Die weißen Städte 

Joseph Roth

Moses Joseph Roth

Schreiben, Erzählen, Fliehen (* 2. September 1894 in Brody, Ostgalizien, Österreich-Ungarn; † 27. Mai 1939 in Paris)


 

"Ich wurde eines Tages Journalist aus Verzweiflung über die vollkommene Unfähigkeit aller Berufe, mich auszufüllen. Ich gehörte nicht der Generation der Leute an, die ihre Pubertät mit Versen eröffnen und abschließen. Ich gehörte noch nicht der allerneuesten Generation an, die durch Fußball, Skilauf und Boxen geschlechtsreif wird. Ich konnte nur auf einem bescheidenen Rad ohne Freilauf fahren, und mein dichterisches Talent beschränkte sich auf präzise Formulierungen in einem Tagebuch.

Seit jeher mangelte es mir an Herz. Seitdem ich denken kann, denke ich mitleidlos. Als Knabe fütterte ich Spinnen mit Fliegen. Spinnen sind meine Lieblingstiere geblieben. Von allen Insekten haben sie, neben den Wanzen, am meisten Verstand. Sie ruhen als Mittelpunkt selbstgeschaffener Kreise und verlassen sich auf den Zufall, der sie nährt. Alle Tiere jagen der Beute nach. Von der Spinne aber könnte man sagen, sie sei vernünftig, sie sei in dem Maß weise, daß sie das verzweifelte Jagen aller Lebewesesen als nutzlos und nur das Warten als fruchtbar erkannt hat.

Geschichten von Spinnen, von Sträflingen, die sich in der finsteren Einsamkeit ihrer Zelle mit Spinnen unterhalten, las ich mit Eifer. Sie regten meine Phantasie an, an der es es mir übrigens keineswegs fehlt. Ich habe immer leidenschaftlich, aber mit wachen Sinnen geträumt. Mein Traum konnte niemals als Wirklichkeit erscheinen. Dennoch vermag ich mich so tief in den Traum zu begeben, daß ich eine zweite, eine andere Wirklichkeit lebe."


 "Man braucht in Prag nicht “verwurzelt” zu sein. Es ist eine Heimat für Heimatlose. Sie hat keine Sentimentalität." Joseph Roth
Prager Tagblatt, 25.12.1924: Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag 


Sein Leben läßt sich in Räumen einteilen.  Es ist von den Liedern seiner Mutter die Rede, die Roth in seiner Kindheit auf Ukrainisch hörte. Es waren meist traurige Lieder, die seine Mutter sang, sie war kurz nach der Geburt von Moses Joseph Roth von ihrem Mann verlassen worden.  Roth studierte in Lemberg und  reiste 1914 nach Wien. 1915 mit dem Gedicht "Welträtsel " die erste Veröffentlichung. 1916 rückt Roth zur Einjährigen-Schulung des 21. Feldjäger-Bataillons ein, 1917 Militärdienst in Galizien. 1920 Übersiedlung nach Berlin, Mitarbeit an Berliner Zeitschriften und Zeitungen. 1922 Heirat mit Friederike Reichler in Wien. Im Spätsommer 1923 Reise nach Prag und Vorabdruck von "Das Spinnennetz" in der Wiener Arbeiterzeitung. 1924 folgen Feuilletons , Gedichte und die Romane "Hotel Savoy" und "Die Rebellion". 1925 Feuilletonkorrespondent für die Frankfurter Zeitung: - "Die weißen Städte". "April. Die Geschichte einer Liebe", "Der blinde Spiegel". 1926 reist er nach Rußland, dem folgen Reportage Reisen nach Albanien. 1927 erscheinen "Briefe aus Deutschland" in der Frankfurter Zeitung. "Juden auf Wanderschaft", "Die Flucht ohne Ende". 1928 erkrankt seine Ehefrau an Schizophrenie. "Zipper und sein Vater", "Das Moskauer jüdische Theater". "Briefe aus Polen" und "Das vierte Italien" erscheinen in der Frankfurter Zeitung. 1929 "Rechts und Links", "Ein Kapitel Revolution", "Der stumme Prophet". 1930 "Hiob", "Panoptikum", 1931 Aufenthalt in Antibes, 1932 "Radetzkymarsch", 1933 Beginn des Exils in Paris , 1934 Südfrankreich "Tarabas", "Le trimophe de la beauté", "Le buste de l'empereur", 1935 Rückkehr nach Paris "Die Büste des Kaisers", "Die hundert Tage", 1936 Amsterdam, Ostende danach wieder Paris "Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht", 1937 Vortragsreise in Polen, "Das falsche Gewicht",  1938 letzter Besuch in Wien "Die Kapuzinergruft". Am 27. Mai  1939 stirbt Roth im Hospital Necker, Paris. 


Als ich dreißig Jahr alt war, durfte ich endlich die weißen Städte sehen, die ich als Knabe geträumt hatte. Meine Kindheit verlief grau in grauen Städten. Meine Jugend war ein grauer und roter Militärdienst, eine graue Kaserne, ein Schützengraben, ein Lazarett. Ich machte Reisen in fremde Länder — aber es waren feindliche Länder. Nie hätte ich früher gedacht, daß ich so rapid, so unbarmherzig, so gewaltsam einen Teil der Welt durchreisen würde, mit dem Ziel zu schießen, nicht mit dem Wunsch zu sehen. Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen. Die Kinder der anderen, der früheren und der späteren Generationen, dürfen einen ständigen Zusammenhang zwischen Kindheit, Mannestum und Greisenalter finden. Auch sie erleben Überraschungen. Aber keine, die nicht in irgendeiner Beziehung zu ihren Erwartungen zu bringen wäre. Keine, die man ihnen nicht hätte prophezeien können. Nur wir, nur unsere Generation, erlebte das Erdbeben, nachdem sie mit der vollständigen Sicherheit der Erde seit der Geburt gerechnet hatte. Uns allen war es wie einem, der sich in den Zug setzt, den Fahrplan in der Hand, um in die Welt zu reisen. Aber ein Sturm blies unser Gefährt in die Weite, und wir waren in einem Augenblick dort, wohin wir in gemächlichen und bunten, erschütternden und zauberhaften zehn Jahren hatten kommen wollen. Ehe wir es noch erleben konnten, erfuhren wir's. Wir waren für das Leben gerüstet, und schon begrüßte uns der Tod. Noch standen wir verwundert vor einem Leichenzug, und schon lagen wir in einem Massengrab. Wir wußten mehr als die Greise, wir waren die unglücklichen Enkel, die ihre Großväter auf den Schoß nahmen, um ihnen Geschichten zu erzählen.

Seitdem glaube ich nicht, daß wir, Fahrpläne in der Hand, in einen Zug steigen können. Ich glaube nicht, daß wir mit der Sicherheit eines für alle Fälle ausgerüsteten Touristen wandern dürfen. Die Fahrpläne stimmen nicht, die Führer berichten falsche Tatsachen. Alle Reisebücher sind von einem stupiden Geist diktiert, der nicht an die Veränderlichkeit der Welt glaubt. Innerhalb einer Sekunde aber ist jedes Ding durch tausend Gesichter verwandelt, entstellt, unkenntlich geworden. Man berichtet über ein fremdes Volk, das lebt, wie über eines, das in der Steinzeit gestorben ist. Ich habe Reisebücher über einige Länder gelesen, in denen ich gelebt habe (und die ich so gut kenne wie meine Heimat und die alle vielleicht meine Heimat sind). Wie viele falsche Berichte sogenannter guter Beobachter! Der gute Beobachter ist der traurigste Berichterstatter. Alles Wandelbare begreift er mit offenen, aber starrem Aug'. Er lauscht nicht in sich selbst. Das aber müßte er. Er könnte dann wenigstens von seinen Stimmen berichten. Er verzeichnet die Stimme einer Sekunde in seiner Umgebung. Aber er weiß nicht, daß andere Stimmen ertönen, sobald er seine Horcherstellung verlassen hat. Und ehe er's niederschreibt, ist die Welt, die er erkennt, nicht mehr dieselbe.

 

Und ehe wir ein Wort niederschreiben, hat es nicht mehr dieselbe Bedeutung. Die Begriffe, die wir kennen, decken nicht mehr die Dinge. Die Dinge sind aus den engen Kleidern herausgewachsen, die wir ihnen angepaßt haben. Seitdem ich in feindlichen Ländern gewesen bin, fühle ich mich in keinem einzigen fremd. Ich fahre niemals mehr in die Fremde. Welcher Begriff aus einer Zeit der Postkutsche! Ich fahre höchstens ins Neue. Und sehe, daß ich es bereits geahnt habe. Und kann nicht darüber berichten. Ich kann nur erzählen, was in mir vorging und wie ich es erlebte."

 

Joseph Roth "Die weißen Städte", Auszug in Werke, Band 2, Seite 451 bis 453 korrigiert



 

Das Unsagbare

I

Von Monat zu Monat, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von einem Augenblick zum anderen wird es schwieriger, das Unsagbare dieser Welt sagbar zu machen. Der Bannkreis der Lüge, den die Missetäter um ihre Untaten ziehen, lähmt das Wort und die Schriftsteller, dessen Diener sie sind. Dennoch gebietet die Pflicht, die einem die Gnade auferlegt hat, die unerbittliche, die bis zum letzten Augenblick, das heißt: bis zum letzten Tropfen Tinte auszuharren, das Wort im wahrsten Sinne des Wortes zu ergreifen, das durch Lähmung bedrohte Wort. Man muß sich heute entschuldigen, wenn man schreibt ... und man muß weiterschreiben ...
Man muß schreiben, gerade dann, wenn man nicht mehr glaubt, durch das gedruckte Wort etwas bessern zu können. Den Optimisten mag es leichtfallen zu schreiben. Den Skeptikern, um nicht zu sagen: den Verzweifelten, fällt es schwer, und deshalb sollte ihr Wort gewichtiger sein. Es sollten sozusagen Stimmen aus dem Jenseits sein. Umglänzt sollen sie sein, von dem Glanz des Vergeblichen. (Denn es hat seinen Glanz, das Vergebliche!)

II

Wer wäre imstande, solch Ungeheuerliches auszudenken, ohne daß er es selbst beginge; das Ungeheuerliche, das heute jeden Tag aus Radios und Redaktionen der Welt mitgeteilt wird; und noch weniger das Ungeheuerliche, das beide verschweigen. Ungeheuerlich ist selbst die Tatsache, daß man, ferne dem Bedrohlichen, noch die Feder unbehelligt in das Tintenfaß tauchen darf, um von jenen Wahrheiten zu berichten, die eine stumpfe, bequeme, taube Welt "Märchen" zu benennen liebt und gar "Greuel-Märchen", in einer Stunde, in der doch die Wirklichkeit ein derartiges Greuel ist, daß sie selbst ein Märchen wird und ein wirkliches Greuel ein Idyll gegenüber dieser Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist dermaßen armiert, daß kein "Inter arma silent musae" mehr gelten kann und daß man sich gewöhnen müßte an die Version: "Inter arma clamant musae de profundis".

III

Im Hause Obere Donaustraße 67 in Wien wurde ein zweiundsiebzigjähriger Jude gezwungen, eine Feuerwehrleiter zu erklettern, den Schlauch in der linken Hand, die rechte an der Leiterstange. "Feuerprobe" nannten es die SA-Männer. Als der Hausmeister den Henkern erklärte, er sei bereit, an Stelle des Juden hinaufzuklettern, wurde er mit Verhaftung bedroht und in sein Souterrain zurückgeschickt.
In Wilster hat das Gericht bestimmt, daß Eltern, die ihren Kindern den Eintritt in die Hitler-Jugend verwehren, das "Eltern-Recht" abgesprochen werde. (Mütter abgeschafft!)
Ein Oberlandesgericht in Köln hat in einem Urteil festgestellt, daß ein Haus, in dem ein Jude wohnt, als "mangelhaft" zu betrachten sei.
Ein Wiener Cafetier aus der Währiinger Staße wurde von den Nazis geblendet.
Ist es genug?
Nein, ich fürchte, es nicht genug! Vielmehr muß ich befürchten, setzte ich den Bericht der Wahrheiten fort: ich würde den "sattsam" denunzierten, "notorischen" Erfindern von Greueln zugezählt werden, von denen uns die Urheber der Greuel ihre (nicht unsere) Märchen erzählen.
Der mir bekannten Greuel sind viele, und auch die Mitwisser sind zahlreich. Aber wissen! Wer will schon davon wissen? Die Welt ist stumpf und taub geworden und mißtrauisch gegen die Sprecher der Wahrheit und zutraulich den Sprechern der Lüge gegenüber. Ich weiß, daß ich in der Wüste schreibe — und daß wir alle in die Wüsten rufen! ...
Derlei oben erwähnte Nachrichten - und ähnliche - kommen dem Schreiber dieser Zeilen beinahe täglich zu. Sie zu veröffentlichen würde die selbstverständliche Pflicht der ausländischen Zeitungsberichterstatter, wüßte man nicht, daß ihren Verpflichtungen Grenzen gesetzt sind und sich also das Ungeheurliche ereignet! Daß die Boten der Wahrheit von ihren Arbeitgebern verpflichtet sind, dem Kompromiß und, eventuell vor die Wahl zwischen Wahrheit und Lüge gestellt, dieser und jener in gleicher Weise die Ehre zu geben!
Ungeheuerliche Dinge ereignen sich. "Die Augen und die Ohren der Welt", wie es in der "Wochenschau" heißt, verblenden die lebendigen Augen und betäuben die hörbereiten Ohren der Menschen.
Aber es geht ein infernalischer Glanz sondergleichen - der rote Widerschein des Höllenfeuers - noch von der Lüge aus, die sich keineswegs damit begnügt, eine Wahrheit zu vertuschen, sondern die darauf aus ist, sich an ihre Stelle zu setzen und ihren Titel zu erlangen. Es ist ihr gelungen: kein Zweifel! Welch eine Welt, in der die kühnsten Phantasien Balzacs erblassen, die großartigsten Shakespeares erbleichen und in der man sich gezwungen fühlt zu erkennen, daß dieses Jahrzehnt, was seine Intensität an höllischer Schlechtigkeit betrifft, Jahrhunderte schänden könnte ...

IV

Ich denke an den zweiundsiebzigjährigen jüdischen Greis, der gezwungen wurde, die steile Feuerwehrleiter hinaufzuklettern. Kein ausländischer Korrespondent war dabei. Und wenn einer dabei war, hat er's nicht berichtet. Und wenn einer es selbst berichtet hätte, wäre es vergessen worden.
Fürwahr! Gegenüber der Gleichgültigkeit der Welt sind die Grausamen der Un-Welt eine Kleinigkeit.
Das schrecklichste Greuel-Märchen, von dem noch unsere Urenkel erzählen werden, ist die Stumpfheit einer Um-Welt, die eine Un-Welt geworden ist; als wollte sie sich lächerlicheweise darauf berufen, daß sie nicht etwa durch, das Wort Gottes entstanden sei, sondern durch einen Druckfehler Satans.

 

Manuskript von 1938, Leo Baeck Institute (New York), Auszug aus dem Buch "Die Filiale der Hölle auf Erden", Schriften aus der Emigration, 1. Auflage 2003


Rückblende 1914: Joseph Roth an der Universität in Wien (Germanistik, Philosophie) - wird als "untauglich" für den Militärdienst zurückgestellt. Die militärischen Aufgaben der Truppen wurden in Friedenszeiten durch farbiges Schauspiel und Machtdemonstration symbolisiert. Prachtvolle Manifestationen der Stärke sollten - zumindest dort , wo kein Kriegsgebiet war - über die Grausamkeit des Krieges hinwegtäuschen. Die Kriegspropaganda wurde mit der die Einheit des Staates symbolisierenden Person des Kaisers, des  "obersten Kriegsherrn", verwoben. So huldigten Adel, Politiker und Volk dem Kaiser festlich, als die Nachricht von der Wiedereinnahme Lembergs zum Beginn der Sommeroffensive 1915 gegen Rußland eintraf.

¤¤¤¤¤¤¤¤¤¤¤¤¤ 100 Jahre ¤¤¤¤¤¤¤¤¤¤¤¤¤


2014: In Kiev, Lemberg und anderen Städten der Ukraine MAIDAN

 


Flucht ohne Ende 

Vorwort

Im folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Franz Tunda.
Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen.
Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu »dichten«. Das wichtigste ist das Beobachtete. –

Paris, im März 1927, Joseph Roth

Der gesamte Roman ist nachzulesen: Projekt Gutenberg


SOMA MORGENSTERN


JOSEPH ROTHS FLUCHT UND ENDE
Erinnerungen

 

(Paris, März 1938, Seite 225) Ich blieb etwa eine Woche oder zwei in dem Hotel Florida am Boulevard Malesherbes. Roth verbrachte die ganzen Tage mit seinen Katholiken, die ich in dieser Zeit fast alle kennengelernt habe. Ins Hotel kam er nur, um zu übernachten. Ich studierte die Boulevards und las eifrig die französische Presse. In jenen Tagen habe ich die Bekanntschaft eines englischen Journalisten gemacht, der mir in den bösen Jahren, die ich in Paris verbringen sollte, ein sehr lieber und treuer Freund geworden ist. Er kam zu mir auf Empfehlung des englischen Schriftstellers James Stern und seiner Frau Tania, die ich noch aus meiner Berliner Zeit kannte. Er hieß Darsie Gillie. Bei der ersten Begegnung erzählte er mir, daß er einer der Pariser Korrespondenten der London Times sei, und er habe den Auftrag bekommen, über Wien nach der deutschen Besetzung an seine Zeitung zu berichten. Er fragte mich nach einigen wichtigen Adressen, die ich ihm geben konnte. Als er zurückkam und mir von dem ersten Pogrom erzählte, der nach dem Besuch von Göring stattfand, fragte ich ihn, einen Korrespondenten einer so wichtigen englischen Zeitung: "Und England wird nichts dagegen zu sagen haben?" Darsie Gillie, um einen Kopf größer als ich, sah mich diesmal nicht nur aus physischen Gründen von oben herab an und antwortete: "Soma Morgenstern, ich kenne Sie aus der Frankfurter Zeitung. Nie hätte ich gedacht, daß Sie so naiv fragen könnten. Wissen Sie, was man in London in maßgebenden Kreisen dazu sagt? "That serves the Viennese Jews right. That will teach them to be Communists." Ich sagte: "Darsie Gillie, I lived in Vienna since 1912. In Vienna there were always less Communists among Jews than among Christians. Now and ever." - "Es handelt sich nicht darum", sagte Darsie Gillie auf deutsch - denn wir sprachen deutsch. "Seit der Revolution in Rußland gibt es sogenannte maßgebende Kreise, für die Juden Kommunisten sind." - "Für Hitler", sagte ich ihm, "sind Juden Kommunisten und Bankiers zugleich, oft sogar in einem Satz. In einem hysterischen Hitler-Satz. Aber die Engländer sind doch nicht als Hysteriker bekannt!" Wir sahen uns bald und dann oft wieder und haben uns gut verstanden. Nach dem Krieg ist er, Korrespondent des Manchester Guardian geworden und ich hatte den Eindruck, daß er sich dort wohler fühlte als bei der London Times.

Roths Café war ein "Café Sélect" auf dem Champs-Élysées. Hier auf den Boulevards fühlte sich selbst Joseph Roth wie ein Tourist. Eines Tages sagte ich ihm das und teilte ihm mit, daß ich aus dem Hotel Florida ausziehe: "Ich kann dieses Touristenleben auf den Boulevards nicht ertragen." - "Ich fühl mich auch hier wie ein Tourist. Aber ich muß hier bleiben, weil ich hier mit meinen Monarchisten und Katholiken zusammenkomme." - Ich erinnere mich, daß es vis-à-vis von seinem Hotel Foyot ein kleines Hotel gab, wo wir Stammgäste im Bistro waren. "Dort kennt man dich", sagte ich ihm, "man weiß, wer du bist. Dort brauchst du keine Angst zu haben vor einem Portier. Es gibt dort keinen. Ich war gestern dort, und ich ziehe morgen hin." - "Dann ziehst du allein hin." - Ich übersiedelte am Vormittag. Roth blieb standhaft zurück. Bis zum nächsten Nachmittag, wo er unangesagt mit seiner Holzkiste in der Rue de Tournon erschien. Da er sich nicht angesagt hatte, bekam er nur ein Zimmer, das kein Tageslicht hatte. Aber das störte ihn nicht. Folgenden Tag besetzte er einen gepolsterten Platz mit dem Ausblick auf die noch übriggebliebenen Ruinen des Hotel Foyot, und nach einer Woche war das Bistro im Hotel de la Poste in der Rue de Tournon das Zentrum der Monarchisten und auch zum Teil der Katholiken.

Nach einer Zeit forderte die Deutsche Gesellschaft die österreichischen Flüchtlinge auf, ihre ungültig gewordenen österreichischen Pässe gegen deutsche auszutauschen. Roth und ich blieben standhafte Ex-Autrichiens, wie die französische Regierung uns jetzt nannte. Amis de la France. Roth ging mit mir zum Polizeiamt des VI. Arrondissements, und er diktierte meine Personalien. Meinen Geburtsort gab er an, wie ich ihm diktierte, und als Geburtsland nannte er Österreich, wie es ja war, als ich geboren wurde. So diktierte er es auch Frau Alazard, die mich so in ihr Gästebuch eintrug.

Als ich kurze Zeit hernach zur Polizeipräfektur vorgeladen wurde und mein Récépissé, das wichtige Legitimationspapier, erhielt, stand darauf: "Né Polonais". In der Präfektur saßen Kenner der europäischen Geographie nach 1918. - Als nach dem Ausbruch des Krieges der General, der Stadtkommandant von Paris war, die "ressortissants du Reich" aufforderte, sich in die Konzentrationslager zu melden, war ich, geboren in Polen, eigentlich nicht damit gemeint. Aber der Beamte, der im Hotel sich informierte, fand dort im Buch, daß ich ein Autrichien war, wie Roth mich angemeldet hatte. Ich zeigte mein Récépissé, auf dem stand: Né Polonais". Das nützte mir aber nichts. Und ich muß gestehen, daß ich mich nicht sehr dagegen wehrte. Ich sah sofort ein, daß man die Emigranten ins Konzentrationslager schickte, weil sie zu achtzig Prozent Juden waren. 

Eine fast dreißigjährige Freundschaft hatte Soma Morgenstern mit Joseph Roth verbunden: Die Erinnerungen setzten um 1909 im damaligen Lemberg ein, sie enden 1939 mit Roths Begräbnis. Beide stammen aus Galizien, beide waren Journalisten und Schriftsteller in Wien, wurden als Juden verfolgt und sind nach Paris emigiert. Dort endete durch den frühen Tod Roths die wechselvolle Geschichte einer komplizierten Freundschaft, die sich in den letzten Jahren durch Roths wachsende Alkoholabhängigkeit und wohl auch durch seine konservative politische Wende verdüsterte. Morgenstern erlebte diese 1938/39 unter den Bedingungen des Exils in einem kleinen Pariser Hotel hautnah mit. Dieser gemeinsam letzten Zeit ist ein Hauptteil des Buches gewidmet, in dem es Sama Morgenstern gelingt, den Zeitgenossen und Freund Joseph Roth in seinem eigentümlichen Charme und in seiner inneren Zerrissenheit auf unvergeßliche Weise vor Augen zu führen.

Soma Morgenstern wurde am 3. Mai 1890 in einem ostgalizischen Dorf bei Tarnopol geboren. 1912 begann er ein Jurastudium in Wien, das er nach Unterbrechung durch Kriegsdienst an der Ostfront 1921 abschloß. 1927 wurde Morgenstern bei der Frankfurter Zeitung Kulturkorrespondent, verlor die Stelle aber seiner jüdischen Herkunft wegen 1934. Am Tag der Annexion Österreichs durch Nazideutschland flüchtete er nach Frankreich. Nach mehreren Internierungen gelang es ihm 1941 nach New York zu entkommen, wo er am 17. April 1976 starb. Sein Gesamtwerk (Erinnerungen, Dramen, Feuilletons, Romane) ist im zuKlampen Verlag erschienen.


Dieses Video wurde 2004 von Petr Tomaides für das Prague Writers' Festival gedreht, es erzählt über das Leben von Joseph Roth (in tschechischer Sprache)


Links:
  • Joseph Roth, Radetzkymarsch: Es gibt nicht wenige Historiker, die Österreich-Ungarn, das Vielvölkerreich, bei allen Unterschieden mit der heutigen Europäischen Union vergleichen. Im Habsburger Reich herrschte eine peinlich genau gepflegte Sprachenvielfalt. Damit sollte den unterschiedlichen Mentalitäten der Volksgruppen Rechnung getragen werden, denn das Reich war das, was man heute multikulturell nennt. De jure hatten alle Volksgruppen die gleichen Rechte. Für die Zeit gesehen, war es ein liberaler Rechtsstaat mit einheitlicher Währung und freiem Handel. Es herrschte weitgehende Religionsfreiheit. Einige Volksgruppen bekamen Teilautonomien; dadurch fühlten sich andere, die diese Privilegien nicht bekamen, allerdings benachteiligt. Infrastruktur und Bürokratie waren hoch entwickelt und effizient. Und dennoch fiel das Imperium auseinander.

    Sind es diese Parallelen, die uns Roths Roman heute noch (oder heute wieder?) nahebringt? Ist es dieses Gefühl, dass sich die Weltordnung nicht nur neu sortiert, sondern das wir, die sie in den letzten Jahrzehnten politisch und ökonomisch leidlich dominiert haben, ins zweite Glied gestellt werden? Haben wir mit den Protagonisten von damals mehr gemein, als uns lieb ist?
    Gregor Keuschnig,  Begleitschreiben 27.11.2023

  • Joseph Roth (Radetzkymarsch): Mag sein, dass sein grosser und weitaus berühmterer Zeitgenosse Thomas Mann der strukturiertere und konsistentere Schriftsteller war, aber Mann wurde sehr viel älter, und er war nicht alkoholkrank wie Roth. In Zuckmayers Autobiographie kann man nachlesen, wie Roth, kurz vor seinem Tod, 1938 in Paris, betrunken zu Ödon von Horvaths Beerdigung kam, "mit bekleckertem Anzug, auf zwei jugendliche Bewunderer gestützt." Das ist die Tragik des Genies, wie sie sich wohl immer wieder abspielen wird. Aber im Radetzkymarsch, auf den eigentlich alle seine früheren Erzählungen und Romane hinsteuern, ist jeder Satz ein Nagelschlag, der fest in der Wand, im Holz sitzt; eine halbe Seite, und die gerade charakterisierte Figur steht vor einem. Und die Audienzszene, in welcher der Bezirkshauptmann vor den greisen Kaiser Franz Joseph tritt, um ihn um Gnade für seinen Sohn zu bitten, hat nichts ihresgleichen in der Literatur. Thomas Josef Wehlim

  • 2004 Prague Writers' FestivalJoseph Roth "I don't know where I'm going"
  • „Böse, besoffen, aber gescheit“, Eine lange Nacht über Joseph Roth, Deutschlandfunk

  • 22.1.2021 Ich lerne im Chatroom von "The Hof" die Autorin Susanne Stephan kennen. Ihre Betrachtungen über Joseph Roth sind im Poetenladen nachzulesen.