrievna Nabokova, Tante des russischen Autors Vladimir Nabokov, pflegte. Sein Vater war Pangermanist, obwohl ihn alles anödete, was mit dem Heer zu tun hatte. Er hasste Emporkömmlinge und war überzeugt, dass Geschäftsleute keine Würde besaßen, und alle, die sich den Finanzen widmeten, verachtenswert seien. Er behauptete, dass die Deutschen der kulturelle Dünger Osteuropas waren (so wie die Juden der Zement, wie Andrzej Szipiorsky erklärte). Er las Peladan, widmete sich dem Reiten, der Jagd, dem Bridge und den Spaziergängen durch die Wälder (Rezzori sagte, dass die Tage, an denen er mit seinem Vater zusammen jagte, die einzigen wirklich glücklichen Momente seines Lebens waren, und er ehrte die Erinnerung an seinen Vater in zwei seiner ersten Romane).

Nachdem das Problem seines Lebensunterhaltes im Berlin der Kriegsjahre gelöst war, widmete sich Rezzori, den Vergnügungen, die ihm die Stadt bot (haben das nicht auch die Pariser während der deutschen Besetzung getan?). Er frequentierte Cafés (wie das berühmte Café Kranzler), die bekanntesten Lokale und Restaurants und ritt im Tiergarten aus, ein Hobby, dem er während seiner Bukarester Jahre viel Zeit gewidmet hatte. Bei diesen Reitausflügen lernte er Priska von Tiedemann, ein neunzehn Jahre junges Mädchen, blond und reserviert, aus Potsdam, Tochter eines Diplomaten, kennen, die seine erste Frau werden sollte. Er heiratete sie am 28. Oktober 1942 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin-Charlottenburg, kurz nachdem sie ihren Bruder an der Ostfront verloren hatte.

Inzwischen hatten sich die alliierten Bombenangriffe auf die deutsche Hauptstadt verstärkt. Am 22. September 2004 veröffentlichte der italienische Germanist Andrea Landolfi im Corriere della Sera unveröffentlichte Auszüge aus einem Tagebuch, das Rezzori in Berlin vom 22. April bis zum 19. Oktober 1943 geführt hat, und das einige Seiten enthält, die uns Aufschluss darüber geben, was der Autor während des Luftangriffs auf die deutsche Hauptstadt vom 23. auf den 24. August dachte. Er war damals neunundzwanzig Jahre alt: »Im Grunde ihrer Herzen oder im seichten Grund ihres Verstands sind alle diese sportlich zum Todesgang gekleideten Gestalten, stehend oder in lustig-bunten Liegestühlen liegend, mit Pelzcapes, Thermosflaschen, Kinderwagen und Vogelkäfigen versehen, alle, wie sie, da die Köpfe zwischen den Schulterblättern mit stieren Augen die Bahn der Motorengeräusche an den mit armdicken Balken abgestützten Decken ihrer Kartoffelkeller verfolgen,- alle sind sie insgeheim von einer tieferen Notwendigkeit des Kriegs überzeugt, sei es aus mystisch-metaphysischen Gründen (welcher Wust von Unklarheiten wird als Begründung ausgeleert), sei es, weil auch in ihnen das wirkungsvollste aller Propagandaworte gefruchtet hat, nämlich: „Ja, wenn wir diesen Krieg verlieren, dann...“ (niemand kann sagen, wozu er dann erst angefangen worden ist) sei es, weil Herr Xenophon gesagt hat, der Krieg sei der Vater aller Dinge – (Wehe dem, der wagt, darüber schon nachzudenken!). Das ist das Geheimnis. Selbst im vierten Kriegsjahr und bei aller Angst vor der Vergeltung ist ein Deutscher in der Tiefe seiner Seele immer noch ein Deutscher. Der Stahlhelm (in seiner Wirkung gegen die Gefahr von Fliegerbomben ungefähr den Korallenketten der Maoris gegen Erdbeben zu vergleichen) auf diesen stachelig geschorenen Köpfen ist ein Symbol: da soll nichts Besseres hinein, kein fremder Einfluss soll das Beieinander von Un- und Halbverdautem, Schwülstigem, Abergläubischem, Dünkelhaftem, Tölpelhaftem, Unausgegorenem, Pubertärem, Schwülem, Verranntem, Eifervollem und Denkfaulem des deutschen Geistes trüben. Heil!«

Im November 1943 fanden Rezzori und seine Frau, die kurz vor der Entbindung stand, Schutz in Pommern, in Stargard, in der Nähe des berüchtigten Stalag II-D, da der Bombenhagel über Berlin nicht mehr zu ertragen war. Mit ihnen war ein Freund des Autors, Baron Frank Freytag-Loringhoven (ein Deutscher aus dem Baltikum), der wie Rezzori zu einem Heimatlosen geworden war. Seine Geburtsstadt war von der Sowjetunion besetzt worden. Um Schwierigkeiten mit den Behörden zu vermeiden, trugen sich beide provisorisch bei der Schutzstaffel ein. Da sie keinerlei Dokumente vorlegen konnten, um die Eintragung gültig zu machen, wurde diese zunächst ausgesetzt. Auf diese Weise konnten sie von der Polizei nach ihrem Ausweis gefragt, den Antrag vorzeigen und wurden nicht mehr weiter behelligt. In Pommern und danach in Niederschlesien kämpfte Rezzori um seine Existenz und arbeitete auf dem Gut. Seine Freizeit verbrachte er mit seinem Freund über Literatur plaudernd und lesend. Zeit hatte er im Übermaß, und er holte alles auf, was er in seinen jungen Jahren nicht gelesen hatte: Goethe, Dostojewskij, Thomas Mann, P.D. Woodhouse, Knut Hansum,  allen voran Robert Musil, dessen Der Mann ohne Eigenschaften zu einem seiner Lieblingsbücher wurde. Alles, was er selbst gerne geschrieben hätte, Musil hatte es bereits gesagt. Vor Kriegsende gelang es Rezzori, sich mit seiner Familie nach Bendesdorf (Niedersachsen) durchzuschlagen, wo sie von dem Vater seiner Frau aufgenommen wurden.

Fast drei Jahre nach dem von Rezzori beschriebenen Angriff auf Berlin, am 8. August 1946, fast fünf Monate nach der Vertreibung aus Niederschlesien durch die polnischen Behörden, schrieb eine Freundin der Familie meiner Mutter, eine Ärztin, Folgendes an meine Großeltern (die wie durch ein Wunder zusammen mit ihren beiden Kindern den Krieg überlebt hatten): »Es ist ja leider so, dass allen Vertriebenen aus dem Osten so viel Steine wie irgend möglich in den Weg gelegt werden. Ohne Beziehungen gelingt es einem Vertriebenen kaum, sich eine Existenz zu schaffen. Die Menschen hier haben wenig vom Krieg zu spüren bekommen und wollen auch jetzt nichts von ihrem früheren guten Auskommen einbüßen. Es kann doch nicht sein, dass ein Teil unseres Volkes den Krieg mit dem Verlust seiner gesamten Habe, seiner Heimat und seiner Existenz bezahlt und die anderen ganz ungeschoren davonkommen. Zu irgendeinem Ausgleich muss es doch schließlich einmal kommen!« Frau Doktor Dethleffsen, geboren in Schleswig-Holstein, vertraute darauf, eines Tages wieder nach Niederschlesien zurückkehren zu können: »Mir fehlen der Wald und die Berge sehr.« Sie antwortete auf einen Brief meines Großvaters, in dem er sie um eine Möglichkeit für eine Anstellung für ihn gefragt hatte. In seiner Eigenschaft als UK war mein Großvater nicht eingezogen worden, und Frau Dr. Dethleffsen hatte außerdem zu seinen Gunsten ausgesagt, um ihm zu dem so wichtigen Persilschein (der Entnazifizierungsbescheinigung) zu verhelfen. Während der nächsten und letzten fünfzehn Jahre seines Lebens mühte sich mein Großvater ab, sein Leben und das seiner Familie wieder aufzubauen. Er richtete seine gesamte Kraft darauf vorwärtszukommen, sei es wie es wolle, und alles das zu vergessen, was er und seine Familie durchgemacht hatten.

Im Sommer 2001 war der Schriftsteller W.G. Sebald mehrmals in München und besuchte dort das Kriegsarchiv in der Leonrodstraße im Münchner Stadtteil Neuhausen, um Informationen für sein neues Projekt zu sammeln, ein Buch über die sentimentale Erziehung der Deutschen während der Nazizeit. In seinen Erklärungen gegenüber dem Journalisten Ciro Krauthausen (Babelia/El País, 14. Juli 2001, Ich wuchs in einer postfaschistischen deutschen Familie auf) sagte Sebald: »Die daran Schuldigen [des zwangsweisen Exils] können sich niemals vorstellen, wie es ist, plötzlich aus einem Lande ausgewiesen zu werden. Heute noch können sich die Deutschen ein solches Erlebnis nicht vorstellen. Von heute auf morgen wird man zu einer Nichtperson, und es wird einem alles entrissen, was man hatte: das Haus, das Geld, alles, was während eines Lebens oder mehrerer Generationen zusammengetragen wurde, auch die eigene Sprache.« Ich wurde damals auf die Worte Sebalds aufmerksam (mein Schreiben an den Direktor der Tageszeitung El País vom 23. Juli 2001), denn ich wusste von meiner Mutter »dass Hunderttausende von Ostdeutschen und Auslandsdeutschen vertrieben wurden, zusammengepfercht in Viehwagen, nur mit dem, was sie am Leibe trugen, und dass ihre gesamte Habe sich auf einen Koffer reduzierte (und das geschah denjenigen, die glücklich genug waren, dem Auge um Auge, Zahn um Zahn zu entgehen, das in Osteuropa über sie hereinbrach). Es ist wahr, dass sie in ihrem eigenen Vaterland aufgenommen wurden, nachdem sie alles verloren und überlebt hatten. Aber das Land, das sie aufnahm, behandelte sie als Deutsche zweiter Klasse, und sie mussten sich ganz anderen sozialen und kulturellen Regeln unterwerfen als in ihrer Heimat. Ironie der Geschichte, sie wurden ins Exil in ihr eigenes Land geschickt.« Ebenso wie der Ast, der den Lebensfaden von Ödön von Horváth im Juni 1938 durchschnitt, starb auch Sebald am 14. Dezember 2001 durch einen Verkehrsunfall, ohne sein Projekt abschließen zu können, das sicher dazu beigetragen hätte, mit Hilfe der Fiktion zu verstehen, wie die Deutschen sich dem Krieg stellten und diesen verinnerlichten. In den deutschen Familien und Schulen war nämlich während vieler Jahre dieses Thema ein Tabu. Meiner Mutter wurde es in der Schulzeit niemals erlaubt, über das zu sprechen, was sie und ihre Familie aufgrund des Krieges durchgemacht hatten.

Der Grund meines damaligen Briefes an die Redaktion der Tageszeitung „El País“ war, was meine eigenen Großeltern mütterlicherseits und viele ihrer Freunde erlebt hatten. Das letzte Stückchen Niederschlesien, das den Deutschen entrissen wurde, war die Grafschaft Glatz und das Riesengebirge, die erst nach dem Waffenstillstand in die Hände der Rotarmisten fielen, so dass die malerischen Ortschaften dieses Landstrichs und die Stadt Glatz (das kleine Prag genannt, 1763 an Preußen angeschlossen und Geburtsstadt des Sekretärs von Goethe, Friedrich Wilhelm Riemer) der Zerstörung entgingen. Ab Mai 1945 brach dort die Hölle los. Im März 1946 wurden meine Großeltern gezwungen, den kleinen Ort zu verlassen, in dem sie seit zwanzig Jahren gelebt hatten. Zurück ließen sie ihr Haus, ihr Geschäft, auf dem Friedhof eine Tochter, die kurz vor dem Krieg gestorben war, und den Vater meiner Großmutter bei den Nonnen im Kloster, da er zu alt war, für die Strapazen einer solchen Reise war. Die polnische Verwaltung pferchte sie in einem Zug zusammen, wo sie typhuskrank wurden und schickte sie westwärts nach Deutschland. Dort wurden sie entlaust und fanden Zuflucht bei einem friesischen Bauern, der diesen dunkelhaarigen Deutschen, die so anders sprachen, misstraute. Zumindest hatten sie das Leben gerettet: mein Großvater, meine Großmutter und die beiden Kinder, mein Onkel Klaus, meine Mutter und die junge Sekretärin meines Großvaters Hilde, die ihren Bruder und ihren Verlobten an der russischen Front verloren und danach die Vergewaltigungen durch die Rotarmisten erlitten hatte.

Während der Kriegs- und Nachkriegszeit waren die Bücher von Gregor von Rezzori für viele Deutsche aus dem Osten der letzte Kontakt mit ihrer Kultur, der mitteleuropäischen Kultur deutscher Sprache, die bereits im Sterben lag. Obwohl vielen mitteleuropäischen Schriftstellern deutscher Sprache immer noch vorgeworfen wird, dass sie während des Krieges dem Drama den Rücken gekehrt hatten, während nicht weit von ihren Häusern die Schornsteine der Vernichtungslager rauchten, führte die Kriegserfahrung dazu, dass die literarischen Ansprüche Rezzoris jetzt höher waren. Ödipus siegt bei Stalingrad: »Ich begann wieder zu schreiben. Nun aber nicht mehr in dem milden Sinne des Fräuleins von Rezori... sondern angefeuert von meinem Hass. Ich nahm Rache. Rache an der Ungeheuerlichkeit der menschlichen Existenz. Rache an der Dummheit, die uns beherrscht.« Aus diesem Hass auf das Leiden, das der Krieg verursacht hatte, entstand Ödipus siegt bei Stalingrad, eine ironische, unbarmherzige, ernüchterte und sarkastische Satire über die kleinpreussische Aristokratie, die, nachdem sie die Cafés von Berlin bevölkert hatte, im Kampf um Stalingrad niedergemäht wurde. Wie Volker Schlöndorff richtig sagt, werden in diesem Roman die Politik und die Nazis mit keinem Wort erwähnt. Niemand in dieser Berliner Gesellschaft und noch weniger der allgegenwärtige Adel möchte etwas gemeinsam haben mit diesen »jungen Braunhemden«, und gerade deshalb wurden sie ermöglicht.

Nach dem Krieg nahmen deutsche Schriftsteller Stellung gegenüber dem Konflikt, den sie auf verschiedene Weise überlebt hatten. Wenn  H.M. Enzensberger schreibt, »die sogenannte Trümmerliteratur kaum Früchte über ihre Bezeichnung hinaus erbracht hat«, müssten wir vielleicht denken, dass das kein Thema für die Fiktion ist (obwohl im europäischen Kulturschaffen laufend Bücher und Filme über dieses Thema entstehen), da dieser Haufen von Kriminellen und Geistesgestörten es nicht wert ist, dass man sich mit ihnen abgibt. Ebenso wie in Die Gabe von Vladimir Nabokov (1937) sind es in Ödipus siegt bei Stalingrad die Nazis nicht einmal Wert erwähnt zu werden. Irrte sich Rezzori darin, dass er die Nazis unterschätzte? Gregor von Rezzori war ein österreichisch-ungarischer Schlafwandler, der sich während der letzten Kriegsjahre der Lektüre widmete. In seinem späteren Werk, das ihm erlaubte, so zu leben, wie es ihm gefiel, und die Alimente für seine drei Kinder zu zahlen, vertiefte er sich in die Gründe des Konfliktes und nicht in seine Folgen (die bereits ab 1919 sichtbar waren). Rezzori aufgewachsen in der k.u.k Monarchie, versuchte zu vermeiden, dass der Krieg ihn zeichnete. Über die Schuld der Deutschen wurde lang und breit gesprochen, bis zu dem Punkt, dass Sebald in dem vorgenannten Interview sagt, dass »die Deutschen sich gezwungen sehen, sich dieser Themen anzunehmen [dem Exil und der politischen Verfolgung], und in der Tat tun sie das ständig, aber aus Pflichtbewusstsein. Sie sind Weltmeister darin, sich schuldig zu fühlen. Das ist kein Vorwurf, sondern eher eine Feststellung: die Deutschen interessieren sich sehr wenig für ihre Vergangenheit. Sie tun als ob, aber in Wirklichkeit ist es nicht so. Das erlaubt ihnen, sich mehr auf die Gegenwart zu konzentrieren, was, wie ich annehme, einer der Gründe für ihre Effizienz ist.« Ich glaube in der Tat, dass diese Feststellung mit seiner Idee der unheimlichen Heimat in Verbindung gebracht werden kann, der Heimat, die nicht mehr als die eigene Heimat angesehen werden kann, und entsprechend der viele dieser Deutschen sich niemals wieder zu Hause fühlten. Ich denke, das war der Fall meiner Großeltern mütterlicherseits.

Ende der Vierzigerjahre, in Hamburg, wo er mit dem Radiosender NWDR und an seinem Roman Ödipus siegt bei Stalingrad arbeitete, stieß Rezzori zufällig in einem Lokal auf eine Gruppe trinkender Männer. Er wollte ein Glas heißes Milch trinken und ins Bett zu gehen, aber der Spott dieser harten Burschen, die Schnaps kippten, wurde ihm zum Verhängnis. Einer von ihnen war ein Hotelier, der um acht Uhr abends den Hund Gassi geführt hatte und danach im Lokal hängengeblieben war, bis schließlich um drei Uhr morgens seine schöne Frau ihn aus der Bar holte. Der Mann entschuldigte sich, dass er, mit dem guten Freund Gregor von Rezzori, etwas getrunken habe. Rezzori anblickend rief die Frau aus: »Aber ich habe mit Ihnen geschlafen!« Als Heranwachsende hatte sie seinen ersten Roman gelesen: »ich habe ihr Buch in den Armen gehalten wie niemals einen Geliebten«.

Jetzt halte ich ein Exemplar der ersten Ausgabe von Rombachs einsame Jahre in den Händen, gewidmet einer Frau, deren Mann 1942 an der russischen Front 1942 gefallen ist. Mein größter Trost ist, dass trotz all dieses Leides meine Großeltern sich in Rezzoris Belletristik flüchten konnten.

Grenzland


Aus dem Spanischen übersetzt von Roswitha Menzel
Der Text wurde im Juli 2014 in der mexikanischen Zeitschrift Crítica (Universität von Puebla) veröffentlicht, eine Spezialausgabe über das Werk von Gregor von Rezzori

Christian Marti-Menzel (geboren 1969 in Barcelona, Spanien). Studium der Slawistik an der Universität von Barcelona. Arbeitete in Barcelona als literarischer Agent und ist jetzt Übersetzer aus dem Deutschen ins Spanische u.a. von Veit Heinichen, Siegfried Lenz, Hans Fallada, Dieter Schlesak, Gregor von Rezzori, Joachim Meyerhoff.