Ivan Klima - Stunde der Stille
Buchbesprechung von Franz Blaha
Ein Stück kriegs- und ideologiebewegter Zeitgeschichte, der Autor und Zeitzeuge und - zuletzt aber keinesfalls weniger bedeutend - die Übersetzerin sind der deutschsprachigen Ausgabe dieses Buches Pate/Patin gestanden. Fehlte der Hinweis darauf, dass es sich bei der vorliegenden Ausgabe um eine Übersetzung handelt, es wäre dem Text in keinem noch so winzigen Detail anzumerken. Maria Hammerich-Maier verdanken wir nicht nur eine brilliante Übertragung des Romans ins Deutsche, sondern auch ein Nachwort, das gleichzeitig eine Kurzbiografie und politisch-historische Bezugshinweise enthält.
Der Autor, Ivan Klíma, 1931 in Prag geboren, verbrachte als Kind dreieinhalb Jahre im KZ Theresienstadt. Viele seiner jüdischen Verwandten wurden von den Nazis ermordet. Als Zwanzigjähriger schloss er sich - als Reaktion auf diese Erfahrungen - der kommunistischen Bewegung an, in der er als Literat und Journalist tätig war. Publizisten-Maulkorbverfügungen, ideologisch motivierte Justizwillkür (sein Vater musste ungerechtfertigte Gefängnisstrafe und Rufmord erdulden) und nicht zuletzt politisch aufklärende westliche Literatur lassen ihn bald zum Regimekritiker werden, der es aber dennoch schafft, trotz einschränkender Schikanen im staatlichen Publikationsbetrieb geduldet zu bleiben. Reportage-Recherchen führen ihn in den «rückständigsten Landstrich der Tschechoslowakei» (Hammerich-Maier). So darf man annehmen, dass das persönliche Erlebnis ideologischer Extreme in totalitären Regimen, die Landschaft und Lebensweise einer entlegenen, veränderungsresistenten, entwicklungsträgen Region, der hautnahe Kontakt mit den dort immer Benachteiligten, das Erlauschen ihrer Gespräche und notgeprägten Erzählungen den Figuren des Romans ihre Plastizität verliehen und die Landschaftskulisse zum Mitakteur des Romangeschehens haben werden lassen.
Mit jeder einzelnen der Handlung tragenden Personen lebt man mit, fühlt sich mitten im Geschehen, spürt, was sie antreibt, was sie lockt, was sie verführt oder nötigt. Der unaufhörliche Versuch, das Leben unter - unverschuldet oder auch mitverschuldet - prekärsten Bedingungen zu bewältigen, die sie nicht herbeigeführt haben, denen sie aber unterworfen bleiben, prägt den Duktus der Erzählung. Kafkaesk ist der Roman aber keinesfalls, auch wenn die Figur eines perpetuiert scheiternden Landvermessers als Protagonisten einen Scheinbezug zum Kafka´schen Schloss nahelegt.
Bei Klíma bleibt alles Schicksalhafte von den Agierenden selber mitverursacht, unter oft missverstandenen Leit-Ideen, falschen Realitätseinschätzungen … Alles Geschehen bleibt logisch-konsequent tragisch, ohne labyrinthhafte Magie, wie man sie aus Kafkas Schriften kennt. Es gibt keine ins Mystische überhöhten Wächter, Türsteher, Beamte. Die Realpolitik ist auch ohne Dämonie einengend und periodisch destruktiv genug, um den Leser zu bestürzen, besteht aus Macht- und Furchtspielen, die ihn selber aus den Nachwirkungen der regionalen Zeitgeschichte und aus dem medial ins Wohnzimmer gelieferten gegenwärtigen Weltgeschehen noch schattenhaft berühren. Nur, dass der Autor und seine Übersetzerin ihn mit ihrer Sprache viel tiefer in das Erlebnisgefüge solcher Kräfte hineinziehen, als es irgendein TV-Bericht oder ein noch so drastisch illustrierter Zeitungsbereicht vermag. Das Instrument der literarischen Wortbildung, der Wortwerdung reflektierten Erlebens tritt als unübertrefflich im Einbeziehen und Anregen zu Tage.
Den philosophierenden Heiler und Pazifisten Laborecký verschleppen die Soldaten. Er geht gelassen mit. Ob er seiner Überzeugung treu bleiben kann, bleibt offen. Alle anderen Figuren erleben wir mit massiven existenziellen Einbrüchen oder Kehrtwendungen in ihrer Lebensplanung. Der idealistische Landvermesser verblutet sich an Unzulänglichkeiten, Unverständnis und Widerständen, der Lehrer scheitert mit seiner Illusion, seine Schulweisheit ließe sich ins Leben umsetzen und könne das Volk überzeugen, der Priester verliert seinen Glauben, als er aus Furcht vor den Mächtigen zum Verräter wird, der heranwachsende Pavel wird jedesmal vom jeweils gefundenen erwachsenen Vorbild im Stich gelassen, weil dieses mit seinen Vorhaben scheitert, … und mit den Plänen für eine annehmbare Existenzgrundlage scheitern auch die Beziehungen, deren Leidenschaft, Zuneigung und Vertrauen erlahmt.
'Hodina ticha' wurde 1963 in der Tschechoslowakei veröffentlicht. Im selben Jahr erschienen G. Grass' Hundejahre, Gustaf Gründgens verstarb auf einer Weltreise, Prof. Robert H. G. Havemann, Kommunist seit 1932, kritisiert öffentlich den politischen Kurs der DDR und wird kurz darauf gemaßregelt, der Reformpapst Johannes XXIII stirbt, John F. Kennedy und U Thant rufen zum «Befreiungskampf gegen den Hunger» auf und Frankreich und China weigern sich, ein Abkommen gegen überirdische und atmosphärische Atomwaffenversuche mitzuunterzeichnen. Die UdSSR verfügt bereits über 100 einsatzfähige Interkontinentalraketen und hat zu diesem Zeitpunkt schon doppelt soviel Sprengkraft in Atomwaffenversuchen freigesetzt, wie die USA. In der BRD wird «Der Stellvertreter» von R. Hochhut uraufgeführt, …
In diesem Weltgeschehnis-Ambiente und in einer Zeit, in der die tschechische Kultur mit der «neuen Welle» des tschechischen Films und der Popularität von Bohumil Hrabal, Ludvik Vaculík und Milan Kundera zu einem Höhenflug ansetzte entstand dieses Werk, das M. Hammerich-Mayer als einen «gnadenlos nüchternen, zugleich aber auch bezaubernd poetischen Roman voller existenzieller Dramatik» bezeichnet - treffender lässt es sich nicht beschreiben.
Ivan Klima: Stunde der Stille. Roman.
Übersetzt von Maria Hammerich-Maier
Transit, 2012
gebunden, 253 Seiten, ISBN 978-3-88747-268-9
Franz Blaha